Neben- und Parallelausstellungen – Biennale Venedig 2024
Sechs bis acht Empfehlungen
De Bruyckere, Kentridge, Mehretu und andere mehr. Welche der Neben- und Parallelausstellungen zur Biennale Venedig 2024 darf man nicht verpassen? Und was tragen Kulturinstitutionen aus NRW bei?
Alleine die 30 offiziellen Nebenausstellungen („Eventi Collaterali“) der Biennale wird man kaum schaffen, wenn man sich nicht drei oder gar mehr Tage Zeit dafür lassen kann. Dazu kommen ungezählte Parallelausstellungen, die zwar nicht zum offiziellen Programm der Internationalen Kunstausstellung gehören, aber wesentlich zum Kunstaufkommen in Venedig beitragen.
Nach Sichtung aller Nebenausstellungen und eines Haufens Parallelausstellungen: Was sollte man nicht versäumen? Im handlichen Überblick:
- Berlinde De Bruyckere – City of Refuge III
- William Kentridge – Self-Portrait as a Coffee-Pot
- Julie Mehretu – Ensemble
- Andrzej Wróblewski – In the First Person
- Seundja Rhee – Towards the Antipodes
- Willem de Kooning e l’Italia
Wohl nicht zu den sechs wichtigsten Ausstellungen zu zählen, aber aus NRW-Sicht bemerkenswert, weil Institutionen von Daheim beteiligt, sind:
- Elias Sime – Dichotomy ፊት አና jerba (Kunstpalast Düsseldorf)
- Boris Lurie – Life with the Dead (Zentrum für verfolgte Künste, Solingen)
Die mit (*) gekennzeichneten Ausstellungen haben nicht den Stempel einer Nebenausstellungen der Biennale. Die Ziffern hinter den Nebenausstellungen beziehen sich auf die Ordnungsnummer in der offiziellen Biennale-Broschüre (pdf, 0.9 MB), die es leider nur noch online zu geben scheint.
Berlinde De Bruyckere – City of Refuge III (6)
Berlinde De Bruyckere – City of Refuge III. Abbazia di San Giorgio Maggiore, Venedig, 20. April bis 24. November 2024. Nebenausstellung der 60. Internationalen Kunstausstellung – La Biennale di Venezia © Berlinde De Bruyckere. Courtesy the artist and Hauser & Wirth. Foto: Mirjam Devriendt.
Mit dem Vaporetto der Linea 2 ist man ab S. Marco – San Zaccaria (B) in dreivier Minuten drüben auf der Insel San Giorgio mit seiner mächtigen Abteikirche der Benediktiner. Hier ist die belgische Bildhauerin Berlinde De Bruyckere (*1964 in Gent) mit der stärksten Nebenausstellung dieser Biennale zu Gast: City of Refuge III.
De Bruyckere hat drei große Konfigurationen mit Erzengeln ins Kirchenschiff gesetzt. Auf massiven, aber brüchig wirkenden Podesten heben sie gleich zum nächsten Einsatz ab oder kommen gerade zurück. Ihre geschundenen Beine und die verhüllten Gesichter und Oberkörper lassen ahnen, wie aufreibend ihr Geschäft ist, möglicherweise aber auch wie aussichtslos die Hoffnung auf Beistand ist (die Erzengel tauchten zuerst 2020 während der Pandemie in De Bruyckeres Werken auf). Das ist in diesem Setting von sehr ergreifender Wirkung.
Weitere 27 Arbeiten sind in der Sakristei, auf dem Badalone des Chors und in den Galerien des Klosters ausgestellt, teils ortsspezifische Werke mit Bezug auf den Ordensgründer, teils Rückgriffe auf Arbeiten aus den letzten 15 Jahren.
[Castello, San Giorgio, Abbazia di San Giorgio Maggiore, Eintritt frei, Di-So, bis 24. November 2024, Booklet zu Berlinde De Bruyckere – City of Refuge III (pdf, 4 MB)]
William Kentridge – Self-Portrait as a Coffee-Pot (*Ke)
An der Riva dei Setti Martiri, auf halbem Weg zwischen Arsenale und den Giardini, hat sich der südafrikanische Zeichner, Videokünstler und Regisseur William Kentridge (*1955 in Johannesburg) für sein Selbstporträt als Kaffeekanne eingemietet.
Im – mit zahlreichen Collagen, Zeichnungen und Objekten als Studio oder Atelier eingerichteten – kleinen Lokal laufen in zwei Schichten (ab 10:05 und 15:00 Uhr, Mi-So) neun etwa halbstündige Videoessays. Kurzweilige Einblicke ins Johannesburger Studio von Kentridge und seine Gedankenwelt, Interviews mit sich selber, Gespräche mit seinem alter ego über Kunst, Politik, das Leben, Proben mit Musiker:innen, Tänzer:innen. Kentridge hat die Serie während der Pandemie begonnen und 2023 abgeschlossen – die letzte Episode ist In Defense of Optimism betitelt.
Das ist, wie ja fast alles von Kentridge, sehr klug, reichlich schräg und umwerfend komisch. Und keine Sorge, man kann da jederzeit reinschneien, sich einen Eindruck verschaffen, und wieder weiter ziehen – die Episoden können jeweils für sich stehen. Und im Sommer sollen sie auf der Streamingplattform mubi.com zu sehen sein (kostenpflichtig). Ich bin aber sicher, dass man sich das auch vor Ort vier Stunden anschauen kann, ohne sich auch nur eine Sekunde zu langweilen.
[Castello, Riva dei Setti Martiri, Eintritt frei, Mi-So, bis 24. November 2024, arsenale.com]
Julie Mehretu – Ensemble (*Me)
Im Palazzo Grassi zeigt die Pinault Collection eine hinreißende Übersichtsausstellung mit Werken der US-amerikanischen Malerin und Grafikerin Julie Mehretu (*1970 in Addis Ababa).
Mehr als 50 Arbeiten der Künstlerin, aus zweieinhalb Jahrzehnten, darunter einige monumentale Formate, werden unter dem Titel Julie Mehretu – Ensemble ergänzt und konfrontiert von Werken befreundeter oder kooperierender Künstler:innen wie Nairy Baghramian, Tacita Dean oder Jessica Rankin.
Angefangen mit monochromen Arbeiten der frühen 2000er Jahre, verschafft die Schau einen umfassenden Einblick in die Entwicklung von Mehretus Bildstrategien und ihre im Wortsinne vielschichtigen, palimpsestartigen Überschreibungen, die auf konstruktivistischer Basis zwischen Narration und Abstraktion schillernde Landschaften machen. Ungefähr so.
Von vergleichsweise unkomplizierter Schönheit sind übrigens neueste (2023) Arbeiten aus der Serie TRANSpaintings: Halbtransparente Flächen in, von Nairy Baghramian entworfenen Gestellen sind von Mehretu bemalt. Das sind sehr leichtfüßige, lichte Werke.
Nächstes Jahr, 2025, soll die Ausstellung im Düsseldorfer K21 zu sehen sein, die Kunstsammlung NRW wird als Kooperationspartner genannt. Allerdings machen die Räumlichkeiten des Palazzo Grassi am venezianischen Canal Grande natürlich ein etwas hübscheres Setting für die Schau als die des K21 im rheinischen Ständehaus am Düsseldorfer Kaiserteich (und wenn man das K21 nicht gänzlich für Mehretu leerräumt, gibt es dort auch weniger Platz).
[San Marco, Palazzo Grassi, kostenpflichtig, Mi-Mo, bis 6. Januar 2025, www.pinaultcollection.com]
Andrzej Wróblewski – In the First Person (5)
Kennen Sie Andrzej Wróblewski (1927-1957)? Auf der Documenta 14 (2017) konnte man ein paar Sachen von dem sehr jung verstorbenen polnischen Maler und Zeichner sehen. Jetzt hat die Starak Foundation in den Procuratie Vecchie an der Nordseite der Piazza San Marco (Nr. 139) eine umfassendere Schau eingerichtet.
Über 70 Gemälde und Arbeiten auf Papier aus den Jahren 1948 bis 1957 sind vor Ort, vornehmlich aus der Starak-Sammlung, ergänzt um Leihgaben aus anderen Privatsammlungen und den Nationalmuseen von Warschau, Wrocław und Lublin.
Sie zeugen von der enormen Vielfältigkeit und Eindringlichkeit des verblüffend umfangreichen Gesamtwerks. Ergreifend sind die zeichnerisch gehaltenen Gemälde mit symbolischen und surrealistischen Elementen der Serie Hinrichtungen, in denen der Maler die Gräuel der deutschen Besatzung im Vilnius seiner Jugend bearbeitet hat. Sie wurden seinerzeit erst postum ausgestellt.
Versuche, sich dem Sozialistischen Realismus anzudienen, weisen Wróblewski als sehr unsicheren Kantonisten der staatlichen Kunstdoktrin aus (Arbeitspause in Nowa Huta). Sehr stark ist eine Serie von sechs Gouachen zu Apollinaires Gedicht aus den Zeiten des Krieges, Les collines.
Kurzum, die Wróblewski-Ausstellung ist der wohl spannendste historische Rückgriff unter den Nebenausstellungen dieser Biennale.
[San Marco, Piazza San Marco, freier Eintritt, Di-So, bis 24. November 2024, Booklet zu Andrzej Wróblewski – In the First Person (pdf, 11.7 MB]
Seundja Rhee – Towards the Antipodes (23)
Im Spazio Artenova am Campo S. Lorenzo hat das KoRICA (Koreanisches Forschungsinstitut für Gegenwartskunst) der koreanisch-französischen Künstlerin Seundja Rhee (1918-2009) eine kleine, aber sehr sehenswerte Ausstellung eingerichtet.
Geboren in Jinju, ganz im Süden Koreas, geht Rhee 1951, während des Koreakrieges, nach Paris, wo sie u.a. bei Henri Goetz u. Ossip Zadkine studiert. Nach figurativen Anfängen wendet sie sich ab Mitte der 1950er Jahre der Abstraktion zu und etabliert sich als Malerin, Grafikerin und Bildhauerin in Frankreich.
Die 20 Gemälde der Schau aus den Jahren 1959 bis 2008 dokumentieren stichwortartig annähernd die gesamte Karriere der Malerin und vermitteln einen Einblick in ihren besonderen Personalstil vornehmlich der 1960er Jahre: Abstraktion auf Basis repetitiver, pointillistisch gearbeiteter Muster, unter Einbeziehung von symbolhaften Elementen, die auch auf koreanische Traditionen verweisen. So in etwa.
Die kleine Schau beschränkt sich auf Malerei. Das ist etwas schade, weil Rhees grafische Arbeiten ebenfalls sehr sehenswert sind. Soweit ich weiß, gab es in Deutschland bislang keine Ausstellung, die dem Werk Seundja Rhees gewidmet gewesen wäre. Das sollte man ändern.
[Castello, Campo S. Lorenzo, freier Eintritt, Di-So, bis 24. November 2024, Booklet zu Seundja Rhee – Towards the Antipodes auf issuu.com]
Willem de Kooning e l’Italia (*Ko)
Ausstellungsansicht Willem de Kooning e l’Italia , Gallerie dell’Accademia, Venedig, 2024 © 2024 The Willem de Kooning Foundation, SIAE. Foto: Matteo de Fina, 2024.
Die Gallerie dell’Accademia haben in ihren Sälen in Kooperation mit der Willem de Kooning Foundation eine umfassende Schau mit 75 Gemälden, Skulpturen und Zeichnungen eines der bedeutendsten Künstler des abstrakten Expressionismus eingerichtet: Willem de Kooning e l’Italia.
Willem de Kooning (1904-1997) hat sich ab 1959 mehrmals in Italien aufgehalten. Jeweils freilich nicht so wahnsinnig lang und man kann sicher hinterfragen, ob die These der Ausstellung, dass Eindrücke aus Italien seine Kunst wesentlich geprägt haben, hier wirklich nachvollziehbar und überzeugend belegt ist.
Aber die außerordentliche Qualität der Werkzusammenstellung in dieser Schau mit ihren teils spektakulären Leihgaben steht außer Frage. Sehr schön ist etwa die Trias dreier starker Gemälde aus 1960 (A Tree in Naples, Door to the River und Villa Borghese), die sonst auf das MoMA und Whitney in New York sowie das Guggenheim in Bilbao verteilt sind.
Und auch die Gegenüberstellung von dreizehn kleinen Bronzeplastiken, die de Kooning 1969 in Rom entworfen hat, erstmals für Bronze experimentierend, und elf teils großformatigen Bronzen aus den 1970er Jahren wird man so schnell nicht wieder in Europa sehen können. Es soll, so lerne ich, Henry Moore gewesen sein, der ihm – in Anschauung der römischen Arbeiten – geraten hat, in Sachen Plastik besser aufs große Format zu setzen.
[Dorsoduro, Gallerie dell’Accademia, kostenpflichtig, Di-So u. Montagvormittag, bis 15. September 2024, www.gallerieaccademia.it]
Beiträge aus NRW
Elias Sime – Dichotomy ፊት አና jerba, Kunstpalast Düsseldorf (11)
Gleich schräg gegenüber vom Eingang zum Biennale-Gelände im Arsenale hat sich der Düsseldorfer Kunstpalast eingemietet für eine kleine Schau mit neueren Arbeiten des äthiopischen Künstlers Elias Sime (*1968 in Addis Ababa).
Sieben große, reliefartige Wandbilder und eine Skulptur sind vor Ort. Sime baut seine ornamentalen bis symbolhaften Bildlandschaften aus Computerschrott, Platinen, Busleitungen und sonstigem Kabelwerk – Überreste des Rückgrats digitaler Kommunikation.
Elias Sime war bereits vor zwei Jahren in Venedig vertreten mit drei Arbeiten in der Zentralausstellung der 59. Internationalen Kunstschau. Die jetzige Ausstellung ist ein Vorgriff auf eine große Werkschau Simes im Düsseldorfer Kunstpalast, geplant für den Zeitraum 12. Februar – 1. Juni 2025.
[Castello, Ramo de la Tana, Eintritt frei, Di-So, bis 24. November 2024, simevenice.org]
Boris Lurie – Life with the Dead (Zentrum für verfolgte Künste, Solingen) (*Lu)
Boris Lurie, Immigrant's NO!box, 1963 © Boris Lurie Art Foundation.
Etwas abseits des sonstigen Biennale-Geschehens, aber nur rund 10 Gehminuten von Bahnhof entfernt, am Campiello de la Scuola San Giovanni, erinnert die Boris Lurie Art Foundation in Kooperation mit dem Zentrum für verfolgte Künste an den Künstler und Schriftsteller Boris Lurie (1924-2008).
Geboren vor 100 Jahren in Leningrad, überlebte Lurie den nationalsozialistischen Terror und Konzentrationslager. Ein Großteil seiner Familie wurde von Nazi-Deutschen ermordet. Im New York Ende der 1950er Jahre wurde er Mitbegründer der NO!Art-Bewegung, die sich gegen den Abstrakten Expressionismus und die Pop-Art wendete, die er als Kommerzkunst und Flucht vor der Realität verstand.
Die Ausstellung versammelt über 50 Arbeiten aus den Jahren 1950 bis 1970, die Luries radikale und noch heute provozierende Kunst dokumentiert: „Die Grundlagen meiner künstlerischen Erziehung erwarb ich in KZs wie Buchenwald.“
In NRW waren Werke von Lurie zuletzt 2014 im Kölner NS-Dokumentationszentrum und 2021 im Solinger Zentrum für verfolgte Künste zu sehen.
[San Polo, Campiello de la Scuola San Giovanni, Eintritt frei, Di-So, bis 24. November 2024, www.verfolgte-kuenste.com]
Noch etwas Zeit?
Wenn noch was Zeit übrig ist, empfehle ich die Nebenausstellungen Robert Indiana – The Sweet Mystery in den Procuratie Vecchie am Markusplatz (kostenpflichtig), Ydessa Hendeles – Grand Hotel im Spazio Berlendis, Cannaregio (freier Eintritt), Lee Bae — La Maison de La Lune Brûlée in der Fondation d’Entreprise Wilmotte, Cannaregio (freier Eintritt), und die Ausstellung der Victor Pinchuk Foundation im Palazzo Contarini Polignac, Dorsoduro, Daring to Dream in a World of Constant Fear (freier Eintritt).
Unter den Parallelausstellungen macht man mit einem Besuch des Museo di Palazzo Grimani im Castello (kostenpflichtig) nichts falsch. Dort gibt es gleich zwei sehenswerte Ausstellungen: Wael Shawky – I Am Hymns of The New Temples (bis 30. Juni) und Rick Lowe – The Arch within the Arc (bis 30. Juli 2024). Zudem kann man gleich neben dem Palazzo Grassi in der Chiesa di San Samuele, San Marco, gut mitnehmen: Beati Pacifici – The Disasters of War and the Hope for International Peace, u.a. mit Goyas Schrecken des Krieges und einem sehr anrührenden Gedicht von Margaret Atwood (freier Eintritt, bis 29. September).
Eine Liste aller Nebenausstellungen gibt es bei der Biennale di Venezia: Collateral Events. Eine gute Übersicht von Parallelausstellungen (rund 80 Einträge) hat z.B. Universes in Universe: Parallel exhibitions.
Karte beste nationale Beiträge, Neben- und Parallelausstellungen
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60. Esposizione Internazionale d’Arte. La Biennale di Venezia. Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere. K: Adriano Pedrosa. Venedig, 20. April bis 24. November 2024.