Victor Hugo auf Guernsey, 2. Teil: Hauteville House
„Ich bin zum Innenausstatter geboren“
Victor Hugo kauft sich ein Haus, macht daraus ein Museum in eigener Sache, schlürft rohe Eier und kalten Kaffee, geht spazieren und veranstaltet Speisungen für notleidende Kinder. Wie lebt es sich im „Hauteville House“ auf Guernsey?

Hauteville House, Rückwärtige Ansicht, Saint Peter Port, Guernsey. Foto: jvf.
Geht man in St. Peter Port von der Südlichen Esplanade am Hafen aus, vorbei an der Town Church, dann die Cornet Street und die ruhige rue de Hauteville hinauf in die Oberstadt, kommt man binnen knapp fünfzehn Minuten zu einem dreistöckigen, kubischen Bau, der von der Straßenseite aus sehr nüchtern und fast bürokratisch anmutet. In Frankreich würde man das Gebäude für die Gendarmerie irgendeiner Unterpräfektur halten, sagt Jean Delalande [Delalande, S. 11].
Von der Gartenseite aus gesehen, hat das Hauteville House dagegen einen leichtfüßigen, transparenten, mediterranen Charakter, mit seinem zweistöcken Wintergarten, dem auf der obersten Etage abgesetzten Glaspavillon, den vielen Balkons und Ausgucken, dem Blick gen Südosten auf Hafen, Castle Cornet und die See. Im Innern: Eine sehr skurrile, ungeheuer faszinierende, aber auch etwas bedrückende Location.
Hautville House und die Contemplations
In den Notiz- und Haushaltsbüchern Victor Hugos findet sich der Eintrag: „Den Sechzehnten Mai 1856 – das Haus von M. William Ozanne gekauft. Preis: 24000 fr“ [Carnets, 31.10.1855-30.9.1857, 11r]. Aus heutiger Sicht ein Schnäppchen.

Hauteville House, Straßenseite, Saint Peter Port, Guernsey. Foto: jvf / Victor Hugo, 1862. Foto: Edmond Bacot. Lizenz: PD-Art. Quelle: gallica.bnf.fr / BnF.
Das Geld für den Kauf haben ihm die üppigen Honorare für seine, im Frühjahr 1856 veröffentlichte, zweibändige Gedichtsammlung Les Contemplations eingebracht – in Frankreich ein Bestseller:
Das Guernsey-Haus mit seinen drei Stockwerken, seinem Dach, seinem Garten, seinen Stufen, seiner Krypta, seinem Scheunenhof, seinem Ausguck und seiner Plattform stammt vollständig aus den Contemplations. Vom ersten Balken bis zur letzten Fliese. Die Contemplations werden für alles bezahlen. [Brief an Jules Janin, 16.08.1856]
Hugo hat zunächst überlegt, das Haus auf den Namen „Liberty-Home“ zu taufen [Brief an George Sand, 30.6.1856]. Schnell hat sich aber der Name „Hauteville House“ durchgesetzt; einen entsprechenden Schriftzug hat Hugo dann 1861 über der Eingangstür anbringen lassen.
Das Leben ist eine Baustelle
Obwohl bereits ab Spätherbst 1856 bezogen, ist das Haus für Jahre eine Baustelle geblieben. Nach und nach sind Um-, An- und Ausbauten erfolgt. Hugo hat eine Unmenge Zeit investiert in Planungen, Entwurfsskizzen, in das Auffinden von Möbeln, Tapisserien, Chinoiserien, Kacheln im Delfter Stil, um aus dem Haus eine Art Selbstportrait im Medium der Innenausstattung zu machen (dabei tatkräftig unterstützt von seiner Geliebten, Juliette Drouet).

Hauteville House, Kamin im Speisezimmer, Saint Peter Port, Guernsey. Foto: jvf.
Im Frühjahr 1857 ist das Speisezimmer und das Billiardzimmer im Erdgeschoss fertig gewesen. Mme Hugo hat wegen letzterem geklagt: Seit das Billiardzimmer ausreichend einem Café ähnle, gehe man abends nicht mehr aus – „besten Dank auch.“ Die Arbeiten am anschließenden Gobelinzimmer sind erst Ende 1859 abgeschlossen gewesen.
Und die Erweiterung am Dachgeschoss, Victor Hugos Privaträume mit dem lichten Prunkstück des Hauses, dem Belvédère (dem „look out“), der bevorzugte Arbeitsplatz Hugos, hat sich bis Sommer 1862 gezogen.

Hauteville House, Lookout (Belvédère), Saint Peter Port, Guernsey. Foto: Rumburak3. Quelle: Wikimedia Commons, Lizenz: CC0.
Das Haus ist ein Programm
Man muss dieses Haus Hugos Werk zuschlagen. Neben den Theaterstücken, den Gedichten, den Romanen, den Zeichnungen, gibt es das Hauteville House, Band 49 der Œuvres complètes gewissermaßen.
Hugo ist von seinen Fähigkeiten als Innenausstatter sehr überzeugt gewesen: „Wenn Sie nach Guernsey kommen, werden sie sehen, dass ich meine Berufung verfehlt habe – ich bin zum Innenausstatter geboren worden“, soll er dem (Schriftsteller-)Kollegen Jules Claretie geschrieben haben. Eine Einschätzung, der sich freilich nicht jeder anschließen wird.
Das Interieur folgt dem Programm einer romantischen Ästhetik, wie sie Hugo 1827 im Vorwort seines Cromwell umrissen hatte: Die Dichtung der Modernen „macht sich, wie die Natur, in ihren Schöpfungen daran, den Schatten mit dem Licht, das Groteske mit dem Erhabenen zu verbinden – ohne jedoch diese dabei zu verwechseln“ [Hugo, Cromwell, S. 14f.].
Eine Lichtregie, die von extrem dunklen Räumen im vorderen Erdgeschoss zum Licht des Speisezimmers, des Studios, des Gartens führt, wiederholt sich in der Vertikalen bis hinauf ins Dachgeschoss mit dem Belvédère. Schwere Eichenmöbel sind – nach Entwürfen Hugos – mit Schnitzwerk versehen, die groteske Figuren, Memento-mori-Symbole, religiöse Ikonographien und Referenzen auf das dichterische Werk verbinden.

Hauteville House, Roter Salon, Saint Peter Port, Guernsey. Foto: Heather Cowper, Heatheronhertravels.com. Quelle: Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY 2.0.
Sinnsprüche, Maximen, Eigenzitate allenthalben an Wänden und Möbeln, dazu biographisch bedeutsame Objekte wie das Service aus der königlichen Porzellanmanufaktur von Sèvres, ein Geschenk Karls X., das den schmalen Korridor zum Garten schmückt. An romantischer Ironie mangelt es nicht.
Es ist ein egozentrisches Museum, das der Gast betritt. Aber anders: Gilt das nicht für jede Wohnung?
Das Schicksal des Alten
Nur, wie lebt es sich nun in diesem Selbstportrait im Medium der Innenarchitektur, wenn man nicht Victor Hugo ist? Nicht einfach wohl, zumal gewiss das Leben im zwar naturschönen, aber doch recht provinziellen Guernsey für die Familie deutlich langweiliger gewesen ist als das in Paris oder auch in Brüssel.

Adèle / Charles / François / Adèle jun. Hugo. Fotos: Piere Petit / Ghémar frères / Dupont (studio) / Edmond Bacot. Lizenz: CC0. Quelle: Paris Musées Collection / ebd / ebd / ebd.
1861 ist Sohn Charles ausgezogen, 1863 Tochter Adèle (eine tragische Geschichte das, die Truffaut später verfilmen wird). 1865 haben schließlich Sohn François-Victor endgültig und Hugos Ehefrau Adèle mehr oder weniger endgültig die Insel verlassen. Und Victor Hugo selbst?:
Ich bin hier. Ich arbeite. Ich wurde allein gelassen. Verlassenheit ist das Schicksal des Alten. Ich kann nur hier gut arbeiten. Meine Familie ist mein Glück. Ich musste mich zwischen meiner Familie und meiner Arbeit, zwischen meinem Glück und meiner Pflicht entscheiden. Ich habe mich für die Pflicht entschieden. Das ist das Gesetz meines Lebens. [Brief an Jean Aicard, 17.11.1868]
Einsam ist Hugo aber auch jetzt nicht. Julie Chenay, seine Schwägerin, führt den Haushalt. Hennett de Kesler, Exilant wie Hugo, ist ständiger Gast im Haus und wohnt zeitweise auch dort. Beide, Kesler wie Hugo, haben 1859 eine Amnestie und Rückkehrmöglichkeit nach Frankreich ausgeschlagen: Eine Rückkehr kommt erst in Frage, wenn Napoléon III. und das Kaiserreich gestürzt sein werden.

Victor Hugo und Hennett de Kesler im Wintergarten / Julie Chenay und Sénat. Fotos: Charles Hugo / Arsène Garnier. Lizenz: CC0. Quelle: Paris Musées Collection / ebd.
Da ist Sénat, ein Windhund-Mischling, ziemlich hässlich, verwöhnt von seinem Herrn, der ihm alles durchgehen lässt [Stapfer, S. 31]. Da ist das Personal, die Dienstmädchen, für die es praktischerweise zwei Kammern gleich neben Hugos Schlafstelle gibt.
Juliette Drouet
Und da ist Juliette Drouet. Seit 1833 ist sie Hugos Geliebte und später auch Sekretärin und rechte Hand, die stets an seiner Seite geblieben ist, in Brüssel, auf Jersey, auf Guernsey. Mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung lebt sie nicht im Hauteville House, vielleicht auch, weil so Affairen und Episoden mit dem Personal und Prostituierten leichter zu organisieren sind.

Victor Hugo / Juliette Drouet, Guernsey, 1868. Fotos: Arsène Garnier. Lizenz: CC0. Quelle: Paris Musées Collection / ebd.
Hugo hat ihr zunächst eine Wohnung ums Eck angemietet, an der Havelet, in Sichtweite seines Belvédère. Dann, 1864, hat er für sie sein zweites Haus auf Guernsey erstanden, in der Hauteville Street 20, wo Familie Hugo die ersten Monate auf der Insel zur Miete gewohnt hatte, ein paar Schritte nur die Straße hinab.
Das Arrangement täuscht natürlich niemanden in der besseren Gesellschaft Guernseys. Man hält Abstand zu diesem alten Franzosen, der eine offene Ehe führt und sich eines ausgesprochen unzüchtigen Lebenswandels befleißigt.
Paul Stapfer fragt Hugo, wie die „Temperatur seines Feminismus“ sei: „Ziemlich nahe bei Null“ (Stapfer, S. 81). Ich bin nicht sicher, ob Stapfer hier verlässlich berichtet oder Hugo seine eigene Haltung unterschiebt. Einige Gedichte Hugos – und mit Abstrichen auch Les Misérables – lassen eher letzteres vermuten.
Das Morgenprogramm im Hauteville House
Gemeinhin ist Paul Stapfer aber eine verlässliche Quelle für Einblicke ins Leben und Denken Hugos in diesen Jahren. Der junge schweizerisch-französische Literaturwissenschaftler hat 1866 eine Stelle als Französisch-Lektor am Elisabeth College in Saint Peter Port übernommen und ist rasch zu einem gern gesehenen Gast und Gesprächspartner im Hauteville House geworden. 1905 wird er seine persönlichen Erinnerungen an die Begegnungen mit Hugo veröffentlichen: Victor Hugo à Guernesey.
Hugo erzählt Stapfer von seinem üblichen Tagesablauf. Vielleicht hat Stapfer auch die Inschrift an der Fensterbank im Speisezimmer gesehen: „Aufstehen um VI, Speisen um X, Abendessen um VI, Bett um X / lässt den Menschen X mal X lang leben“.

Victor Hugo auf dem Balkon des Hotelville House. Guernsey, 1878. Ausschnitt. Foto: André. Lizenz: CC0. Quelle: Paris Musées Collection.
Er stehe früh am Morgen auf, schlucke zwei rohe Eier und eine Tasse kalten Kaffees. Dann arbeite er bis elf Uhr in seinem Belvédère. Um elf Uhr, schweißgebadet vom Feuer der Arbeit und der Hitze des Ofens, ziehe er sich nackt aus, wasche seinen Körper nach englischer Art mit sehr kaltem Wasser, das die ganze Nacht draußen an der Luft gestanden habe. Eine energische Abreibung mit Rosshaarhandschuhen sei der zweite und unerlässliche Teil dieses weise eingerichteten Programms.
Hugo gibt zu, dass er trotz dieser Vorkehrungen anfällig für Erkältungen und Krämpfe sei, aber insgesamt wohlauf. Nun ja, trotz. Stapfer allerdings versichert – und Victor Hugo ist mittlerweile 65 Jahre alt:
Vater Hugo ist von erstaunlicher Jugendlichkeit an Körper und Geist. Unmöglich einen Mann zu finden, dem es besser geht. Er ist frisch, rosafarbene Haut – man müsste ihn niederknüppeln. [Stapfer, S. 40]
Die Sache mit der nackten, vormittäglichen Waschung, die von der Straße und auch vom Garten aus gut gesehen werden kann, ist bei Journalist:innen, die eine Homestory über Hugo machen, ein gern genommenes Schmankerl. Als der deutsche Literat Charles Edouard Duboc 1867 für die Gartenlaube von seinem Besuch bei Hugo berichtet, kann er sich, in den Garten bestellt zwecks Warten auf die Audienz beim Großschriftsteller, gar nicht sattsehen an der Szene. Den Rest seines Berichts muss man nicht lesen, Duboc ist ein ziemlicher Idiot.
Der Nachmittag und Abend
Gleichviel. Nach dem folgenden Essen schließe sich ein Mittagsspaziergang von etwa zwei Stunden an. Dann gehe es zurück an die Arbeit bis halb sieben Uhr. Abendessen bei Madame Drouet – es sei denn, dass Madame Hugo ihren Mann auf Guernsey besuche. Des Weiteren Kartenspiel bis zehn Uhr.

Fermain Bay, Guernsey. Foto: jvf.
Ein bevorzugtes Ziel der Mittagsspaziergänge ist die Fermain Bay, südlich von St. Peter Port. Wenn man den Weg entlang der Felsenküste nimmt, ist das in zwei Stunden, hin und zurück, eine durchaus sportliche Angelegenheit, zumal wenn auch noch ein kurzes Bad in der See hinzukommt.
Im Frühjahr und in den Sommermonaten ersetzen häufig Kutschpartien über die Insel die Mittagsspaziergänge. Der unermüdlich genaue Gregory Stevens Cox zählt für die Jahre 1865 bis 1870 nicht weniger als 350 dieser Ausflüge mit der Calèche [Cox, Guernsey, S. 15].
Meist in Begleitung von Juliette Drouet – manchmal kommen Julie Chenay, ein Diener und Sénat hinzu – gehen die zweistündigen Touren an die Nord-, West- oder Südküste. Ein gerne genommenes Ziel ist die Moulin Huet Bay im Süden, die später durch Renoir berühmt werden wird: Etwa fünfzehn Ansichten der Bucht wird Renoir während seines Guernsey-Aufenthalts im Spätsommer 1883 malen.

Auguste Renoir, Colline autour de la baie du moulin Huet à Guernesey, 1883. Lizenz: PD-Art. Quelle: Metropolitan Museum of Art.
Die Dîners des enfants pauvres
Einmal die Woche wird die Routine des Hauteville House von einer Kinderschar durchbrochen. Im März 1862, drei Wochen vor Veröffentlichung der Misérables haben die Hugos die dîners des enfants pauvres erstmals organisiert.
Die eingeladenen Kinder verarmter Eltern werden mit Essen und Trinken versorgt, bedient von den Bewohnern und dem Personal des House. Anfangs sind es vielleicht ein Dutzend Kinder, im Laufe der Jahre ist die Zahl stetig gewachsen, jetzt kommen Woche für Woche mehr als vierzig enfants pauvres.

Diner des enfants pauvres, 1862. Foto: Edmond Bacot. Lizenz: CC0. Quelle: Paris Musées Collection.
Eine Marketingaktion für den monumentalen Roman über die Elenden? Wenn, dann ist es eine untypisch nachhaltige Marketingaktion, immerhin gibt es die dîners über mehrere Jahre hinweg wöchentlich. Hugo selbst jedenfalls erklärt das Engagement anders: „Ich versuche damit, diesem feudalen Land Gleichheit und Brüderlichkeit verständlich zu machen“. [Brief an Octave Lacroix, 30. Juni 1862].
Andere Gäste
Die Kinder aus dem Elend sind nicht die einzigen Besucher im Haus. Nicht selten sind Journalist:innen zumindest kurzzeitig zu Gast, um eine Story oder Fotostory über den Schriftsteller und sein Haus zu machen. Zudem kommen Gesinnungsgenoss:innen, Kolleg:innen und Bewunder:innen zu Besuch.
Und: Wenn Hugo auf Reisen ist, ist das Haus für jeden Besucher offen – Mme Chenay übernimmt dann die Führungen. Als Hugo im Sommer 1867 drei Monate in Belgien und den Niederlanden verbringt, sollen es beinahe 1.000 Besucher:innen sein, darunter viele „englische Offiziere und amerikanische Pfarrer“, schreibt Hugo nach Rückkehr und Durchsicht des Gästebuchs [Brief an Charles und François-Victor, 20.10.1867].
Später werden es noch deutlich mehr Besucher werden. Anfang 1927 werden die Urenkel Victor Hugos das Haus und seine Ausstattung der Stadt Paris schenken, die es als Museum betreibt. Nach Voranmeldung kann man heute, von Frühjahr bis Herbst, an einer Führung durch das Hauteville House teilnehmen. Informationen dazu: House visit in Guernsey.
- Victor Hugo auf Guernsey, 1. Teil: Exil
- Victor Hugo auf Guernsey, 2. Teil: Hauteville House
- Victor Hugo auf Guernsey, 3. Teil: Die Arbeiter des Meeres (folgt)
- Victor Hugo auf Guernsey, 4. Teil: Der Intellektuelle (folgt)