Kulturraum NRW


Die Zentralausstellung – Biennale Venedig 2024

Ganz schön bunt hier

Marginalisierte Künstler:innen vornehmlich aus dem „Globalen Süden“ will die Zentralausstellung der Biennale Venedig 2024 in den Mittelpunkt stellen. Das macht eine außerordentlich bunte und vielfältige, nicht aber unbedingt gute Schau.

Claire Fontaine, Foreigners Everywhere / Stranieri Ovunque (60th International Art Exhibition / 60. Esposizione Internazionale d’Arte), 2004-24. Sechzig aufgehängte, an der Wand oder am Fenster montierte Neonröhren, Rahmen, Transformatoren, Kabel und Zubehör. Abmessungen und Farben variabel. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Marco Zorzanello. Courtesy: La Biennale di Venezia
Claire Fontaine, Foreigners Everywhere / Stranieri Ovunque (60th International Art Exhibition / 60. Esposizione Internazionale d’Arte), 2004-24. Sechzig aufgehängte, an der Wand oder am Fenster montierte Neonröhren, Rahmen, Transformatoren, Kabel und Zubehör. Abmessungen und Farben variabel. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Marco Zorzanello. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Der künstlerische Leiter der 60. Inter­nationalen Kunst­ausstellung Venedig, Adriano Pedrosa, hat seine Zentral­ausstellung im Arse­nale und im Padi­glione Centrale unter das Label „Stra­nieri Ovunque – Foreigners Every­­where“ gestellt. Der Titel ist einer Werk­­serie des Konzept­­kunst­­kollektivs Claire Fontaine ent­­liehen und geht zu­gleich zurück auf den Namen eines Turiner anti­­rassistischen Kollektivs aus den frühen 2000er Jahren.

Die Biennale Arte 2024 fokus­siere „Künst­ler:innen, die selbst Aus­länder:innen, Immi­grant:innen, Aus­gewanderte, in der Diaspora, Emigrierte, Exilierte und Geflüch­tete“, ins­besondere aber „jene, die zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden gewandert“ seien.

Dies hatte der brasilianische Ausstellungs­macher und Direktor des Museu de Arte de São Paulo im Vorfeld der Biennale er­klärt und den Kata­log der marginali­sierten Künst­ler:innen, die seine Schau in den Mittel­punkt der Auf­merksam­keit stellen wolle, gleich um drei Gruppen erweitert:

Queere Künstler:innen, die zwischen ver­schiedenen Sexuali­täten und Gendern gewandert sind, oft verfolgt oder geächtet; Außen­seiter­künstler:innen, die an den Rändern der Kunst­welt verortet sind, ganz so wie auch Auto­didakt:innen und die sogenannten Volks­künstler:innen; zudem indigene Künst­ler:innen, die häufig wie Aus­länder:innen im eigenen Land behandelt werden. [Hervorhebungen jvf]

Das macht eine zumindest außer­ordentlich bunte und viel­fältige, nicht aber unbedingt gute Zentral­ausstellung.

MAHKU (Movimento dos Artistas Huni Kuin), Kapewe Pukeni (Bridge­alligator), 2024. Orts­spezifische Instal­lation, 750m². 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere. Foto: Matteo de Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia
MAHKU (Movimento dos Artistas Huni Kuin), Kapewe Pukeni (Bridge­alligator), 2024. Orts­spezifische Instal­lation, 750m². 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere. Foto: Matteo de Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Den monumentalen Auftakt zu dieser Bunt­heit macht die 750m² große Fassaden­bemalung des Padi­glione Centrale in den Giardini: Kapewë pukeni (Der Brücken­alligator).

Das 2013 von Künstler:innen aus der first nation der Huni Kuin gegrün­dete Kollektiv MAKHU erzählt in seinem Mural vom Mythos des Riesen­alligators, der einst den Men­schen als Brücke die Über­querung der Bering­straße ermög­lichte, also den Über­gang zwischen Amerika und Asien, bis die Menschen begannen Alliga­toren zu jagen und der Riese sich weigerte, die Menschen weiter­hin auf seinem Rücken zu tragen.

Historische Kerne

Beginnt man den Rundgang durch die Zentral­ausstellung auf der Mittel­achse des Padiglione – voraus­gesetzt der Brücken­alligator lässt einen passieren – vermeint man eine Kunst­schau zu sehen, die wesent­lich durch kunst­historische Rück­griffe geprägt ist. Solche retro­spektiven Elemente haben auf der Biennale eine sehr lange Tradition, aber hier funktioniert etwas nicht.

Die Schau insgesamt teilt sich in einen, wieder­um in drei Teile gespaltenen „his­torischen Kern“ (Nucleo Storico) einer­seits und der Ausstellung von Gegenwarts­kunst (Nucleo Contempo­raneo) anderer­seits.

Nucleo Storico: Astrazioni. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere. Foto: Jacopo Salvi. Courtesy: La Biennale di Venezia
Nucleo Storico: Astrazioni. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere. Foto: Jacopo Salvi. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Zwei der drei Teile des historischen Kerns dominieren den Zentral­pavillon: Ritratti (Porträts) und Astrazioni (Abstraktionen) versammeln in enger, meist mehr­reihiger Hängung je ein Werk von nicht weniger als 146 Künst­ler:innen des 20. Jahr­hunderts aus dem „Globalen Süden“.

Einige Klassiker:innen der Moderne sind dabei: Diego Rivera (1886-1957) und Frida Kahlo (1907-1954), Tarsila do Amaral (1886-1973), Wifredo Lam (1902-1982), Etel Adnan (1925-2021).

Die weit überwiegende Mehr­zahl sind aber Künst­ler:innen aus Latein­amerika, Afrika und Asien, die bis­lang wenig Auf­merksam­keit im europä­ischen Kunst- und Ausstellungs­betrieb gefunden haben und bis­lang nicht auf einer Venedig­biennale zu sehen gewesen sind.

Als „Zahlung einer histori­schen Schuld“ sowie als Versuch, Ent­wurf und Finger­zeig in Rich­tung auf neue Bezüge, Assozia­tionen und Paral­lelen möchte Pedrosa diesen Nucleo Storico ver­standen wissen.

Mag sein, aber als Aus­stellung funktio­niert das durch die Beschränkung auf je ein Werk und die recht wüste, zumindest aber unstruktu­rierte Präsenta­tion indes nicht gut und sorgt dafür, dass die Einzel­werke eher unter­gehen als wirken.

Nucleo Storico: Italiani ovunque. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Marco Zorzanello. Courtesy: La Biennale di Venezia
Nucleo Storico: Italiani ovunque. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Marco Zorzanello. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Der schwächste Part der histo­rischen Rück­griffe ist drüben im Arsenale unter­gebracht: Italiani ovunque (Ita­liener:innen überall) ver­sammelt 38 in Italien geborene Künst­ler:innen, die ins Aus­land migriert sind. Auch hier ist jede:r durch nur eine Arbeit repräsen­tiert, bei deren Aus­wahl aller­dings künst­lerische Qualität offen­bar kein zwingendes Kri­terium war.

Die Rekordzahl von 332 Künst­ler:innen und Kollek­tiven, die nach Veranstalter­angaben in der Zentral­ausstellung gezeigt werden, reduziert sich jeden­falls in Sachen Gegenwarts­kunst auf 145 (und auch dar­unter gibt es einige, die ins 20. Jahr­hundert gehören). Und mit­unter greift die miss­liche Ein-Werk-Politik auch auf die Gegenwarts­kunst über, so unerfreulicher­weise auch bei der sehr geschätzten Teresa Margolles (*1963 in Culiacán).

Egal, es gibt hier viele spannende Entdeckungen zu machen.

Malerei

Für eine Schau in Sachen zeit­genössischer Kunst gibt es in der Zentral­ausstellung verblüffend viel gegenständliche Malerei. Im Zentral­pavillon hat die mosambi­kanisch-italie­nische Malerin und Bild­hauerin Bertina Lopes (1924-2012) etwa einen starken Auf­tritt mit sechs Gemälden aus den 1960er und 1970er Jahren, die Modernis­mus und afri­kanische Ikono­grafie zu engagierter Kunst verbinden.

Bertina Lopes, Os Meninos de Mafalala, 1963 / Griddo grand, 1970. Öl auf Leinwand, 137 × 60 cm / 150 × 150 cm. The Estate of Bertina Lopes. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere. Fotos: Matteo de Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia
Bertina Lopes, Os Meninos de Mafalala, 1963 / Griddo grand, 1970. Öl auf Leinwand, 137 × 60 cm / 150 × 150 cm. The Estate of Bertina Lopes. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere. Fotos: Matteo de Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Zu den überzeugend­sten Räumen im Padi­glione Centrale gehört jener, gleich schräg rechts weg vom Eingang, der Arbeiten von Giulia Andreani (*1985 in Venedig) konfron­tiert mit einer über zehn Meter breiten Tusche­zeichnung von Madge Gill (1882-1961): Cruci­fixion of the Soul (1934).

Andreani, die in Paris lebt und 2022 für den Prix Marcel Duchamp nominiert war, greift in ihren fünf groß­formatigen, mono­chromen Gemälden die Bild­sprache von Foto­archivalien auf und ver­fremdet sie zu komplexen Erzählungen über die Lebens- und Arbeits­verhältnisse von Frauen und ihren Zugang zur künst­lerischen Praxis im frühen 20. Jahr­hundert.

Beispiel­gebend ist dabei die britische Kranken­pflegerin und Kunst-Autodidaktin Madge Gill, die sich in ihrem Schaffen als Medium eines Geister­wesens verstand, das sie „Myrninerest“ nannte und als Urheber ihrer Kunst sah.

Giulia Andreani, Pour elles toutes (Myrninerest), 2024. Acryl auf Leinwand, 190.5 × 400.5 cm / Madge Gill, Cruci­fixion of the Soul, 1934. Farbige Tinte auf Kattun, 147.3 × 1061.7 cm, Detail, London Borough of Newham Heritage and Archives. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Every­where. Fotos: Matteo de Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia
Giulia Andreani, Pour elles toutes (Myrninerest), 2024. Acryl auf Leinwand, 190.5 × 400.5 cm / Madge Gill, Cruci­fixion of the Soul, 1934. Farbige Tinte auf Kattun, 147.3 × 1061.7 cm, Detail, London Borough of Newham Heritage and Archives. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Every­where. Fotos: Matteo de Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Gleich im Raum nebenan ist mit immer­hin zehn Gemälden aus 2019 bis 2024 der junge New Yorker Maler Louis Fratino (*1993) prominent ver­treten. Seine Malerei mobili­siert ver­schiedene Bild­poetiken der klas­sischen Moderne für teils sehr explizite Szenen und Interieurs aus dem schwulen Leben der Gegen­wart.

Drüben im Arsenale, viel­leicht mehr noch als im Zentral­pavillon, gibt es frei­lich eine Menge Malerei, die wohl der von Pedrosa als marginali­siert fokus­sierten „Volks­kunst“ zuge­schlagen werden muss. Jeden­falls frage ich mich, ob die auf bei­nahe allen Erläuterungs­tafeln angeführte Tat­sache, „This is the first time the work of … is presented at Biennale Arte“, viel zu oft nicht nur auf die Ausschluss­mechanismen eines euro­zentristischen Kunst­betriebs zurück­zuführen ist, sondern auch darauf, dass vieles hier für eine Kunst­ausstellung schlicht nicht taugt.

Von diesem Verdacht ganz sicher auszu­nehmen sind die collage­artigen Papier­arbeiten aus der Serie Virgenes Cholas von La Chola Poblete (*1989 in Mendoza), die der Jury der Biennale zwar nicht gleich einen Löwen wert waren, aber immer­hin der Ehre einer „Beson­deren Erwäh­nung“.

La Chola Poblete, Aus der Serie Virgenes Cholas, 2023. Wasser­farbe, Acryl­farbe, farbige Tinte auf Papier, je 200 × 152 cm. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Every­where. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia
La Chola Poblete, Aus der Serie Virgenes Cholas, 2023. Wasser­farbe, Acryl­farbe, farbige Tinte auf Papier, je 200 × 152 cm. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Every­where. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Textilkunst und Familienaufstellungen

Zwei „Leitmotive“ durch­ziehen Pedrosas Biennale-Schau: Die künst­lerische Arbeit mit Tex­tilien und die Zusammen­stellung von Werken familiär ver­bundener Künst­ler:innen.

Auf spannendste Weise zusammen kommen diese beiden Leit­motive bei der Gegen­über­stellung von Batiken Ṣàngódáre Gbádégẹsin Àjàlás (1948-2021) und seiner Adoptiv­mutter Susanne Wenger (1915-2009).

Wenger, geboren in Graz, Kunst­studium in Wien, ging 1950 nach Nigeria, wo sie sich der Yoruba-Religion zuwandte, Priesterin und Hüterin des Heiligen Hains der Göttin Osun in Oshogbo wurde und eine Kunst­schule der „New Sacred Art“ mit­begründete (deren künst­lerische Gestal­tung des Heiligen Hains heute UNESCO-Welt­kultur­erbe ist).

Àjàlá, geboren in Oshogbo, auf­ge­wachsen im Haus Wengers, war Priester des Blitz­gottes Sango und gilt als führender Künst­ler der New Sacred Art und als Erneuerer der Batik-Kunst.

Ṣàngódáre Gbádégẹsin Àjàlá, Ohne Titel (Eine nächt­liche Szene unter dem Mond), o.J., Batik, 212 × 168 cm, Martha Denk / Susanne Wenger, Mythos Oduduwà – Schöpfungs­geschichte, 1963, Detail, Batik auf Basis von Maniok­stärke, 194 × 334 cm, Susanne Wenger Foundation. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Every­where. Fotos: Marco Zorzanello. Courtesy: La Biennale di Venezia
Ṣàngódáre Gbádégẹsin Àjàlá, Ohne Titel (Eine nächt­liche Szene unter dem Mond), o.J., Batik, 212 × 168 cm, Martha Denk / Susanne Wenger, Mythos Oduduwà – Schöpfungs­geschichte, 1963, Detail, Batik auf Basis von Maniok­stärke, 194 × 334 cm, Susanne Wenger Foundation. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Every­where. Fotos: Marco Zorzanello. Courtesy: La Biennale di Venezia.

In den Kontext einer Kunst, die sich mit Texti­lien und den Tradi­tionen ihrer Gestaltung auseinander­setzt, gehört auch die Instal­lation des neu­see­ländischen Mataaho Collective. Für dessen gleich ein­gangs im zweiten Raum der Schau im Arsenale neu ein­gerichteten Arbeit, Takapau (2022), hat die Biennale-Jury den Goldenen Löwen für die besten Künst­ler:innen der Zentral­ausstellung heraus­gerückt.

Nicht zur Textil­kunst, aber immer­hin dem Motiv der Familien­aufstellung zuzu­rechnen ist zum Bei­spiel auch die Zusammen­schau von faszi­nierenden Malereien Santiago Yahuar­canis (*1960 in Pebas) und seines Sohns Rember Yahuar­cani (*1985 in Pebas).

Videokunst

Videokunst ist sicher nicht besonders im Fokus dieser Zentral­ausstellung. Dies gilt auch, wenn der Silberne Löwe für die viel­versprechendste junge Künst­lerin an Karimah Ashadu (*1985 in London, lebt in Hamburg und Lagos) gegangen ist für ihre Video­arbeit Machine Boys (2024).

Disobedience Archive – Marco Scotini. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Every­where. Foto: Marco Zorzanello. Courtesy: La Biennale di Venezia
Disobedience Archive – Marco Scotini. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Every­where. Foto: Marco Zorzanello. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Und gleich im dritten Saal des Arsenale hat es das Laby­rinth des Dis­obedience Archive mit 40 Videos in klein­formatiger Präsenta­tion. Man kann das Archiv als vierten Nucleo storico nehmen, immer­hin stammen die Arbeiten aus den letzten mehr als 50 Jahren. Mit dabei ist Hito Steyerls Universal Embassy (2004) und Zanele Muholis Difficult Love (2010).

Unter den vergleichs­weise wenigen sonstigen Video­arbeiten fallen besonders zwei auf. Der nor­wegische Multimedia­künstler Ahmed Umar (*1988 im Sudan) hat ein mit­reißendes Video vor Ort, in dem er einen sudanesischen Braut­tanz performt: Talitin, The Third (2023). Und Bouchra Khalili (*1975 in Casablanca) lässt in ihrer Acht­kanal-Video­installation, The Mapping Journey Project (2008-2011), anonyme Migrant:innen von ihren Flucht­routen nach Europa erzählen und sie auf Land­karten auf­zeichnen.

Ich will aber besonders auf eine Video­arbeit hin­weisen, die etwas abseits in einem Schuppen des Giardino delle Vergini unter­gebracht ist und des­halb nicht so viel Aufmerksam­keit einsam­melt wie sie verdient: Kudzanai Chiurais (*1981 in Harare) We Live in Silence (2017) montiert Archiv­material und sehr suggestive, surreale bis absurde Szenen, um Kontinui­täten post­kolonialer Herr­schaft ins Bild zu setzten.

Kudzanai Chiurai, We Live in Silence, 2017. Einkanal-Video, 41:40 min. Installations­ansicht. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Every­where. Foto: Marco Zorzanello. Courtesy: La Biennale di Venezia
Kudzanai Chiurai, We Live in Silence, 2017. Einkanal-Video, 41:40 min. Installations­ansicht. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Every­where. Foto: Marco Zorzanello. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Plastiken im Giardino delle Vergini

Überhaupt habe ich etwas Sorge, dass manch Besucher:in den Teil der Zentral­ausstellung, der auf dem Grün und in den Schuppen des Giardino delle Vergini unter­gebracht ist, gar nicht wahr­nimmt. Man muss das Ausstellungs­gelände des Arsenale hinter den nationalen Beiträgen Italiens und Chinas ver­lassen, um hier hinzu­kommen und einen der wohl besten Abschnitte der Schau zu sehen.

Neben dem Video von Chiurai gibt es hier jeden­falls einige der spannend­sten plastischen Arbeiten dieser Biennale. Von Leilah Babirye (*1985 in Kampala) etwa sind fünf eindrucks­volle Plastiken aus Keramik, Holz, Schläuchen und Schrott in den Garten gestellt, die die Formen­sprache ugandischer Masken aufgreifen (2023/24). Taylor Nkomo (*1957 in Bulawayo) hat sechs starke, sehr elegante Kopf­skulpturen vor Ort, gehauen aus Kobalt, Verdite, Opal und Serpentinit (2022/23).

Taylor Nkomo, Thinker, 2023, Cobalt, 27 × 23 × 46 cm / Leilah Babirye, Ugangi from the Kuchu Acholi Region, 2024, Keramik, Draht, elektrische Metall­rohre, Fahrrad­schläuche und gefundene Gegen­stände, 273 × 84 × 84 cm. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Every­where. Fotos: Andrea Avezzù / Marco Zorzanello. Courtesy: La Biennale di Venezia
Taylor Nkomo, Thinker, 2023, Cobalt, 27 × 23 × 46 cm / Leilah Babirye, Ugangi from the Kuchu Acholi Region, 2024, Keramik, Draht, elektrische Metall­rohre, Fahrrad­schläuche und gefundene Gegen­stände, 273 × 84 × 84 cm. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Every­where. Fotos: Andrea Avezzù / Marco Zorzanello. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Ein wenig beun­ruhigend ist Agnes Question­marks (*1995 in Rom) Installation Cyber-Teratology Operation (2024) mit der Vivi­sektion eines trans­humanen Körpers. Und die, mit einem Goldenen Löwen fürs Lebens­werk aus­gezeichnete Anna Maria Maio­lino (*1942 in Scalea) nutzt einen Geräte­schuppen unter anderem für ein zehn Tonnen mächtiges Formen­repertoire ihrer werk­prägenden Tono­bjekte: Ao finito (1994/2024).

60. Esposizione Inter­nazionale d’Arte. La Biennale di Venezia. Stranieri Ovunque – Foreigners Every­where. K: Adriano Pedrosa. Venedig, 20. April bis 24. November 2024.