Kulturraum NRW


Die besten nationalen Pavillons – Biennale Venedig 2024

Eine Auswahl

Australien, USA, Japan, Ägypten, Österreich, Libanon, Nigeria, Äthiopien, Estland und Timor-Leste: Der Rundgang durch die zehn besten Pavillons der 60. Internationalen Kunstausstellung in Venedig 2024.

Biennale Venedig 2024, Werbebanner an der Brücke über den Rio de la Tana. Foto: jvf

Immerhin 86 nationale Beiträge („parte­cipazioni nazio­nali“) hat die 60. Kunst­biennale Venedig zur Eröffnung im Programm – von Ägypten bis Zypern. Nur 84 indes kann man sich in den ersten Tagen der Aus­stellung auch wirk­lich anschauen.

Die Künstlerin des israe­lischen Pavillons, Ruth Patir, und ihre Kura­torinnen haben erklärt, dass ihr Auf­tritt in den Giardini erst dann zugäng­lich werden soll, wenn im Gaza­krieg ein Waffen­stillstand und eine Verein­barung über die Frei­lassung der Geiseln erreicht ist. Und was mit der iranischen Nieder­lassung in Vene­dig ist, weiß der­zeit nie­mand – ge­öffnet ist sie nicht.

Trotzdem ist das eine kaum zu bewältigende Menge, wenn man sich nicht mindestens drei­vier Tage dafür Zeit nehmen kann. Welche Pavillons in den Giardini, dem Arsenale und an anderen Spiel­­orten in der Stadt gilt es also, auf keinen Fall zu ver­säumen? In der Kurz­­fassung für ganz eilige Men­schen: Auf die Agenda gehören

Archie Moore, kith and kin im australischen Pavillon

Australischer Pavillon: Archie Moore, kith and kin. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Matteo De Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia
Australischer Pavillon: Archie Moore, kith and kin. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Matteo De Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia.

An der Entscheidung der Biennale-Jury, den austra­lischen Pavillon mit dem Goldenen Löwen als besten natio­nalen Beitrag zur 60. Inter­nationalen Kunst­ausstellung Venedig 2024 auszu­zeichnen, gibt es nichts zu kriti­sieren.

Manche hätten vielleicht den ägyp­tischen, britischen oder japa­nischen Beitrag vorne gesehen – ich den libanesi­schen (s.u.), aber dass Archie Moores Instal­lation von ganz außer­gewöhnlicher Ein­dringlich­keit und ästhe­tischer Qualität ist, stellt niemand in Frage.

Mehr zum Pavillon Australiens: Die Goldenen Löwen – Biennale Venedig 2024.

[Giardini, AU, creative.gov.au]

Jeffrey Gibson, the space in which to place me im Pavillon der USA

Pavillon der USA: Jeffrey Gibson, the space in which to place me. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Matteo De Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia
Pavillon der USA: Jeffrey Gibson, the space in which to place me. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Matteo De Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Nach dem strengen Schwarzweiß des austra­lischen Pavillons mit einer fast sakralen Atmo­sphäre stellt der Auf­tritt der USA mit seiner Farb­explosion das an­gemessene Anti­dot bereit.

Hier hat Jeffrey Gibson (*1972 in Colo­rado Springs) 23 neue Arbeiten (Plastiken und Malerei) sowie ein Video aus 2020 zu einer bunten, inklu­siven Utopie gefügt.

Gibson greift dabei Materialien und Formen der indigenen Kunst Nord­amerikas auf und aktu­alisiert sie mit Methoden der Pop-Art. Politische und gesellschaft­liche Bezüge werden durch Text­elemente – in meist sehr schöner Typo­graphie – konkreti­siert.

Pavillon der USA: Jeffrey Gibson, the space in which to place me. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Matteo De Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia
Pavillon der USA: Jeffrey Gibson, the space in which to place me. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Matteo De Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Die Textfragmente werden von Martin Luther King und Nina Simone, Sprich­wörtern aus Dakota und wesent­lichen Verfassungs­texten der USA geliefert: „We are made by history“, „Birds flying high, you know how I feel“, „We will be known for­ever by the tracks we leave“, „Whereas it is essential to just govern­ment we recog­nize the equality of all people before the law“.

In der symbo­lisch bedeut­samen zentralen Rotunde des Pavillons kündet eine Stele von der Unabhängigkeits­erklärung mit den ein­leitenden Worten des Menschenrechts­versprechens: „We hold these truths to be self-evident“.

[Giardini, US, www.jeffreygibsonvenice2024.org]

Yuko Mohri, Compose im japanischen Pavillon

Japanischer Pavillon: Yuko Mohri, Compose. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Matteo De Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia
Japanischer Pavillon: Yuko Mohri, Compose. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Matteo De Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Drüben im wuseligen japanischen Pavillon hat Yuko Mohri (*1980 in Kana­gawa) ihre Klang-Assemblagen und kine­tischen Plastiken gebaut, vor Ort während sechs Wochen Anfang des Jahres, unter Ver­wendung von Gegen­ständen, die sie in der Umgebung der Giardini auf Märkten zusammen­gekauft hat.

Eine Werkgruppe – Moré Moré (Leaky) – soll inspiriert sein von adhoc-Maßnahmen, die das Personal der Tokioter U-Bahn bei kleineren Wasser­schäden in Stellung bringt: Alltags­materialen, Schüsseln, Koch­geschirr, Flaschen, Regen­schirme sammeln Wasser, das, durch Schläuche geleitet, Percussion-Instrumente antreibt.

Japanischer Pavillon: Yuko Mohri, Compose. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Matteo De Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia
Japanischer Pavillon: Yuko Mohri, Compose. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Matteo De Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Eine zweite Werkgruppe – Decomposition – erzeugt nach der Methode des alten Bastel­experiments vermittels Elek­troden aus Obst Strom, der hier genutzt wird, um Lämpchen leuchten zu lassen und bordun-artige Sounds zu erzeugen. Das Obst verfault nach und nach, macht einen süß­lichen Geruch der Fäul­nis und wird dann unter­halb des Pavillons kompos­tiert.

Die Fragilität und Flüchtig­keit, der provi­sorische Charak­ter des Umgangs mit Störer­eignissen, die die Arbeiten Yuko Mohris aus­zeichnen, erscheinen nicht nur mir, ein über­zeugender künst­lerischer Umgang mit den Krisen der Gegen­wart zu sein.

[Giardini, JP, venezia-biennale-japan.jpf.go.jp]

Wael Shawky, Drama 1882 im ägyptischen Pavillon

Ägyptischer Pavillon: Wael Shawky, Drama 1882, 2024. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. © Wael Shawky. Foto: Mina Nabil. Courtesy of Sfeir-Semler Gallery, Lisson Gallery, Lia Rumma, and Barakat Con­temporary
Ägyptischer Pavillon: Wael Shawky, Drama 1882, 2024. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. © Wael Shawky. Foto: Mina Nabil. Courtesy of Sfeir-Semler Gallery, Lisson Gallery, Lia Rumma, and Barakat Con­temporary.

Ganz was anderes. Jen­seits des Rio dei Giardini zeigt der Pavillon Ägyptens einen fesseln­den, rund 50 min. kurzen Musical-Film von Wael Shawky (*1971 in Alexandria): Drama 1882.

In acht Aufzügen, nach Shawkys Musik in Hoch­arabisch gesungen und begleitet von einem Kammer­orchester, bringt das Ding Schlüssel­szenen des Auf­stands ägyptischer Natio­nalisten unter Oberst Ahmed Urabi gegen die Kolonial­mächte und den Khediven (also dem osma­nischen Statt­halter in Ägypten) bis hin zur Nieder­lage der Aufstän­dischen gegen eine britische Armee in der Schlacht von Tel-el-Kebir im Septem­ber 1882.

Shawky, berühmt geworden durch seine Film­trilogie Cabaret Crusades (2010-2015), in der er die Geschichte der Kreuz­züge aus arabischer Perspek­tive als Puppen­spiel inszenierte, vermeidet auch in seiner neuesten Arbeit jede Realitäts­illusion. Zwar treten Sänger und Schau­spieler (und ein Esel) auf, die aller­dings wie Mario­netten agieren (der Esel weniger).

Ägyptischer Pavillon: Wael Shawky, Drama 1882, 2024. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. © Wael Shawky. Foto: Mina Nabil. Courtesy of Sfeir-Semler Gallery, Lisson Gallery, Lia Rumma, and Barakat Con­temporary
Ägyptischer Pavillon: Wael Shawky, Drama 1882, 2024. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. © Wael Shawky. Foto: Mina Nabil. Courtesy of Sfeir-Semler Gallery, Lisson Gallery, Lia Rumma, and Barakat Con­temporary.

Gefilmt wurde in einem Theater in Alexandria, mit Bühnen­bildern, die an die Oper ebenso erinnern wie an expressio­nistische Filme der 1920er Jahre und Shawky legt Wert auf den malerischen Charakter des Werks: „Der Hinter­grund bewegt sich in Zeit­lupe, wie in Schichten. Dies macht das Werk letzt­lich zu einem sich bewegenden Gemälde, wobei die Dar­steller und der Sound­track Elemente dieser Komposition sind.“

Das Musical wird ergänzt durch eine Zusammen­stellung von Objekten und Plastiken. Parallel zur Biennale kann man in einer Aus­stellung im Museo di Palazzo Grimani, aller­dings nur bis 30. Juni 2024, einen weiteren Film von Shawky sehen: I Am Hymns of the New Temples (2023).

[Giardini, EG, www.labiennale.org]

Anna Jermolaewa, Swan Lake im österreichischen Pavillon

Österreichischer Pavillon: Anna Jermolaewa & Oksana Serheieva, Rehearsal for Swan Lake, 2024, Installationsansicht. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Markus Krottendorfer
Österreichischer Pavillon: Anna Jermolaewa & Oksana Serheieva, Rehearsal for Swan Lake, 2024, Installationsansicht. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Markus Krottendorfer.

Nebenan sammelt der Pavillon Öster­reichs auf dieser Biennale ver­blüffend wenig Auf­merksam­keit ein. Dabei gehört das Ensemble der Arbeiten von Anna Jermolaewa (*1970 in Lenin­grad) zu den spannend­sten Stücken Konzept­kunst dieser Biennale.

Die im Frühjahr 1989 als 19-Jährige vor politischer Ver­folgung aus dem noch sowjetischen Russ­land nach Wien geflüchtete Künst­lerin greift mit ihren fünf Arbeiten aus den Jahren 2006 bis 2024 Aspekte des Wider­stands gegen Unter­drückung und Weg­marken ihrer Flucht auf.

Das 17 Minuten lange Video Research for Sleeping Positions (2006) erinnert daran, wie sie in den Nächten, direkt nach der Ankunft in Wien, als Obdach­lose am Wiener Haupt­bahnhof auf einer Bank Schlaf gesucht hat. Von den sechs Telefon­zellen aus dem Flüchtlings­lager Trais­kirchen (heute: „Bundes­betreuungs­stelle Ost“), die im Hof des Pavillons als Ready­mades aufgebaut sind, haben Asyl­suchende bis zum Auf­kommen der Mobil­telefone in die Heimat telefoniert und an ihren Wänden Kritzeleien hinterlassen.

Österreichischer Pavillon: Anna Jermolaewa, Ribs, 2022/24, Installationsansicht, Detail. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Markus Krottendorfer
Österreichischer Pavillon: Anna Jermolaewa, Ribs, 2022/24, Installationsansicht, Detail. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Markus Krottendorfer.

Ribs (2022/24) dokumentiert wie west­liche Pop­musik auf Schwarz­märkten in der UdSSR verbreitet wurden: Die Pres­sung erfolgte auf, von Kranken­häusern entsorgten Röntgen­aufnahmen. Die Installation The Penultimate (2017) erinnert mit Blumen­arrange­ments an Aufstände und Revolutionen: Die Nelken­revolution in Portugal, die Rosen­revolution in Geor­gien, die Tulpen­revolution in Kirgisien u.v.m.

Titelgebendes Schlüssel­stück ist Rehearsel for Swan Lake (2024). Die Video­installation und Per­formance (mit der Tänzerin und Choreo­grafin Oksana Serheieva) probt für einen Umsturz in Russ­land. In der Sowjet­union sendete das Fern­sehen in Zeiten poli­tischer Unsicher­heiten – ins­besondere bei Wech­seln an der Staats- und Partei­führung – in Dauer­schleife Tschai­kowskis Ballett Schwanen­see, das so zum Symbol für den politischen Um­bruch wurde.

[Giardini, AT, biennalearte.at]

Mounira Al Solh, A Dance with her Myth im libanesischen Pavillon

Libanesischer Pavillon: Mounira Al Solh, A Dance with her Myth. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia
Libanesischer Pavillon: Mounira Al Solh, A Dance with her Myth. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Unter den nationalen Bei­trägen in der zweiten Haupt­spiel­stätte der Biennale, dem Arsenale, ist der liba­nesische Pavillon heraus­ragend. Mounira Al Solh (*1978 in Beirut) macht sich dort auf die Suche nach der phönizi­schen Königs­tochter Europa.

Frauen werden in der grie­chischen Mytho­logie noto­risch miss­handelt, aber kann man viel­leicht eine Gegener­zählung aus Perspek­tive der Frauen auf­machen, die den Opfer­status revi­diert und von Resilienz und Selbst­ermächtigung kündet?

Wer ist über­haupt dieser Götter­vater Zeus in Stier­gestalt, der Europa nach Kreta verschleppt hat? „Ich suchte nach einem präch­tigen weißen Stier, der Europa ent­führt hatte, und der kein anderer war als Zeus, der Grieche – Ich fand nur einen Ziegen­bock“.

Und Europa? Hat sie viel­leicht nur vor­gegeben, von Zeus ent­führt worden zu sein, weil sie mit ihm gehen und ihre Familie durch ihren plötz­lichen Auf­bruch nicht erzürnen wollte?

Libanesischer Pavillon: Mounira Al Solh, A Dance with her Myth. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia
Libanesischer Pavillon: Mounira Al Solh, A Dance with her Myth. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Mit über 40 Stücken – Malerei, Zeichnung, Plastiken, Masken, Stickereien und einem Video – geht al Solh der Frage nach der Möglich­keit dieser Gegen­erzählung nach.

Im Zentrum der Multimedia-Installation steht ein Boot, vielmehr das Gerippe eines Boots, die Löcher soll der Wind mit seinen Geschichten füllen. Auf dessen bestickten Segel wird das rund zwölf Minuten kurze Video projiziert, das die Objekte der Installation im Rahmen der Quest zum Leben erweckt.

[Arsenale, LB, www.labiennale.org]

Nigeria Imaginary im Pavillon Nigerias

Pavillon Nigerias: Ndidi Dike, Blackhood: A Living Archive. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia
Pavillon Nigerias: Ndidi Dike, Blackhood: A Living Archive. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Nationale Beiträge außer­halb der Biennale-Haupt­ausstellungs­areale, Giardini und Arsenale, finden gewöhn­lich in der inter­nationalen, profes­sionellen Kunst­bericht­erstattung eher wenig Be­achtung. Man hat ja sehr wenig Zeit, sich das ganze Zeug anzu­schauen. Der Pavillon Nigerias im Palazzo Canal im Norden des Dorso­duro ist dies­mal – sehr zu Recht – eine Aus­nahme.

Arbeiten von acht Künst­ler:innen ver­sammelt der Pavillon, der von der Kura­torin für zeit­genössische Kunst am Museum of West African Art in Benin City, Aindrea Emelife, verant­wortet wird: Tunji Adeniyi-Jones, Ndidi Dike, Onyeka Igwe, Toyin Ojih Odutola, Abraham Ogho­base, Precious Okoyo­mon, Yinka Shoni­bare und Fatimah Tuggar.

Besonders auffällig unter der Viel­zahl von aus­gestellten Werken ist zum Beispiel ein Denkmal gegen Polizei­gewalt, Black­hood: A Living Archive (2024), von Ndidi Dike (*1960 in London), das in einem Stahl­gestell Platz hat für 736 Schlag­stöcke, die im kolonialen und post­kolonialen Nigeria im Einsatz waren.

Pavillon Nigerias: Yinka Shonibare, Monument to the Restitution of the Mind and Soul. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia
Pavillon Nigerias: Yinka Shonibare, Monument to the Restitution of the Mind and Soul. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Sehr starke, großformatige Malerei gibt es von Toyin Ojih Odutola (*1985 in Ife). Und Yinka Shoni­bares (*1962 in London) Instal­lation Monument to the Restitu­tion of the Mind and Soul (2023) themati­siert die Not­wendig­keit der Restitu­tion von gestoh­lenem Kultur­gut am Bei­spiel des Kunst­raubs im Rahmen der Benin-„Straf­expedition“ durch die britischen Kolonial­macht im Jahr 1897.

Mit 150 Replikas aus Ton auf einer pyra­midalen Konstruk­tion arrangiert Shoni­bare Stell­vertreter eines kleinen Teils der seiner­zeit geplünderten Kunst­schätze, die bis heute in europä­ischen Samm­lungen zurück­gehalten werden. In einer Vitrine am Fuß der Pyramide ist als bittere Referenz auf das Restitutions­versagen eine Büste von Konter­adminal Harry Rawson eingestellt. Rawson kommandierte die „Benin Punitive Expedition“.

Yinka Shoni­bare ist übrigens auch in der Zentralausstellung der Biennale vertreten, gleich im ersten Raum des Arsenale findet sich ihr Refugee Astronaut II (2016).

[Dorsoduro, NG, www.nigeriaimaginary.com]

Tesfaye Urgessa, Prejudice and belonging im äthiopischen Pavillon

Äthiopischer Pavillon: Tesfaye Urgessa, Prejudice and belonging. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia
Äthiopischer Pavillon: Tesfaye Urgessa, Prejudice and belonging. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Zur Riege der beein­druckenden afri­kanischen Pavillons dieser Biennale könnte man neben Ägypten und Nigeria auch die Elfenbein­küste zählen, die zumindest die coolste Musik im Angebot hat: The Blue Note (Dorsoduro, CI). Aber ich will lieber auf den erst­maligen Biennale­auftritt Äthiopiens hin­weisen.

Die Beletage des Palazzo Bollani, unweit der Riva degli Schiavoni, hat Tesfaye Urgessa (*1983 in Addis Ababa) ganz für sich und seine Malerei.

Von klein­formatigen Porträts bis zu großen Gruppen­bildern in häus­licher Szenerie geht das. Letztere sind gegen­ständliche, collagen­artig erzählende Malereien mit symbolischen und surrealen Ein­schüben. Mensch­liche Körper sind häufig fragmen­tiert und ver­zerrt.

Urgessa: „Die Leute denken oft, dass ich Opfer auf meinen Lein­wänden male, aber das ist völlig anders. Die Figuren bergen alle möglichen Emotionen, Zerbrech­lichkeit ebenso wie Selbst­vertrauen. Es ist die Figur, die sich ohne jeg­liches Urteil präsentiert. Sie sagt, das ist, wer ich bin, das ist, was ich bin.“

Äthiopischer Pavillon: Tesfaye Urgessa, Prejudice and belonging. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia
Äthiopischer Pavillon: Tesfaye Urgessa, Prejudice and belonging. 60. Inter­nationale Kunst­ausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Möglicher­weise sind das auto­biographisch grundierte Bild­erzählungen mit Elementen eines Selbst­porträts, jeden­falls ragt immer wieder ein Unter­arm mit Pinsel oder Stift in die Szene.

Als Vorbilder für Urgessas Malerei werden die Londoner Schule und der deutsche Neo­expressionismus genannt. Urgessa hat u.a. an der Staat­lichen Akademie der Bildenden Künste in Stutt­gart bei Cordula Güde­mann studiert.

[Castello, ET, www.ethiopiapavilion.org]

Edith Karlson, hora lupi im Pavillon Estlands

Pavillon Estlands: Edith Karlson, hora lupi. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia
Pavillon Estlands: Edith Karlson, hora lupi. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Noch weiter abseits des Biennale­trubels, in der Chiesa di Santa Maria delle Peni­tenti an den Fonda­menta di Canna­regio, hat Edith Karlson (*1983) einen starken, figuren- und symbol­reichen Auftritt mit ihrer orts­spezifischen Instal­lation: hora lupi (die Stunde des Wolfs).

Der Komplex, zu dem die Kirche gehört, wurde im 18. Jhd. gebaut als Zuflucht für buß­fertige Frauen, um sie aus den Fängen des Teufels zu befreien. Auf­genommen wurden nur Frauen, die seit mindes­tens drei Monaten der Prostitu­tion entsagt hatten. Später wurden geflüchtete Frauen hier unter­gebracht.

Jetzt drohen in der Kapelle der Buß­fertigen drei monumentale, männ­liche Beton­figuren in Lenden­schurz mit Stein, Strei­taxt und Keule aufein­ander loszu­gehen, eine Schlange steht in ihrer Mitte, Vipern haben einen Seiten­altar ein­genommen.

Links in einem Neben­raum warten drei fisch­köpfige Meer­jungfrauen auf das Wasser des Kanals, der durch den auf­gerissenen Boden einzu­schwemmen ver­spricht. Als Altar­blatt dient hier ein Relief, das wieder­um Meer­jungfrauen zeigt und eine Madonna mit dem Kind – aller­dings ist die ge­alterte und vom Leben ge­zeichnete Mutter kaum als jung­fräuliche Gottes­mutter zu sehen.

Pavillon Estlands: Edith Karlson, hora lupi. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia
Pavillon Estlands: Edith Karlson, hora lupi. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Eine zweiköpfige Katze wirkt bedroh­lich, eine Gruppe von Frauen­figuren ist in ihrer Trauer mehr ver­einzelt als ver­eint. Störche mit Blumen im Schnabel künden hier sicher nicht von der Geburt eines Heilands, sondern eher von der Fort­setzung der mensch­lichen Komödie oder des mensch­lichen Trauer­spiels.

Karlson: „Die Welt ist im Arsch und wir, Menschen, haben das angerichtet. Es gibt kein Ent­rinnen aus dieser Situation. Keine Illusionen, nur Dramen. Nichts wird sich je ändern, und das ist gleicher­maßen tragisch wie komisch, ernst und lach­haft, furcht­erregend wie die Hölle und amüsant wie ein Zirkus“.

[Cannaregio, EE, cca.ee]

Maria Madeira, Kiss and Don’t Tell im Pavillon von Timor-Leste

Pavillon Osttimors: Maria Madeira, Kiss and Don’t Tell. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia
Pavillon Osttimors: Maria Madeira, Kiss and Don’t Tell. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.

Ich zögere etwas bei dieser letzten Empfehlung. Es gibt eine Reihe von natio­nalen Bei­trägen zu dieser Biennale und noch mehr Neben- und Parallel­ausstellungen, die um eine künst­lerische Haltung ringen an­gesichts der Grausam­keiten des Krieges, der Besatzung, von Flucht und Ver­treibung.

Der sehr sehenswerte polnische Pavillon, der vom ukrai­nischen Kollektiv Open Group bespielt wird (Repeat after me, Giardini, PL), gehört etwa dazu oder auch eine Aus­stellung der Victor Pinchuk Foundation im Palazzo Contarini Polignac (Daring to Dream in a World of Constant Fear, Dorsoduro, 9).

Die in Sachen Aufarbeitung von Kriegs­greuel unmittel­bar ergreifendste Arbeit ist aber Maria Madeiras (*1969 in Ermera) Kiss and Don’t Tell (2024).

Es ist das erste Mal, dass – das erst 2002 inter­national anerkannte – Timor-Leste (Osttimor) mit einem nationalen Beitrag auf der Biennale vertreten ist. Und eigent­lich bräuchte es eine deut­liche Trigger-Warnung vor dem Pavillon im Spazio Rava am Canal Grande nahe der Rialto-Brücke: Es geht um sexuali­sierte Gewalt als Folter­methode.

Pavillon Osttimors: Maria Madeira, Kiss and Don’t Tell. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia
Pavillon Osttimors: Maria Madeira, Kiss and Don’t Tell. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.

In einer Gemälde­installation, ins­besondere aber in einem auf­wühlenden Performance-Video, in der sie Schmerz und Wut ausagiert, erinnert Madeira an timoresische Frauen, die von Soldaten der indonesi­schen Besatzungs­macht (1975-1999) ver­gewaltigt wurden, gezwungen Lippen­stift auf­zutragen, nieder­zuknien und die Wände der Folter­kammer zu küssen.

[San Polo, TL, timor-leste.gov.tl]

Und sonst?

Einige der hier ausgewählten natio­nalen Bei­träge sind Außen­seiter­tipps: Die Pavillons Öster­reichs, Äthiopiens, Est­lands und von Timor-Leste werden in der inter­nationalen Bericht­erstattung zur Kunst­biennale kaum beachtet.

Mehr Aufmerksam­keit können die Auf­tritte Frank­reichs (Julien Creuzet), Groß­britanniens (John Akomfrah) und auch Deutsch­lands (Yael Bartana, Ersan Mondtag et. al. – davon an anderer Stelle mehr) ein­sammeln.

Falls Zeit ist, lohnen besonders auch Besuche der Pavillons Polens (Open Group), Tschechiens (Eva Kotátková) und der Nieder­lande (Cercle d’Art des Travailleurs de Plantation Congolaise) in den Giardini, Perus (Roberto Huarcaya) im Arsenale, Chiles in Castello (Valeria Montti Colque) und Bulgariens in Dorso­duro.

Karte beste nationale Beiträge, Neben- und Parallelausstellungen


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60. Esposizione Internazionale d’Arte. La Biennale di Venezia. Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere. K: Adriano Pedrosa. Venedig, 20. April bis 24. November 2024.