Die besten nationalen Pavillons – Biennale Venedig 2024
Eine Auswahl
Australien, USA, Japan, Ägypten, Österreich, Libanon, Nigeria, Äthiopien, Estland und Timor-Leste: Der Rundgang durch die zehn besten Pavillons der 60. Internationalen Kunstausstellung in Venedig 2024.
Immerhin 86 nationale Beiträge („partecipazioni nazionali“) hat die 60. Kunstbiennale Venedig zur Eröffnung im Programm – von Ägypten bis Zypern. Nur 84 indes kann man sich in den ersten Tagen der Ausstellung auch wirklich anschauen.
Die Künstlerin des israelischen Pavillons, Ruth Patir, und ihre Kuratorinnen haben erklärt, dass ihr Auftritt in den Giardini erst dann zugänglich werden soll, wenn im Gazakrieg ein Waffenstillstand und eine Vereinbarung über die Freilassung der Geiseln erreicht ist. Und was mit der iranischen Niederlassung in Venedig ist, weiß derzeit niemand – geöffnet ist sie nicht.
Trotzdem ist das eine kaum zu bewältigende Menge, wenn man sich nicht mindestens dreivier Tage dafür Zeit nehmen kann. Welche Pavillons in den Giardini, dem Arsenale und an anderen Spielorten in der Stadt gilt es also, auf keinen Fall zu versäumen? In der Kurzfassung für ganz eilige Menschen: Auf die Agenda gehören
- Archie Moore für Australien (Giardini)
- Jeffrey Gibson für die USA (Giardini)
- Yuko Mohri für Japan (Giardini)
- Wael Shawky für Ägypten (Giardini)
- Anna Jermolaewa für Österreich (Giardini)
- Mounira Al Solh für den Libanon (Arsenale)
- Nigeria Imaginary für Nigeria (Dorsoduro)
- Tesfaye Urgessa für Äthiopien (Castelo)
- Edith Karlson für Estland (Cannaregio)
- Maria Madeira für Timor-Leste (San Polo)
Archie Moore, kith and kin im australischen Pavillon
Australischer Pavillon: Archie Moore, kith and kin. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Matteo De Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia.
An der Entscheidung der Biennale-Jury, den australischen Pavillon mit dem Goldenen Löwen als besten nationalen Beitrag zur 60. Internationalen Kunstausstellung Venedig 2024 auszuzeichnen, gibt es nichts zu kritisieren.
Manche hätten vielleicht den ägyptischen, britischen oder japanischen Beitrag vorne gesehen – ich den libanesischen (s.u.), aber dass Archie Moores Installation von ganz außergewöhnlicher Eindringlichkeit und ästhetischer Qualität ist, stellt niemand in Frage.
Mehr zum Pavillon Australiens: Die Goldenen Löwen – Biennale Venedig 2024.
[Giardini, AU, creative.gov.au]
Jeffrey Gibson, the space in which to place me im Pavillon der USA
Pavillon der USA: Jeffrey Gibson, the space in which to place me. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Matteo De Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia.
Nach dem strengen Schwarzweiß des australischen Pavillons mit einer fast sakralen Atmosphäre stellt der Auftritt der USA mit seiner Farbexplosion das angemessene Antidot bereit.
Hier hat Jeffrey Gibson (*1972 in Colorado Springs) 23 neue Arbeiten (Plastiken und Malerei) sowie ein Video aus 2020 zu einer bunten, inklusiven Utopie gefügt.
Gibson greift dabei Materialien und Formen der indigenen Kunst Nordamerikas auf und aktualisiert sie mit Methoden der Pop-Art. Politische und gesellschaftliche Bezüge werden durch Textelemente – in meist sehr schöner Typographie – konkretisiert.
Pavillon der USA: Jeffrey Gibson, the space in which to place me. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Matteo De Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia.
Die Textfragmente werden von Martin Luther King und Nina Simone, Sprichwörtern aus Dakota und wesentlichen Verfassungstexten der USA geliefert: „We are made by history“, „Birds flying high, you know how I feel“, „We will be known forever by the tracks we leave“, „Whereas it is essential to just government we recognize the equality of all people before the law“.
In der symbolisch bedeutsamen zentralen Rotunde des Pavillons kündet eine Stele von der Unabhängigkeitserklärung mit den einleitenden Worten des Menschenrechtsversprechens: „We hold these truths to be self-evident“.
[Giardini, US, www.jeffreygibsonvenice2024.org]
Yuko Mohri, Compose im japanischen Pavillon
Japanischer Pavillon: Yuko Mohri, Compose. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Matteo De Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia.
Drüben im wuseligen japanischen Pavillon hat Yuko Mohri (*1980 in Kanagawa) ihre Klang-Assemblagen und kinetischen Plastiken gebaut, vor Ort während sechs Wochen Anfang des Jahres, unter Verwendung von Gegenständen, die sie in der Umgebung der Giardini auf Märkten zusammengekauft hat.
Eine Werkgruppe – Moré Moré (Leaky) – soll inspiriert sein von adhoc-Maßnahmen, die das Personal der Tokioter U-Bahn bei kleineren Wasserschäden in Stellung bringt: Alltagsmaterialen, Schüsseln, Kochgeschirr, Flaschen, Regenschirme sammeln Wasser, das, durch Schläuche geleitet, Percussion-Instrumente antreibt.
Japanischer Pavillon: Yuko Mohri, Compose. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Matteo De Mayda. Courtesy: La Biennale di Venezia.
Eine zweite Werkgruppe – Decomposition – erzeugt nach der Methode des alten Bastelexperiments vermittels Elektroden aus Obst Strom, der hier genutzt wird, um Lämpchen leuchten zu lassen und bordun-artige Sounds zu erzeugen. Das Obst verfault nach und nach, macht einen süßlichen Geruch der Fäulnis und wird dann unterhalb des Pavillons kompostiert.
Die Fragilität und Flüchtigkeit, der provisorische Charakter des Umgangs mit Störereignissen, die die Arbeiten Yuko Mohris auszeichnen, erscheinen nicht nur mir, ein überzeugender künstlerischer Umgang mit den Krisen der Gegenwart zu sein.
[Giardini, JP, venezia-biennale-japan.jpf.go.jp]
Wael Shawky, Drama 1882 im ägyptischen Pavillon
Ägyptischer Pavillon: Wael Shawky, Drama 1882, 2024. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. © Wael Shawky. Foto: Mina Nabil. Courtesy of Sfeir-Semler Gallery, Lisson Gallery, Lia Rumma, and Barakat Contemporary.
Ganz was anderes. Jenseits des Rio dei Giardini zeigt der Pavillon Ägyptens einen fesselnden, rund 50 min. kurzen Musical-Film von Wael Shawky (*1971 in Alexandria): Drama 1882.
In acht Aufzügen, nach Shawkys Musik in Hocharabisch gesungen und begleitet von einem Kammerorchester, bringt das Ding Schlüsselszenen des Aufstands ägyptischer Nationalisten unter Oberst Ahmed Urabi gegen die Kolonialmächte und den Khediven (also dem osmanischen Statthalter in Ägypten) bis hin zur Niederlage der Aufständischen gegen eine britische Armee in der Schlacht von Tel-el-Kebir im September 1882.
Shawky, berühmt geworden durch seine Filmtrilogie Cabaret Crusades (2010-2015), in der er die Geschichte der Kreuzzüge aus arabischer Perspektive als Puppenspiel inszenierte, vermeidet auch in seiner neuesten Arbeit jede Realitätsillusion. Zwar treten Sänger und Schauspieler (und ein Esel) auf, die allerdings wie Marionetten agieren (der Esel weniger).
Ägyptischer Pavillon: Wael Shawky, Drama 1882, 2024. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. © Wael Shawky. Foto: Mina Nabil. Courtesy of Sfeir-Semler Gallery, Lisson Gallery, Lia Rumma, and Barakat Contemporary.
Gefilmt wurde in einem Theater in Alexandria, mit Bühnenbildern, die an die Oper ebenso erinnern wie an expressionistische Filme der 1920er Jahre und Shawky legt Wert auf den malerischen Charakter des Werks: „Der Hintergrund bewegt sich in Zeitlupe, wie in Schichten. Dies macht das Werk letztlich zu einem sich bewegenden Gemälde, wobei die Darsteller und der Soundtrack Elemente dieser Komposition sind.“
Das Musical wird ergänzt durch eine Zusammenstellung von Objekten und Plastiken. Parallel zur Biennale kann man in einer Ausstellung im Museo di Palazzo Grimani, allerdings nur bis 30. Juni 2024, einen weiteren Film von Shawky sehen: I Am Hymns of the New Temples (2023).
[Giardini, EG, www.labiennale.org]
Anna Jermolaewa, Swan Lake im österreichischen Pavillon
Österreichischer Pavillon: Anna Jermolaewa & Oksana Serheieva, Rehearsal for Swan Lake, 2024, Installationsansicht. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Markus Krottendorfer.
Nebenan sammelt der Pavillon Österreichs auf dieser Biennale verblüffend wenig Aufmerksamkeit ein. Dabei gehört das Ensemble der Arbeiten von Anna Jermolaewa (*1970 in Leningrad) zu den spannendsten Stücken Konzeptkunst dieser Biennale.
Die im Frühjahr 1989 als 19-Jährige vor politischer Verfolgung aus dem noch sowjetischen Russland nach Wien geflüchtete Künstlerin greift mit ihren fünf Arbeiten aus den Jahren 2006 bis 2024 Aspekte des Widerstands gegen Unterdrückung und Wegmarken ihrer Flucht auf.
Das 17 Minuten lange Video Research for Sleeping Positions (2006) erinnert daran, wie sie in den Nächten, direkt nach der Ankunft in Wien, als Obdachlose am Wiener Hauptbahnhof auf einer Bank Schlaf gesucht hat. Von den sechs Telefonzellen aus dem Flüchtlingslager Traiskirchen (heute: „Bundesbetreuungsstelle Ost“), die im Hof des Pavillons als Readymades aufgebaut sind, haben Asylsuchende bis zum Aufkommen der Mobiltelefone in die Heimat telefoniert und an ihren Wänden Kritzeleien hinterlassen.
Österreichischer Pavillon: Anna Jermolaewa, Ribs, 2022/24, Installationsansicht, Detail. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Markus Krottendorfer.
Ribs (2022/24) dokumentiert wie westliche Popmusik auf Schwarzmärkten in der UdSSR verbreitet wurden: Die Pressung erfolgte auf, von Krankenhäusern entsorgten Röntgenaufnahmen. Die Installation The Penultimate (2017) erinnert mit Blumenarrangements an Aufstände und Revolutionen: Die Nelkenrevolution in Portugal, die Rosenrevolution in Georgien, die Tulpenrevolution in Kirgisien u.v.m.
Titelgebendes Schlüsselstück ist Rehearsel for Swan Lake (2024). Die Videoinstallation und Performance (mit der Tänzerin und Choreografin Oksana Serheieva) probt für einen Umsturz in Russland. In der Sowjetunion sendete das Fernsehen in Zeiten politischer Unsicherheiten – insbesondere bei Wechseln an der Staats- und Parteiführung – in Dauerschleife Tschaikowskis Ballett Schwanensee, das so zum Symbol für den politischen Umbruch wurde.
[Giardini, AT, biennalearte.at]
Mounira Al Solh, A Dance with her Myth im libanesischen Pavillon
Libanesischer Pavillon: Mounira Al Solh, A Dance with her Myth. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.
Unter den nationalen Beiträgen in der zweiten Hauptspielstätte der Biennale, dem Arsenale, ist der libanesische Pavillon herausragend. Mounira Al Solh (*1978 in Beirut) macht sich dort auf die Suche nach der phönizischen Königstochter Europa.
Frauen werden in der griechischen Mythologie notorisch misshandelt, aber kann man vielleicht eine Gegenerzählung aus Perspektive der Frauen aufmachen, die den Opferstatus revidiert und von Resilienz und Selbstermächtigung kündet?
Wer ist überhaupt dieser Göttervater Zeus in Stiergestalt, der Europa nach Kreta verschleppt hat? „Ich suchte nach einem prächtigen weißen Stier, der Europa entführt hatte, und der kein anderer war als Zeus, der Grieche – Ich fand nur einen Ziegenbock“.
Und Europa? Hat sie vielleicht nur vorgegeben, von Zeus entführt worden zu sein, weil sie mit ihm gehen und ihre Familie durch ihren plötzlichen Aufbruch nicht erzürnen wollte?
Libanesischer Pavillon: Mounira Al Solh, A Dance with her Myth. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.
Mit über 40 Stücken – Malerei, Zeichnung, Plastiken, Masken, Stickereien und einem Video – geht al Solh der Frage nach der Möglichkeit dieser Gegenerzählung nach.
Im Zentrum der Multimedia-Installation steht ein Boot, vielmehr das Gerippe eines Boots, die Löcher soll der Wind mit seinen Geschichten füllen. Auf dessen bestickten Segel wird das rund zwölf Minuten kurze Video projiziert, das die Objekte der Installation im Rahmen der Quest zum Leben erweckt.
[Arsenale, LB, www.labiennale.org]
Nigeria Imaginary im Pavillon Nigerias
Pavillon Nigerias: Ndidi Dike, Blackhood: A Living Archive. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.
Nationale Beiträge außerhalb der Biennale-Hauptausstellungsareale, Giardini und Arsenale, finden gewöhnlich in der internationalen, professionellen Kunstberichterstattung eher wenig Beachtung. Man hat ja sehr wenig Zeit, sich das ganze Zeug anzuschauen. Der Pavillon Nigerias im Palazzo Canal im Norden des Dorsoduro ist diesmal – sehr zu Recht – eine Ausnahme.
Arbeiten von acht Künstler:innen versammelt der Pavillon, der von der Kuratorin für zeitgenössische Kunst am Museum of West African Art in Benin City, Aindrea Emelife, verantwortet wird: Tunji Adeniyi-Jones, Ndidi Dike, Onyeka Igwe, Toyin Ojih Odutola, Abraham Oghobase, Precious Okoyomon, Yinka Shonibare und Fatimah Tuggar.
Besonders auffällig unter der Vielzahl von ausgestellten Werken ist zum Beispiel ein Denkmal gegen Polizeigewalt, Blackhood: A Living Archive (2024), von Ndidi Dike (*1960 in London), das in einem Stahlgestell Platz hat für 736 Schlagstöcke, die im kolonialen und postkolonialen Nigeria im Einsatz waren.
Pavillon Nigerias: Yinka Shonibare, Monument to the Restitution of the Mind and Soul. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.
Sehr starke, großformatige Malerei gibt es von Toyin Ojih Odutola (*1985 in Ife). Und Yinka Shonibares (*1962 in London) Installation Monument to the Restitution of the Mind and Soul (2023) thematisiert die Notwendigkeit der Restitution von gestohlenem Kulturgut am Beispiel des Kunstraubs im Rahmen der Benin-„Strafexpedition“ durch die britischen Kolonialmacht im Jahr 1897.
Mit 150 Replikas aus Ton auf einer pyramidalen Konstruktion arrangiert Shonibare Stellvertreter eines kleinen Teils der seinerzeit geplünderten Kunstschätze, die bis heute in europäischen Sammlungen zurückgehalten werden. In einer Vitrine am Fuß der Pyramide ist als bittere Referenz auf das Restitutionsversagen eine Büste von Konteradminal Harry Rawson eingestellt. Rawson kommandierte die „Benin Punitive Expedition“.
Yinka Shonibare ist übrigens auch in der Zentralausstellung der Biennale vertreten, gleich im ersten Raum des Arsenale findet sich ihr Refugee Astronaut II (2016).
[Dorsoduro, NG, www.nigeriaimaginary.com]
Tesfaye Urgessa, Prejudice and belonging im äthiopischen Pavillon
Äthiopischer Pavillon: Tesfaye Urgessa, Prejudice and belonging. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.
Zur Riege der beeindruckenden afrikanischen Pavillons dieser Biennale könnte man neben Ägypten und Nigeria auch die Elfenbeinküste zählen, die zumindest die coolste Musik im Angebot hat: The Blue Note (Dorsoduro, CI). Aber ich will lieber auf den erstmaligen Biennaleauftritt Äthiopiens hinweisen.
Die Beletage des Palazzo Bollani, unweit der Riva degli Schiavoni, hat Tesfaye Urgessa (*1983 in Addis Ababa) ganz für sich und seine Malerei.
Von kleinformatigen Porträts bis zu großen Gruppenbildern in häuslicher Szenerie geht das. Letztere sind gegenständliche, collagenartig erzählende Malereien mit symbolischen und surrealen Einschüben. Menschliche Körper sind häufig fragmentiert und verzerrt.
Urgessa: „Die Leute denken oft, dass ich Opfer auf meinen Leinwänden male, aber das ist völlig anders. Die Figuren bergen alle möglichen Emotionen, Zerbrechlichkeit ebenso wie Selbstvertrauen. Es ist die Figur, die sich ohne jegliches Urteil präsentiert. Sie sagt, das ist, wer ich bin, das ist, was ich bin.“
Äthiopischer Pavillon: Tesfaye Urgessa, Prejudice and belonging. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.
Möglicherweise sind das autobiographisch grundierte Bilderzählungen mit Elementen eines Selbstporträts, jedenfalls ragt immer wieder ein Unterarm mit Pinsel oder Stift in die Szene.
Als Vorbilder für Urgessas Malerei werden die Londoner Schule und der deutsche Neoexpressionismus genannt. Urgessa hat u.a. an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart bei Cordula Güdemann studiert.
[Castello, ET, www.ethiopiapavilion.org]
Edith Karlson, hora lupi im Pavillon Estlands
Pavillon Estlands: Edith Karlson, hora lupi. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.
Noch weiter abseits des Biennaletrubels, in der Chiesa di Santa Maria delle Penitenti an den Fondamenta di Cannaregio, hat Edith Karlson (*1983) einen starken, figuren- und symbolreichen Auftritt mit ihrer ortsspezifischen Installation: hora lupi (die Stunde des Wolfs).
Der Komplex, zu dem die Kirche gehört, wurde im 18. Jhd. gebaut als Zuflucht für bußfertige Frauen, um sie aus den Fängen des Teufels zu befreien. Aufgenommen wurden nur Frauen, die seit mindestens drei Monaten der Prostitution entsagt hatten. Später wurden geflüchtete Frauen hier untergebracht.
Jetzt drohen in der Kapelle der Bußfertigen drei monumentale, männliche Betonfiguren in Lendenschurz mit Stein, Streitaxt und Keule aufeinander loszugehen, eine Schlange steht in ihrer Mitte, Vipern haben einen Seitenaltar eingenommen.
Links in einem Nebenraum warten drei fischköpfige Meerjungfrauen auf das Wasser des Kanals, der durch den aufgerissenen Boden einzuschwemmen verspricht. Als Altarblatt dient hier ein Relief, das wiederum Meerjungfrauen zeigt und eine Madonna mit dem Kind – allerdings ist die gealterte und vom Leben gezeichnete Mutter kaum als jungfräuliche Gottesmutter zu sehen.
Pavillon Estlands: Edith Karlson, hora lupi. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.
Eine zweiköpfige Katze wirkt bedrohlich, eine Gruppe von Frauenfiguren ist in ihrer Trauer mehr vereinzelt als vereint. Störche mit Blumen im Schnabel künden hier sicher nicht von der Geburt eines Heilands, sondern eher von der Fortsetzung der menschlichen Komödie oder des menschlichen Trauerspiels.
Karlson: „Die Welt ist im Arsch und wir, Menschen, haben das angerichtet. Es gibt kein Entrinnen aus dieser Situation. Keine Illusionen, nur Dramen. Nichts wird sich je ändern, und das ist gleichermaßen tragisch wie komisch, ernst und lachhaft, furchterregend wie die Hölle und amüsant wie ein Zirkus“.
[Cannaregio, EE, cca.ee]
Maria Madeira, Kiss and Don’t Tell im Pavillon von Timor-Leste
Pavillon Osttimors: Maria Madeira, Kiss and Don’t Tell. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.
Ich zögere etwas bei dieser letzten Empfehlung. Es gibt eine Reihe von nationalen Beiträgen zu dieser Biennale und noch mehr Neben- und Parallelausstellungen, die um eine künstlerische Haltung ringen angesichts der Grausamkeiten des Krieges, der Besatzung, von Flucht und Vertreibung.
Der sehr sehenswerte polnische Pavillon, der vom ukrainischen Kollektiv Open Group bespielt wird (Repeat after me, Giardini, PL), gehört etwa dazu oder auch eine Ausstellung der Victor Pinchuk Foundation im Palazzo Contarini Polignac (Daring to Dream in a World of Constant Fear, Dorsoduro, 9).
Die in Sachen Aufarbeitung von Kriegsgreuel unmittelbar ergreifendste Arbeit ist aber Maria Madeiras (*1969 in Ermera) Kiss and Don’t Tell (2024).
Es ist das erste Mal, dass – das erst 2002 international anerkannte – Timor-Leste (Osttimor) mit einem nationalen Beitrag auf der Biennale vertreten ist. Und eigentlich bräuchte es eine deutliche Trigger-Warnung vor dem Pavillon im Spazio Rava am Canal Grande nahe der Rialto-Brücke: Es geht um sexualisierte Gewalt als Foltermethode.
Pavillon Osttimors: Maria Madeira, Kiss and Don’t Tell. 60. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia. Foto: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia.
In einer Gemäldeinstallation, insbesondere aber in einem aufwühlenden Performance-Video, in der sie Schmerz und Wut ausagiert, erinnert Madeira an timoresische Frauen, die von Soldaten der indonesischen Besatzungsmacht (1975-1999) vergewaltigt wurden, gezwungen Lippenstift aufzutragen, niederzuknien und die Wände der Folterkammer zu küssen.
[San Polo, TL, timor-leste.gov.tl]
Und sonst?
Einige der hier ausgewählten nationalen Beiträge sind Außenseitertipps: Die Pavillons Österreichs, Äthiopiens, Estlands und von Timor-Leste werden in der internationalen Berichterstattung zur Kunstbiennale kaum beachtet.
Mehr Aufmerksamkeit können die Auftritte Frankreichs (Julien Creuzet), Großbritanniens (John Akomfrah) und auch Deutschlands (Yael Bartana, Ersan Mondtag et. al. – davon an anderer Stelle mehr) einsammeln.
Falls Zeit ist, lohnen besonders auch Besuche der Pavillons Polens (Open Group), Tschechiens (Eva Kotátková) und der Niederlande (Cercle d’Art des Travailleurs de Plantation Congolaise) in den Giardini, Perus (Roberto Huarcaya) im Arsenale, Chiles in Castello (Valeria Montti Colque) und Bulgariens in Dorsoduro.
Karte beste nationale Beiträge, Neben- und Parallelausstellungen
.
60. Esposizione Internazionale d’Arte. La Biennale di Venezia. Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere. K: Adriano Pedrosa. Venedig, 20. April bis 24. November 2024.