Kulturraum NRW


Die besten nationalen Pavillons – Biennale Venedig 2022

Ein Rundgang

Belgien, USA, Polen, Frankreich, Südafrika, Neuseeland, Niederlande, Estland, Lettland und Litauen: Ein kritischer Rundgang durch die besten Pavillons der 59. Internationalen Kunstausstellung in Venedig 2022.

Werbetransparent Biennale Arte 2022 – The Milk of Dreams an Brückengeländer, Foto: jvf

Insgesamt 79 nationale Beiträge („partecipa­zioni nazionali“) sind auf der 59. Kunst­biennale von Venedig 2022 zusammen gekommen – von Ägypten bis Venezuela. Das ist eine kaum zu bewältigende Menge, wenn man sich nicht dreivier Tage dafür Zeit nehmen kann.

Welche Pavillons in den Giardini, den Arsenale und an anderen Spiel­orten in der Stadt gilt es also, auf keinen Fall zu versäumen? In der Kurz­fassung für ganz eilige Menschen: Auf die Agenda gehören

The Nature of the Game im belgischen Pavillon

Seit 1999 bereits filmt der Fotograf, Maler und Multimedia­künstler Francis Alÿs (*1959 in Antwerpen) auf seinen Reisen Kinder bei ihren Spielen draußen im mehr oder weniger öffent­lichen Raum.

Francis Alÿs, Children’s Game #29: La roue. Lubumbashi, DR Congo, 2021, 8:43 min [353 MB]. In Zusammenarbeit mit Rafael Ortega, Julien Devaux, and Félix Blume. Lizenz: CC-BY-NC-ND, Quelle: Francis Alÿs, Children’s Game #29: La roue.

Für seine Videoinstallation im belgischen Pavillon hat Alÿs nun neuere, ab 2017 aufgenomme Kurzfilme aus der Schweiz, Belgien, dem Kongo, Mexiko oder auch Hongkong mitgebracht. Die sensiblen und – trotz des Einsatzes mehrerer Kameras – erstaunlich uninszeniert wirkenden Aufnahmen lehren eine Menge über die resiliente Welt­aneignung und -bewältigung im Spiel. Und sie sind sehr berührend.

Da sind zum Beispiel Kinder im kongo­lesischen Lubumbashi, die Reifen, so groß wie sie selber, die Schlacken­halde einer Kobalt­mine mühsam hinaufschieben, sich dann in den Reifen legen und mit atem­beraubender Geschwindig­keit die Halde herunter­rollen (La roue, 2021).

Oder da ist eine Variante des klassischen Fangen­spiels im mexikanischen Malinalco gefilmt – Anfang April 2021: Contagio. Die Kinder tragen MNS in verschiedenen Farben, nur rot ist reserviert für die Abgeschlagenen, „Infiziert!“ rufen sie beim Abschlag. Die gefeierte, zuletzt übrig Gebliebene ist die „Überlebende“ der Seuche.

Francis Alÿs, Children’s Game #25: Contagio. Malinalco, Mexico, 2021, 5:30 min [217 MB]. In Zusammenarbeit mit Julien Devaux, Elena Pardo, und Félix Blume. Lizenz: CC-BY-NC-ND, Quelle: Francis Alÿs, Children’s Game #25: Contagio.

Eine Auswahl kleinformatiger Gemälde mit Szenerien aus Afghanistan, Mexiko, China oder Israel sind in den zwei Seitenräumen eingangs des Pavillons gehängt und erinnern an die oft von physischer oder struktureller Gewalt geprägten Umwelt dieser Kinder­spiele.

Die im Pavillon gezeigten Videos und frühere aus der Serie sind online frei zugänglich: Francis Alÿs – Childrens Games. [Giardini, BE]

Sovereignty im Pavillon der USA

Der Pavillon der USA ist mit einer Fassade aus Stroh und Holz kaschiert, die an einen west­afrikanischen Palast der 1930er Jahre erinnern soll – oder an das Klischee davon, spezifischer noch an Bauten der Kolonial­ausstellung im Paris des Jahres 1931, die einen west­afrikanischen Palast vorstellen sollten.

Simone Leigh: Façade, 2022. Stroh, Stahl und Holz, variable Dimensionen / Satellite, 2022. Bronze, 7.3 × 3 × 2.3 m. Pavillion der USA, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Timothy Schenck, Courtesy: The artist und Matthew Marks Gallery, © Simone Leigh
Simone Leigh: Façade, 2022. Stroh, Stahl und Holz, variable Dimensionen / Satellite, 2022. Bronze, 7.3 × 3 × 2.3 m. Pavillion der USA, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Timothy Schenck, Courtesy: The artist und Matthew Marks Gallery, © Simone Leigh.

Davor steht eine mächtige Bronze, deren Form auf die D’mba anspielt, einem Kopf­schmuck in Gestalt einer weiblichen Büste, der in traditio­nellen Ritualen der Baga Guineas bei der Kontakt­aufnahme mit den Vorfahren Verwendung findet (und die künst­lerische Avant­garde im Paris der 1930er Jahre fasziniert hat). Nur dass dieser Kopf­schmuck hier ins Monumentale vergrößert ist (mehr als sieben Meter hoch) und der Kopf der Büste zu einem kreis­förmigen, schüssel­artigen Element abstrahiert ist.

Schon dieses Entrée vermittelt wesentliche Prinzipien und Elemente, die die Kunst von Simone Leigh (*1967 in Chicago) kennzeichnen: Bedeutungs­verschiebung durch Monumentali­sierung (sei es durch Skalierung der Objekte, sei es durch das Material), Aufnahme der Kunst Afrikas oder der afrikanischen Diaspora, der weibliche Körper in abstrahierter Form, Bezugnahme auf die Architektur bis hin zur Verschmelzung von abstrahierten menschlichen Körpern und architek­tonischen Formen, die Mobilisierung vielfältiger historischer und kunst­historischer Referenzen, um eine unabschließ­bare, aber nicht beliebige Bedeutungs­offenheit zu erzeugen. So in etwa.

Im Innern des Pavillons zeigt Leigh acht weitere Plastiken, die allesamt eigens für diese Ausstellung entstanden sind (sowie eine aktuelle Video­arbeit, die allerdings nicht recht überzeugen kann).

Simone Leigh: Sovereignty, Ausstellungsansicht / Sentinel, 2022. Bronze, 492.8 × 99.1 × 59.1 cm. Pavillon der USA, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Timothy Schenck, Courtesy: The artist und Matthew Marks Gallery, © Simone Leigh
Simone Leigh: Sovereignty, Ausstellungsansicht / Sentinel, 2022. Bronze, 492.8 × 99.1 × 59.1 cm. Pavillon der USA, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Timothy Schenck, Courtesy: The artist und Matthew Marks Gallery, © Simone Leigh.

Im Statement der Kuratorin (Eva Respini) heíßt es: „Die Arbeiten in Sovereignty erweitern zusammen die fort­laufende Untersuchung der Künstlerin zum Thema Selbst­bestimmung. […] Souverän zu sein bedeutet, nicht der Autorität eines anderen, den Wünschen oder dem Blick eines anderen unterworfen zu sein, sondern vielmehr Autor:in der eigenen Geschichte zu sein.“

Simone Leigh nimmt von dieser Biennale einen Goldenen Löwen als beste Künstlerin der Zentral­ausstellung mit nach Hause. [Giardini, US]

Re-enchanting the World im polnischen Pavillon

Sehr bunt, sehr beeindruckend und ebenfalls – wie viele der Länder­beiträge auf dieser Biennale – unterwegs mit dem Vorsatz, Autor:in der eigenen Geschichte zu sein, ist der Auftritt der Bild­hauerin, Malerin und Roma-Aktivistin Małgorzata Mirga-Tas (*1978 in Zakopane) im polnischen Pavillon.

Małgorzata Mirga-Tas, Re-enchanting the World, 2022. Ausstellungsansicht, Polnischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Daniel Rumiancew, Courtesy: Zachęta — National Gallery of Art
Małgorzata Mirga-Tas, Re-enchanting the World, 2022. Ausstellungsansicht, Polnischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Daniel Rumiancew, Courtesy: Zachęta — National Gallery of Art.

Mirga-Tas hat sich von den Monats­fresken im Renaissance-Palazzo Schifanoia in Ferrara inspirieren lassen für ihre wand­füllenden Collagen aus Textil und Malerei.

Zwölf Monatsbilder sind das, die obere Reihe erzählt von den mythischen Wanderungen der Roma durch Asien und Europa, dabei stereo­typische Darstellung (insbesondere des frühneu­zeitlichen Kupfer­stechers Jacques Callot) aufgreifend und umwertend.

Die mittlere Reihe zeigt auf monochromen Grund Tierkreis­symbole und Portraits von Romnja, die untere Reihe Genre­szenen und Landschafts­darstellungen aus Czarna Góra und anderen Roma-Gemeinden im Tatra-Gebirge.

Małgorzata Mirga-Tas, Re-enchanting the World, 2022. Ausstellungsansicht, Polnischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Daniel Rumiancew, Courtesy: Zachęta — National Gallery of Art
Małgorzata Mirga-Tas, Re-enchanting the World, 2022. Ausstellungsansicht, Polnischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Daniel Rumiancew, Courtesy: Zachęta — National Gallery of Art.

Die Rede von der „Wieder­verzauberung der Welt“ im Titel der Installation bezieht sich nicht nur auf die magischen Elemente in der mittleren Bildreihe, sondern ist auch einem Buchtitel der feministischen Kapitalismus­kritikerin Silvia Federici entlehnt. [Giardini, PL]

Dreams Have No Titles im französischen Pavillon

Die Fotografin und Video­künstlerin Zineb Sedira (*1963 in Gennevilliers, lebt und arbeitet in London) hat im französischen Pavillon ein Filmstudio und einen Kinosaal eingerichtet und präsentiert einen ebenso vielschichtigen wie humorvollen, auto­biographischen Filmessay über das Kino, die Musik und den Tanz.

Zineb Sedira, Dreams have no titles, 2022. Französischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Marco Cappelletti, Courtesy: La Biennale di Venezia
Zineb Sedira, Dreams have no titles, 2022. Französischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Marco Cappelletti, Courtesy: La Biennale di Venezia.

Aufgewachsen in Paris als Kind aus Algerien eingewanderter Eltern und selbst in den 1980er Jahren nach England migriert, sichtet Sedira Filmarchive nach Material, das von Migration, Rassismus und anti­kolonialistischem Widerstand handelt. Und sie eignet sich das Material durch Reenactments an, d.h. Filmszenen spielt sie mit sich selbst in Haupt- oder Nebenrolle sowie Verwandten und Freunden nach.

Dabei greift sie vornehmlich auf die Filme der nach der algerischen Unabhängig­keit gegründeten „Casbah Films“ zurück: Pontecorvos Schlacht um Algier (1966), Viscontis Der Fremde (1967) und Les mains libre (1964) – ein lange Zeit in den Archiven verschwundener, halb­stündiger Dokumentar­film über den algerischen Unabhängigkeits­kampf.

Aber Sedira nimmt auch Bezug etwa auf Ettore Scolas Le Bal – Der Tanzpalast (1983), dessen Kulisse im zentralen Raum des Pavillons eingerichtet ist – mit Bar, leider ohne Ausschank, es gibt immer Luft nach oben. Jedenfalls gehört die französische Vertretung sicher auch deshalb zu den Publikums­lieblingen dieser Biennale, weil man in den Kulissen hübsche Selfies machen kann.

Zineb Sedira, Dreams have no titles, 2022. Französischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Marco Cappelletti, Courtesy: La Biennale di Venezia
Zineb Sedira, Dreams have no titles, 2022. Französischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Marco Cappelletti, Courtesy: La Biennale di Venezia.

Die Jury der Biennale hatte für Sediras französischen Pavillon eine besondere Erwähnung übrig, „in Anerkennung und Dankbar­keit für den langwährenden Gedanken­austausch und die Solidarität als Idee des Aufbaus von communities in der Diaspora; für den Blick auf die komplexe Geschichte des Kinos jenseits des Westens und für die vielen Geschichten des Widerstands in ihrer Arbeit.“ [Giardini, FR]

Into the Light im südafrikanischen Pavillon

Starke Arbeiten von drei Künstler:innen versammelt der süd­afrikanische Pavillon in den Arsenale unter dem Titel Into the Light: Positions­bestimmungen durch Tief­bohrungen in das Unter­bewusste, in eine Familien­geschichte und in die Geschichte von Kolonialismus und Apartheid im südlichen Afrika.

Roger Ballen, Theatre of the Apparitions. Pavillon Südafrikas, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Andrea Avezzù, Courtesy: La Biennale di Venezia
Roger Ballen, Theatre of the Apparitions. Pavillon Südafrikas, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Andrea Avezzù, Courtesy: La Biennale di Venezia.

Der als Fotograf berühmt gewordene Roger Ballen – 1950 in New York geboren, lebt seit den 1970er Jahren in Südafrika – hat Arbeiten aus der Serie Theatre of the Apparitions mitgebracht. Die eindrucks­vollen, albtraum­haften oder auch arche­typischen Darstellungen von zerbrochenen Menschen­figuren und Geistern, engelhaften Wesen, Nagern und Fleder­tieren sind auf Leucht­kästen aufgebrachte Foto­grafien von Zeichnungen und zwischen 2007 und 2010 entstanden.

Vom Multimediakünstler Phumulani Ntuli (*1986 in White City, Soweto) sind Malerei mit Collage-Elementen und Video­arbeiten aus den letzten zwei Jahren vor Ort: Der Trickfilm Godide verfolgt den fiktiven Sohn des Kaisers Ngungunyane, dem letzten Herrscher des Gaza-Reichs in Südostafrika, auf seiner Reise aus der Verbannung zurück in die – heute mosambikanische – Heimat.

Lebohang Kganye, B(l)ack to Fairy Tales, 2011. Pavillon Südafrikas. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Andrea Avezzù, Courtesy: La Biennale di Venezia
Lebohang Kganye, B(l)ack to Fairy Tales, 2011. Pavillon Südafrikas. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Andrea Avezzù, Courtesy: La Biennale di Venezia.

Die junge Künstlerin Lebohang Kganye (*1990 in Johannes­burg) schließlich zeigt mit B(l)ack to Fairy Tales assoziations­mächtige Foto­grafien, individual- und familien­geschichtliche Sujets vor dem Hinter­grund der süd­afrikanischen Geschichte und des Apartheid­regimes. [Arsenale, ZA]

Paradise Camp im neuseeländischen Pavillon

Die neuseeländische Künstlerin Yuki Kihara (*1975, lebt und arbeitet in Samoa) dekonstruiert mit sehr viel Charme in ihrem viel­schichtigen Paradise Camp das Südsee­paradies Paul Gauguins.

Yuki Kihara, Paradise Camp, 2022. Neuseeländischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Andrea Avezzù, Courtesy: La Biennale di Venezia
Yuki Kihara, Paradise Camp, 2022. Neuseeländischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Andrea Avezzù, Courtesy: La Biennale di Venezia.

Kihara, die zu den Faʻafafine gehört, dem dritten Geschlecht Samoas, präsentiert in ihrem Gegen­entwurf des Paradieses zwölf foto­grafische Reenactments von Gauguin-Gemälden. Der cast für die in über­saturierten Farben (Tourismus­werbung parodierend) abgebildeten Tableaux vivants besteht ebenfalls aus Faʻafafine.

In einer fünfteiligen Talkshow (First Impressions: Paul Gauguin) wirft Kihara zudem einen frischen Blick auf Gauguins Gemälde und übernimmt für ein Interview selbst die Rolle des Impressionisten.

Die fotografischen Arbeiten und die Videos werden kontextualisiert durch Auszüge aus Kiharas Recherche­archiv (Vārchive getauft): Historische Fotos, Zeitungs­ausrisse, Dokumente, Bücher, die von der Koloniali­sierung und Christiani­sierung Samoas zeugen, vom Widerstand, aber auch von der Diskrimi­nierung der Faʻafafine.

Yuki Kihara, Paradise Camp, 2022. Neuseeländischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Andrea Avezzù, Courtesy: La Biennale di Venezia
Yuki Kihara, Paradise Camp, 2022. Neuseeländischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Andrea Avezzù, Courtesy: La Biennale di Venezia.

Der Vergleich von historischen Foto­grafien und Abbildungen von Gauguins Gemälden zeigt dabei, dass der Maler, der nie auf Samoa war, teilweise foto­grafische Vorlagen aus Samoa für seine Motive nutzte.

Einen guten Einblick in das ebenso lehrreiche wie witzige Paradise Camp vermittelt eine virtuelle Tour bei www.nzatvenice.com. [Arsenale, NZ]

When the body says Yes im niederländischen Pavillon

Der Mondriaan Fund, zuständig für die Biennale­beschickung durch die Niederlande, hat heuer seine traditionelle Spiel­stätte, den Rietveld Pavillon in den Giardini, der estnischen Vertretung überlassen. Der nieder­ländische Pavillon ist stattdessen in die profanierte Abtei­kirche della Miseri­cordia im Sestiere Cannaregio eingezogen – eine Win-win-Geschichte, wie noch zu sehen sein wird.

melanie bonajo, When the body says Yes, 2022. Niederländischer Pavillon, Mondriaan Fund, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Peter Tijhuis, Courtesy: The artist
melanie bonajo, When the body says Yes, 2022. Niederländischer Pavillon, Mondriaan Fund, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Peter Tijhuis, Courtesy: The artist.

Die Chiesetta della Misericordia wird ursprünglich nicht als Tempel der positiven Körper­erfahrung erbaut worden sein. Umso hübscher fügt sich die bunt-plüschige Hügel­landschaft ein, die melanie bonajo (*1978 in Heerlen) in dem Kirchen­saal angelegt hat.

Angenehm darin hineingelümmelt kann man When the body says Yes anschauen: Eine Video­arbeit von bonajo, in der von Intimitäts­erfahrungen erzählt und Workshops mit „sozialen Berührungs­experimenten“ inszeniert werden.

bonajo: „Zu lernen wie man ein ‚Ja‘ und ein ‚Nein‘ im Körper fühlt, ist eine der Grundlagen der Somatik. Durch Vertrauens­bildung, durch die Schaffung sicherer Räume, durch die Wieder­herstellung der Würde des Selbst und durch das Fühlen unseres Körpers können wir lernen, wie sich verkörpertes Ein­verständnis anfühlt.“

‚Big Spoon‘, film still aus melanie bonajo, When the body says Yes, 2022. Niederländischer Pavillon, Mondriaan Fund, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Courtesy: The artist
‚Big Spoon‘, film still aus melanie bonajo, When the body says Yes, 2022. Niederländischer Pavillon, Mondriaan Fund, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Courtesy: The artist.

Die Videoaufnahmen sind naturgemäß vor der Pandemie entstanden – bonajo: „Lasst uns wegkommen von unserer ent­körperlichten Zoom-Ermattung“. [Cannaregio, Chiesetta della Misericordia, NL]

Orchidelirium im estnischen Pavillon

Der estnische Beitrag revanchiert sich für die Überlassung des Rietveld Pavillons bei den nieder­ländischen Kolleg:innen mit einem Recherche­projekt und einer Multimedia­installation, die auch ein Stück holländischer Kolonial­geschichte in den Blick nehmen.

Emilie Rosalie Saal, Bambus-Orchidee, um 1910/20. Lithographie, 64x28cm. Courtesy: Corina L. Apostol / Kristina Norman, Orchidelirium, 2022. Still aus Trilogie Digitalvideos mit Sound, Gestamtlaufzeit 35 min. Foto: Erik Norkroos. Courtesy: The artist. Estnischer Pavillon, Estonian Centre for Contemporary Art, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams.
Emilie Rosalie Saal, Bambus-Orchidee, um 1910/20. Lithographie, 64x28cm. Courtesy: Corina L. Apostol / Kristina Norman, Orchidelirium, 2022. Still aus Trilogie Digitalvideos mit Sound, Gestamtlaufzeit 35 min. Foto: Erik Norkroos. Courtesy: The artist. Estnischer Pavillon, Estonian Centre for Contemporary Art, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams..

Unter dem Titel Orchidelirium. An Appetite for Abundance nähern sich die Künstler:innen Kristina Norman (*1979) und Bita Razavi (*1983 in Teheran) in Zusammen­arbeit mit der Kuratorin Corina L. Apostol (*1984) einem Themen­komplex um Kolonialismus, Botanik, Wissen­schaft und Kunst.

Ausgangspunkt ist dabei die Lebens­geschichte und das Werk von Emilie Rosalie Saal (1871-1954), einer Künstlerin und Welt­reisenden, die durch ihre Zeichnungen von Orchideen berühmt wurde. Geboren im Tartu des russischen Zaren­reichs (heute Estland) wurde sie Teil der holländischen Kolonial­elite in Niederländisch-Indien (heute Indonesien).

In Orchideen-Schaukästen dokumentieren vornehmlich historische Foto­grafien Leben und Werk der Saal, eine spinnen­artige, retro­futuristisch anmutende kinetische Skulptur im Zentrum des Pavillons spuckt Orchideen­zeichnungen aus und erinnert zugleich an Förder­bänder in Orchideen­farmen der heutigen Niederlande.

Orchidelirium. An Appetite for Abundance. Installationsansicht. Estnischer Pavillon, Estonian Centre for Contemporary Art, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Luke Walker. Courtesy: CCA Estonia
Orchidelirium. An Appetite for Abundance. Installationsansicht. Estnischer Pavillon, Estonian Centre for Contemporary Art, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Luke Walker. Courtesy: CCA Estonia.

Besonders eindrucksvoll ist eine Kurzfilm­trilogie von Kristina Norman und noch mehr eine berückend schöne Video­intervention des indonesischen Tänzers und Choreo­graphen Eko Supriyanto. [Giardini, Rietveld Pavillon, EE]

Selling Water by the River im lettischen Pavillon

Das Künstlerinnenduo Skuja Braden – Ingūna Skuja (*1965 in Lettland) und Melissa Braden (*1968 in Sacramento) – hat sich im lettischen Pavillon mit Wimmelbild­landschaft aus grotesken Bunt­keramiken häuslich eingerichtet.

Skuja Braden, Selling Water by the River, 2022. Porzellan, variable Dimension. Lettischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: © Ēriks Božis, Courtesy: © Skuja Braden (Ingūna Skuja and Melissa D. Braden)
Skuja Braden, Selling Water by the River, 2022. Porzellan, variable Dimension. Lettischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: © Ēriks Božis, Courtesy: © Skuja Braden (Ingūna Skuja and Melissa D. Braden).

Einen großen Esstisch im Zentrum, eine Küche, Badezimmer, vanity room, Schlaf­zimmer und Hausaltar weist ein ausgelegter Grundriss des Wohn­objekts aus. Darin gibt es unzählige Einzel­objekte aus buntem Porzellan, die die Häuslich­keit anekdotisch erzählend und mit Privat­mythologien beleben. Es gibt sogar ein Porzellan-Smartphone.

Im Schlafzimmer mit Doppelselbstportrait zwischen Apfelbaum und Schlange mehren sich Augenmotive als Symbol des Voyeurismus, den Skuja Braden sichtlich lustvoll bedienen.

Skuja Braden, Selling Water by the River, 2022. Porzellan, variable Dimension. Lettischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: © Ēriks Božis, Courtesy: © Skuja Braden (Ingūna Skuja and Melissa D. Braden)
Skuja Braden, Selling Water by the River, 2022. Porzellan, variable Dimension. Lettischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: © Ēriks Božis, Courtesy: © Skuja Braden (Ingūna Skuja and Melissa D. Braden).

Der Titel, „Selling Water by the River“, sorgt nicht nur dafür, dass Wasser- und Fluss­symbole die Installation leit­motivisch durchziehen, sondern erinnert auch an einen Zen-Spruch, der vermittelt, dass ein erleuchteter Lehrer seine Schüler nur ertüchtigt zu sich selber zu finden (so in etwa, ich kenne mich in diesen Dingen nicht so aus). Es macht jedenfalls ganz ungeheuren Spaß in diesem Wimmel­bild auf Entdeckungs­tour auch nach sich selbst zu gehen. [Arsenale, Artiglierie, LV]

Gut Feeling im litauischen Pavillon

Um das Trio der sehr bemerkens­werten Auftritte aus dem Baltikum voll­ständig zu machen: Zumindest für Anhänger:innen einer ersthaft skurrilen Konzept­kunst ist ein Abstecher ins Herz des Sestiere Castello zum litauschen Pavillon unvermeid­bar.

Am Campo de le gate hat Robertas Narkus (*1983), litauischer Konzept­künstler und Gründer des Vilnius Institut für Pata­physik, in zwei gegen­überliegenden Laden­lokalen einen Showroom und eine Werkstatt oder auch Labora­torium eingerichtet.

Was genau da hergestellt oder erforscht wird, weiß man nicht so recht. Auf Dosen, die ebenso end- wie sinnlos auf einem Förder­band kreisen, sind Frösche, etwas Wolken­artiges und in eigen­williger Typo­graphie der Schrift­zug „Gut Feeling 2022“ aufgebracht.

Es wird um Undaria pinnatifida gehen, eine Braun­algenart, die auf der Liste der 100 gefähr­lichsten Neobiota steht, lerne ich aus Wikipedia, anderer­seits aber nicht nur als Wakame un­verzichtbarer Bestand­teil der japanischen Küche ist, sondern auch den globali­sierten Kapitalismus unterminieren und die Menschheit vor Hungers­nöten retten wird.

Das jedenfalls legt ein kurzes Video nahe, in dem ein blau­haariger Badewannen­philosoph die Evolution, das Wunder der Fermentation und eben den globali­sierten Kapitalismus erklärt (in unter fünf Minuten, wenn ich nicht irre). Der Philosoph ist David Zilber, der als Koch und Fermentations­experte bekannt ist. [Castello, Campo de le gate, LT]

Weitere Empfehlungen

Die Venedig­biennale 2022 hat in Sachen nationaler Beiträge ein Luxus­problem: Das Niveau der Auftritte ist deutlich höher als beispiels­weise in der letzten Auflage 2019. Das macht die Auswahl entsprechend schwierig.

Dass die Arbeiten von Francis Alÿs, Simone Leigh und Zineb Sedira heraus­ragend sind, darüber gibt es – soweit ich sehe – auch in der profes­sionellen Kritik weit­gehend Einigkeit. Danach wird das Feld etwas diffus – und einige der oben empfohlenen Pavillons sind eher Außenseiter­tipps.

Ganz sicher lohnt auch der Besuch des, mit dem Goldenen Löwen ausge­zeichneten britischen Pavillons (Sonia Boyce). Der deutsche Pavillon (Maria Eichhorn) macht es den Besuchern nicht leicht, er gehört aber zu den besten Konzeptkunst-Arbeiten der Biennale (was man aber erst so recht nach­vollziehen kann, wenn man den Katalog kauft und liest).

In schlechteren Jahrgängen wäre der irische Auftritt (Niamh O’Malley) in der Liste ganz oben mit dabei. Gleiches könnte man von Latifa Echakhchs sehr poetischer Installation im Schweizer Pavillon sagen oder auch von Füsun Onurs Arbeit im türkischen Beitrag (die leider aber nur sehr knapp am Kitsch vorbei schrammt). Gleich­viel, man tut gut daran, für den Besuch dieser Biennale etwas mehr Zeit als sonst einzuplanen.

Praktische Hinweise

Die Pavillons San Marinos und Kenias sind in den offiziellen Plänen der Biennale di Venezia etwas verrutscht ein­gezeichnet. Für San Marino ist das eher egal, aber der Pavillon Kenias hat schöne Sachen. Beide sind zwei isole weiter nord­östlich zu finden als auf den Plänen markiert, San Marino direkt an den Fonda­mente Nove, knapp nordöstlich der Vaporetti-Anleger, Kenia einen Häuser­block insel­einwärts in der Calle Larga dei Boteri.

Der kroatische Pavillon an der Via Giuseppe Garibaldi besteht nur aus einem Display, der darüber informiert, wann und wo Performances (zu Gast in anderen Länder­pavillons) stattfinden. Die Infos können Sie aber einfacher online abrufen unter croatianpavilion2022.com. Die Performances, die ich gesehen habe, waren allerdings, sagen wir mal, wenig spektakulär.

Die Pavillons Chiles (Arsenale) und Griechen­lands (Giardini) sollten Sie zu besucher­armen Rand­zeiten aufsuchen. Es kann sonst zu erheblichen Warte­zeiten kommen. Für den griechischen Pavillon immerhin kann man sich online einen Timeslot reservieren: greekpavilion2022.gr – ob das dann mit dem Einlass auch funktioniert, vermag ich nicht zu sagen.