Die besten nationalen Pavillons – Biennale Venedig 2022
Ein Rundgang
Belgien, USA, Polen, Frankreich, Südafrika, Neuseeland, Niederlande, Estland, Lettland und Litauen: Ein kritischer Rundgang durch die besten Pavillons der 59. Internationalen Kunstausstellung in Venedig 2022.
Insgesamt 79 nationale Beiträge („partecipazioni nazionali“) sind auf der 59. Kunstbiennale von Venedig 2022 zusammen gekommen – von Ägypten bis Venezuela. Das ist eine kaum zu bewältigende Menge, wenn man sich nicht dreivier Tage dafür Zeit nehmen kann.
Welche Pavillons in den Giardini, den Arsenale und an anderen Spielorten in der Stadt gilt es also, auf keinen Fall zu versäumen? In der Kurzfassung für ganz eilige Menschen: Auf die Agenda gehören
- der belgische Pavillon mit einer berührenden Bestandsaufnahme resilienter Weltaneignung durch spielende Kinder,
- der Pavillon der USA mit einer mächtigen Souveränitätserklärung im Medium der Skulptur,
- der polnische Pavillon mit einer Wiederverzauberung der Welt aus Sicht einer Romnja,
- der französische Pavillon mit einem filmischen Essay übers Kino und prima Selfiesettings,
- der südafrikanische Pavillon mit gründlichen Tiefbohrungen in das Unterbewusste, eine Familiengeschichte und die Nationalgeschichte,
- der neuseeländische Pavillon mit einer Deskonstruktion von Gauguins Südseeparadies aus Sicht der Faʻafafine,
- der niederländische Pavillon mit Berührungsexperimenten in bunt-plüschiger Wohlfühllandschaft,
- der estnische Pavillon mit einer Recherche und Multimediainstallation in Sachen botanischer Kolonialismus,
- der lettische Pavillon mit einem faszinierendem Wimmelbild aus grotesken Buntkeramiken
- und der litauische Pavillon mit einem unabweisbaren Vorschlag zur Lösung der meisten Menschheitsprobleme.
The Nature of the Game im belgischen Pavillon
Seit 1999 bereits filmt der Fotograf, Maler und Multimediakünstler Francis Alÿs (*1959 in Antwerpen) auf seinen Reisen Kinder bei ihren Spielen draußen im mehr oder weniger öffentlichen Raum.
Francis Alÿs, Children’s Game #29: La roue. Lubumbashi, DR Congo, 2021, 8:43 min [353 MB]. In Zusammenarbeit mit Rafael Ortega, Julien Devaux, and Félix Blume. Lizenz: CC-BY-NC-ND, Quelle: Francis Alÿs, Children’s Game #29: La roue.
Für seine Videoinstallation im belgischen Pavillon hat Alÿs nun neuere, ab 2017 aufgenomme Kurzfilme aus der Schweiz, Belgien, dem Kongo, Mexiko oder auch Hongkong mitgebracht. Die sensiblen und – trotz des Einsatzes mehrerer Kameras – erstaunlich uninszeniert wirkenden Aufnahmen lehren eine Menge über die resiliente Weltaneignung und -bewältigung im Spiel. Und sie sind sehr berührend.
Da sind zum Beispiel Kinder im kongolesischen Lubumbashi, die Reifen, so groß wie sie selber, die Schlackenhalde einer Kobaltmine mühsam hinaufschieben, sich dann in den Reifen legen und mit atemberaubender Geschwindigkeit die Halde herunterrollen (La roue, 2021).
Oder da ist eine Variante des klassischen Fangenspiels im mexikanischen Malinalco gefilmt – Anfang April 2021: Contagio. Die Kinder tragen MNS in verschiedenen Farben, nur rot ist reserviert für die Abgeschlagenen, „Infiziert!“ rufen sie beim Abschlag. Die gefeierte, zuletzt übrig Gebliebene ist die „Überlebende“ der Seuche.
Francis Alÿs, Children’s Game #25: Contagio. Malinalco, Mexico, 2021, 5:30 min [217 MB]. In Zusammenarbeit mit Julien Devaux, Elena Pardo, und Félix Blume. Lizenz: CC-BY-NC-ND, Quelle: Francis Alÿs, Children’s Game #25: Contagio.
Eine Auswahl kleinformatiger Gemälde mit Szenerien aus Afghanistan, Mexiko, China oder Israel sind in den zwei Seitenräumen eingangs des Pavillons gehängt und erinnern an die oft von physischer oder struktureller Gewalt geprägten Umwelt dieser Kinderspiele.
Die im Pavillon gezeigten Videos und frühere aus der Serie sind online frei zugänglich: Francis Alÿs – Childrens Games. [Giardini, BE]
Sovereignty im Pavillon der USA
Der Pavillon der USA ist mit einer Fassade aus Stroh und Holz kaschiert, die an einen westafrikanischen Palast der 1930er Jahre erinnern soll – oder an das Klischee davon, spezifischer noch an Bauten der Kolonialausstellung im Paris des Jahres 1931, die einen westafrikanischen Palast vorstellen sollten.
Simone Leigh: Façade, 2022. Stroh, Stahl und Holz, variable Dimensionen / Satellite, 2022. Bronze, 7.3 × 3 × 2.3 m. Pavillion der USA, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Timothy Schenck, Courtesy: The artist und Matthew Marks Gallery, © Simone Leigh.
Davor steht eine mächtige Bronze, deren Form auf die D’mba anspielt, einem Kopfschmuck in Gestalt einer weiblichen Büste, der in traditionellen Ritualen der Baga Guineas bei der Kontaktaufnahme mit den Vorfahren Verwendung findet (und die künstlerische Avantgarde im Paris der 1930er Jahre fasziniert hat). Nur dass dieser Kopfschmuck hier ins Monumentale vergrößert ist (mehr als sieben Meter hoch) und der Kopf der Büste zu einem kreisförmigen, schüsselartigen Element abstrahiert ist.
Schon dieses Entrée vermittelt wesentliche Prinzipien und Elemente, die die Kunst von Simone Leigh (*1967 in Chicago) kennzeichnen: Bedeutungsverschiebung durch Monumentalisierung (sei es durch Skalierung der Objekte, sei es durch das Material), Aufnahme der Kunst Afrikas oder der afrikanischen Diaspora, der weibliche Körper in abstrahierter Form, Bezugnahme auf die Architektur bis hin zur Verschmelzung von abstrahierten menschlichen Körpern und architektonischen Formen, die Mobilisierung vielfältiger historischer und kunsthistorischer Referenzen, um eine unabschließbare, aber nicht beliebige Bedeutungsoffenheit zu erzeugen. So in etwa.
Im Innern des Pavillons zeigt Leigh acht weitere Plastiken, die allesamt eigens für diese Ausstellung entstanden sind (sowie eine aktuelle Videoarbeit, die allerdings nicht recht überzeugen kann).
Simone Leigh: Sovereignty, Ausstellungsansicht / Sentinel, 2022. Bronze, 492.8 × 99.1 × 59.1 cm. Pavillon der USA, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Timothy Schenck, Courtesy: The artist und Matthew Marks Gallery, © Simone Leigh.
Im Statement der Kuratorin (Eva Respini) heíßt es: „Die Arbeiten in Sovereignty erweitern zusammen die fortlaufende Untersuchung der Künstlerin zum Thema Selbstbestimmung. […] Souverän zu sein bedeutet, nicht der Autorität eines anderen, den Wünschen oder dem Blick eines anderen unterworfen zu sein, sondern vielmehr Autor:in der eigenen Geschichte zu sein.“
Simone Leigh nimmt von dieser Biennale einen Goldenen Löwen als beste Künstlerin der Zentralausstellung mit nach Hause. [Giardini, US]
Re-enchanting the World im polnischen Pavillon
Sehr bunt, sehr beeindruckend und ebenfalls – wie viele der Länderbeiträge auf dieser Biennale – unterwegs mit dem Vorsatz, Autor:in der eigenen Geschichte zu sein, ist der Auftritt der Bildhauerin, Malerin und Roma-Aktivistin Małgorzata Mirga-Tas (*1978 in Zakopane) im polnischen Pavillon.
Małgorzata Mirga-Tas, Re-enchanting the World, 2022. Ausstellungsansicht, Polnischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Daniel Rumiancew, Courtesy: Zachęta — National Gallery of Art.
Mirga-Tas hat sich von den Monatsfresken im Renaissance-Palazzo Schifanoia in Ferrara inspirieren lassen für ihre wandfüllenden Collagen aus Textil und Malerei.
Zwölf Monatsbilder sind das, die obere Reihe erzählt von den mythischen Wanderungen der Roma durch Asien und Europa, dabei stereotypische Darstellung (insbesondere des frühneuzeitlichen Kupferstechers Jacques Callot) aufgreifend und umwertend.
Die mittlere Reihe zeigt auf monochromen Grund Tierkreissymbole und Portraits von Romnja, die untere Reihe Genreszenen und Landschaftsdarstellungen aus Czarna Góra und anderen Roma-Gemeinden im Tatra-Gebirge.
Małgorzata Mirga-Tas, Re-enchanting the World, 2022. Ausstellungsansicht, Polnischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Daniel Rumiancew, Courtesy: Zachęta — National Gallery of Art.
Die Rede von der „Wiederverzauberung der Welt“ im Titel der Installation bezieht sich nicht nur auf die magischen Elemente in der mittleren Bildreihe, sondern ist auch einem Buchtitel der feministischen Kapitalismuskritikerin Silvia Federici entlehnt. [Giardini, PL]
Dreams Have No Titles im französischen Pavillon
Die Fotografin und Videokünstlerin Zineb Sedira (*1963 in Gennevilliers, lebt und arbeitet in London) hat im französischen Pavillon ein Filmstudio und einen Kinosaal eingerichtet und präsentiert einen ebenso vielschichtigen wie humorvollen, autobiographischen Filmessay über das Kino, die Musik und den Tanz.
Zineb Sedira, Dreams have no titles, 2022. Französischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Marco Cappelletti, Courtesy: La Biennale di Venezia.
Aufgewachsen in Paris als Kind aus Algerien eingewanderter Eltern und selbst in den 1980er Jahren nach England migriert, sichtet Sedira Filmarchive nach Material, das von Migration, Rassismus und antikolonialistischem Widerstand handelt. Und sie eignet sich das Material durch Reenactments an, d.h. Filmszenen spielt sie mit sich selbst in Haupt- oder Nebenrolle sowie Verwandten und Freunden nach.
Dabei greift sie vornehmlich auf die Filme der nach der algerischen Unabhängigkeit gegründeten „Casbah Films“ zurück: Pontecorvos Schlacht um Algier (1966), Viscontis Der Fremde (1967) und Les mains libre (1964) – ein lange Zeit in den Archiven verschwundener, halbstündiger Dokumentarfilm über den algerischen Unabhängigkeitskampf.
Aber Sedira nimmt auch Bezug etwa auf Ettore Scolas Le Bal – Der Tanzpalast (1983), dessen Kulisse im zentralen Raum des Pavillons eingerichtet ist – mit Bar, leider ohne Ausschank, es gibt immer Luft nach oben. Jedenfalls gehört die französische Vertretung sicher auch deshalb zu den Publikumslieblingen dieser Biennale, weil man in den Kulissen hübsche Selfies machen kann.
Zineb Sedira, Dreams have no titles, 2022. Französischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Marco Cappelletti, Courtesy: La Biennale di Venezia.
Die Jury der Biennale hatte für Sediras französischen Pavillon eine besondere Erwähnung übrig, „in Anerkennung und Dankbarkeit für den langwährenden Gedankenaustausch und die Solidarität als Idee des Aufbaus von communities in der Diaspora; für den Blick auf die komplexe Geschichte des Kinos jenseits des Westens und für die vielen Geschichten des Widerstands in ihrer Arbeit.“ [Giardini, FR]
Into the Light im südafrikanischen Pavillon
Starke Arbeiten von drei Künstler:innen versammelt der südafrikanische Pavillon in den Arsenale unter dem Titel Into the Light: Positionsbestimmungen durch Tiefbohrungen in das Unterbewusste, in eine Familiengeschichte und in die Geschichte von Kolonialismus und Apartheid im südlichen Afrika.
Roger Ballen, Theatre of the Apparitions. Pavillon Südafrikas, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Andrea Avezzù, Courtesy: La Biennale di Venezia.
Der als Fotograf berühmt gewordene Roger Ballen – 1950 in New York geboren, lebt seit den 1970er Jahren in Südafrika – hat Arbeiten aus der Serie Theatre of the Apparitions mitgebracht. Die eindrucksvollen, albtraumhaften oder auch archetypischen Darstellungen von zerbrochenen Menschenfiguren und Geistern, engelhaften Wesen, Nagern und Fledertieren sind auf Leuchtkästen aufgebrachte Fotografien von Zeichnungen und zwischen 2007 und 2010 entstanden.
Vom Multimediakünstler Phumulani Ntuli (*1986 in White City, Soweto) sind Malerei mit Collage-Elementen und Videoarbeiten aus den letzten zwei Jahren vor Ort: Der Trickfilm Godide verfolgt den fiktiven Sohn des Kaisers Ngungunyane, dem letzten Herrscher des Gaza-Reichs in Südostafrika, auf seiner Reise aus der Verbannung zurück in die – heute mosambikanische – Heimat.
Lebohang Kganye, B(l)ack to Fairy Tales, 2011. Pavillon Südafrikas. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Andrea Avezzù, Courtesy: La Biennale di Venezia.
Die junge Künstlerin Lebohang Kganye (*1990 in Johannesburg) schließlich zeigt mit B(l)ack to Fairy Tales assoziationsmächtige Fotografien, individual- und familiengeschichtliche Sujets vor dem Hintergrund der südafrikanischen Geschichte und des Apartheidregimes. [Arsenale, ZA]
Paradise Camp im neuseeländischen Pavillon
Die neuseeländische Künstlerin Yuki Kihara (*1975, lebt und arbeitet in Samoa) dekonstruiert mit sehr viel Charme in ihrem vielschichtigen Paradise Camp das Südseeparadies Paul Gauguins.
Yuki Kihara, Paradise Camp, 2022. Neuseeländischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Andrea Avezzù, Courtesy: La Biennale di Venezia.
Kihara, die zu den Faʻafafine gehört, dem dritten Geschlecht Samoas, präsentiert in ihrem Gegenentwurf des Paradieses zwölf fotografische Reenactments von Gauguin-Gemälden. Der cast für die in übersaturierten Farben (Tourismuswerbung parodierend) abgebildeten Tableaux vivants besteht ebenfalls aus Faʻafafine.
In einer fünfteiligen Talkshow (First Impressions: Paul Gauguin) wirft Kihara zudem einen frischen Blick auf Gauguins Gemälde und übernimmt für ein Interview selbst die Rolle des Impressionisten.
Die fotografischen Arbeiten und die Videos werden kontextualisiert durch Auszüge aus Kiharas Recherchearchiv (Vārchive getauft): Historische Fotos, Zeitungsausrisse, Dokumente, Bücher, die von der Kolonialisierung und Christianisierung Samoas zeugen, vom Widerstand, aber auch von der Diskriminierung der Faʻafafine.
Yuki Kihara, Paradise Camp, 2022. Neuseeländischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Andrea Avezzù, Courtesy: La Biennale di Venezia.
Der Vergleich von historischen Fotografien und Abbildungen von Gauguins Gemälden zeigt dabei, dass der Maler, der nie auf Samoa war, teilweise fotografische Vorlagen aus Samoa für seine Motive nutzte.
Einen guten Einblick in das ebenso lehrreiche wie witzige Paradise Camp vermittelt eine virtuelle Tour bei www.nzatvenice.com. [Arsenale, NZ]
When the body says Yes im niederländischen Pavillon
Der Mondriaan Fund, zuständig für die Biennalebeschickung durch die Niederlande, hat heuer seine traditionelle Spielstätte, den Rietveld Pavillon in den Giardini, der estnischen Vertretung überlassen. Der niederländische Pavillon ist stattdessen in die profanierte Abteikirche della Misericordia im Sestiere Cannaregio eingezogen – eine Win-win-Geschichte, wie noch zu sehen sein wird.
melanie bonajo, When the body says Yes, 2022. Niederländischer Pavillon, Mondriaan Fund, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Peter Tijhuis, Courtesy: The artist.
Die Chiesetta della Misericordia wird ursprünglich nicht als Tempel der positiven Körpererfahrung erbaut worden sein. Umso hübscher fügt sich die bunt-plüschige Hügellandschaft ein, die melanie bonajo (*1978 in Heerlen) in dem Kirchensaal angelegt hat.
Angenehm darin hineingelümmelt kann man When the body says Yes anschauen: Eine Videoarbeit von bonajo, in der von Intimitätserfahrungen erzählt und Workshops mit „sozialen Berührungsexperimenten“ inszeniert werden.
bonajo: „Zu lernen wie man ein ‚Ja‘ und ein ‚Nein‘ im Körper fühlt, ist eine der Grundlagen der Somatik. Durch Vertrauensbildung, durch die Schaffung sicherer Räume, durch die Wiederherstellung der Würde des Selbst und durch das Fühlen unseres Körpers können wir lernen, wie sich verkörpertes Einverständnis anfühlt.“
‚Big Spoon‘, film still aus melanie bonajo, When the body says Yes, 2022. Niederländischer Pavillon, Mondriaan Fund, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Courtesy: The artist.
Die Videoaufnahmen sind naturgemäß vor der Pandemie entstanden – bonajo: „Lasst uns wegkommen von unserer entkörperlichten Zoom-Ermattung“. [Cannaregio, Chiesetta della Misericordia, NL]
Orchidelirium im estnischen Pavillon
Der estnische Beitrag revanchiert sich für die Überlassung des Rietveld Pavillons bei den niederländischen Kolleg:innen mit einem Rechercheprojekt und einer Multimediainstallation, die auch ein Stück holländischer Kolonialgeschichte in den Blick nehmen.
Emilie Rosalie Saal, Bambus-Orchidee, um 1910/20. Lithographie, 64x28cm. Courtesy: Corina L. Apostol / Kristina Norman, Orchidelirium, 2022. Still aus Trilogie Digitalvideos mit Sound, Gestamtlaufzeit 35 min. Foto: Erik Norkroos. Courtesy: The artist. Estnischer Pavillon, Estonian Centre for Contemporary Art, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams..
Unter dem Titel Orchidelirium. An Appetite for Abundance nähern sich die Künstler:innen Kristina Norman (*1979) und Bita Razavi (*1983 in Teheran) in Zusammenarbeit mit der Kuratorin Corina L. Apostol (*1984) einem Themenkomplex um Kolonialismus, Botanik, Wissenschaft und Kunst.
Ausgangspunkt ist dabei die Lebensgeschichte und das Werk von Emilie Rosalie Saal (1871-1954), einer Künstlerin und Weltreisenden, die durch ihre Zeichnungen von Orchideen berühmt wurde. Geboren im Tartu des russischen Zarenreichs (heute Estland) wurde sie Teil der holländischen Kolonialelite in Niederländisch-Indien (heute Indonesien).
In Orchideen-Schaukästen dokumentieren vornehmlich historische Fotografien Leben und Werk der Saal, eine spinnenartige, retrofuturistisch anmutende kinetische Skulptur im Zentrum des Pavillons spuckt Orchideenzeichnungen aus und erinnert zugleich an Förderbänder in Orchideenfarmen der heutigen Niederlande.
Orchidelirium. An Appetite for Abundance. Installationsansicht. Estnischer Pavillon, Estonian Centre for Contemporary Art, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Luke Walker. Courtesy: CCA Estonia.
Besonders eindrucksvoll ist eine Kurzfilmtrilogie von Kristina Norman und noch mehr eine berückend schöne Videointervention des indonesischen Tänzers und Choreographen Eko Supriyanto. [Giardini, Rietveld Pavillon, EE]
Selling Water by the River im lettischen Pavillon
Das Künstlerinnenduo Skuja Braden – Ingūna Skuja (*1965 in Lettland) und Melissa Braden (*1968 in Sacramento) – hat sich im lettischen Pavillon mit Wimmelbildlandschaft aus grotesken Buntkeramiken häuslich eingerichtet.
Skuja Braden, Selling Water by the River, 2022. Porzellan, variable Dimension. Lettischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: © Ēriks Božis, Courtesy: © Skuja Braden (Ingūna Skuja and Melissa D. Braden).
Einen großen Esstisch im Zentrum, eine Küche, Badezimmer, vanity room, Schlafzimmer und Hausaltar weist ein ausgelegter Grundriss des Wohnobjekts aus. Darin gibt es unzählige Einzelobjekte aus buntem Porzellan, die die Häuslichkeit anekdotisch erzählend und mit Privatmythologien beleben. Es gibt sogar ein Porzellan-Smartphone.
Im Schlafzimmer mit Doppelselbstportrait zwischen Apfelbaum und Schlange mehren sich Augenmotive als Symbol des Voyeurismus, den Skuja Braden sichtlich lustvoll bedienen.
Skuja Braden, Selling Water by the River, 2022. Porzellan, variable Dimension. Lettischer Pavillon, 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: © Ēriks Božis, Courtesy: © Skuja Braden (Ingūna Skuja and Melissa D. Braden).
Der Titel, „Selling Water by the River“, sorgt nicht nur dafür, dass Wasser- und Flusssymbole die Installation leitmotivisch durchziehen, sondern erinnert auch an einen Zen-Spruch, der vermittelt, dass ein erleuchteter Lehrer seine Schüler nur ertüchtigt zu sich selber zu finden (so in etwa, ich kenne mich in diesen Dingen nicht so aus). Es macht jedenfalls ganz ungeheuren Spaß in diesem Wimmelbild auf Entdeckungstour auch nach sich selbst zu gehen. [Arsenale, Artiglierie, LV]
Gut Feeling im litauischen Pavillon
Um das Trio der sehr bemerkenswerten Auftritte aus dem Baltikum vollständig zu machen: Zumindest für Anhänger:innen einer ersthaft skurrilen Konzeptkunst ist ein Abstecher ins Herz des Sestiere Castello zum litauschen Pavillon unvermeidbar.
Am Campo de le gate hat Robertas Narkus (*1983), litauischer Konzeptkünstler und Gründer des Vilnius Institut für Pataphysik, in zwei gegenüberliegenden Ladenlokalen einen Showroom und eine Werkstatt oder auch Laboratorium eingerichtet.
Was genau da hergestellt oder erforscht wird, weiß man nicht so recht. Auf Dosen, die ebenso end- wie sinnlos auf einem Förderband kreisen, sind Frösche, etwas Wolkenartiges und in eigenwilliger Typographie der Schriftzug „Gut Feeling 2022“ aufgebracht.
Es wird um Undaria pinnatifida gehen, eine Braunalgenart, die auf der Liste der 100 gefährlichsten Neobiota steht, lerne ich aus Wikipedia, andererseits aber nicht nur als Wakame unverzichtbarer Bestandteil der japanischen Küche ist, sondern auch den globalisierten Kapitalismus unterminieren und die Menschheit vor Hungersnöten retten wird.
Das jedenfalls legt ein kurzes Video nahe, in dem ein blauhaariger Badewannenphilosoph die Evolution, das Wunder der Fermentation und eben den globalisierten Kapitalismus erklärt (in unter fünf Minuten, wenn ich nicht irre). Der Philosoph ist David Zilber, der als Koch und Fermentationsexperte bekannt ist. [Castello, Campo de le gate, LT]
Weitere Empfehlungen
Die Venedigbiennale 2022 hat in Sachen nationaler Beiträge ein Luxusproblem: Das Niveau der Auftritte ist deutlich höher als beispielsweise in der letzten Auflage 2019. Das macht die Auswahl entsprechend schwierig.
Dass die Arbeiten von Francis Alÿs, Simone Leigh und Zineb Sedira herausragend sind, darüber gibt es – soweit ich sehe – auch in der professionellen Kritik weitgehend Einigkeit. Danach wird das Feld etwas diffus – und einige der oben empfohlenen Pavillons sind eher Außenseitertipps.
Ganz sicher lohnt auch der Besuch des, mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten britischen Pavillons (Sonia Boyce). Der deutsche Pavillon (Maria Eichhorn) macht es den Besuchern nicht leicht, er gehört aber zu den besten Konzeptkunst-Arbeiten der Biennale (was man aber erst so recht nachvollziehen kann, wenn man den Katalog kauft und liest).
In schlechteren Jahrgängen wäre der irische Auftritt (Niamh O’Malley) in der Liste ganz oben mit dabei. Gleiches könnte man von Latifa Echakhchs sehr poetischer Installation im Schweizer Pavillon sagen oder auch von Füsun Onurs Arbeit im türkischen Beitrag (die leider aber nur sehr knapp am Kitsch vorbei schrammt). Gleichviel, man tut gut daran, für den Besuch dieser Biennale etwas mehr Zeit als sonst einzuplanen.
Praktische Hinweise
Die Pavillons San Marinos und Kenias sind in den offiziellen Plänen der Biennale di Venezia etwas verrutscht eingezeichnet. Für San Marino ist das eher egal, aber der Pavillon Kenias hat schöne Sachen. Beide sind zwei isole weiter nordöstlich zu finden als auf den Plänen markiert, San Marino direkt an den Fondamente Nove, knapp nordöstlich der Vaporetti-Anleger, Kenia einen Häuserblock inseleinwärts in der Calle Larga dei Boteri.
Der kroatische Pavillon an der Via Giuseppe Garibaldi besteht nur aus einem Display, der darüber informiert, wann und wo Performances (zu Gast in anderen Länderpavillons) stattfinden. Die Infos können Sie aber einfacher online abrufen unter croatianpavilion2022.com. Die Performances, die ich gesehen habe, waren allerdings, sagen wir mal, wenig spektakulär.
Die Pavillons Chiles (Arsenale) und Griechenlands (Giardini) sollten Sie zu besucherarmen Randzeiten aufsuchen. Es kann sonst zu erheblichen Wartezeiten kommen. Für den griechischen Pavillon immerhin kann man sich online einen Timeslot reservieren: greekpavilion2022.gr – ob das dann mit dem Einlass auch funktioniert, vermag ich nicht zu sagen.