Kulturraum NRW


Die Goldenen Löwen – Biennale Venedig 2022

Goldene Löwen für Großbritannien, Simone Leigh, Katharina Fritsch und Cecilia Vicuña

Die 59. Kunstbiennale in Venedig zeichnet den britischen Pavillon als besten nationalen Beitrag aus. Den Preis der besten Künstlerin nimmt Simone Leigh mit nach Hause. Vielversprechendster junger Künstler der Biennale ist Ali Cherri. Goldene Löwen fürs Lebenswerk gehen an Katharina Fritsch und Cecilia Vicuña.

Sonia Boyce: Feeling Her Way. Britischer Pavillon. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Marco Cappelletti, Courtesy: La Biennale di Venezia
Sonia Boyce: Feeling Her Way. Britischer Pavillon. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Marco Cappelletti, Courtesy: La Biennale di Venezia.

Der als bester nationale Beitrag zur Venedig­biennale 2022 ausgezeichnete britische Pavillon beherbergt eine sechs­teilige Installation der Multimedia­künstlerin Sonia Boyce (Kuratorin: Emma Ridgway).

Unter dem Titel Feeling Her Way zeigt Boyce farb­gefilterte Ein- bis Vierkanal-Videos von fünf Musiker­innen, die im Quartett, Duett oder Solo vornehmlich vokal improvisieren und experimentieren: Errollyn Wallen, Jacqui Dankworth, Poppy Ajudha, Sofia Jernberg und Tanita Tikaram.

An den Wänden des Pavillons sind hübsch designte Wallpaper montiert, die parkettierte, fragmentarische Studio­impressionen und Farbfelder kombinieren. Die Farbfelder korrespondieren mit kleinen, quadratischen Leinwänden, die beiläufig den Wänden appliziert sind.

Gold- oder messingfarbene, kristall­förmige Dingens stehen im Raum rum – und dienen dann als Sitz­gelegenheiten – oder hängen von den Wänden. Sie sollen an Pyrit („Katzengold“) erinnern, können aber auch Assoziationen zu Diffusoren im Studio wecken.

Der goldfarben ausgeschlagene rückwärtige Querraum des Pavillons zeigt Stücke aus der Devotional Collection: Platten-, CD- und Kassetten-Cover sowie Fotografien, die Boyce seit 1999 zusammenträgt und die den Beitrag schwarzer britischer Musikerinnen zur internationalen Kultur dokumentieren.

Sonia Boyce: Feeling Her Way – Devotional Collection. Britischer Pavillon. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Marco Cappelletti, Courtesy: La Biennale di Venezia
Sonia Boyce: Feeling Her Way – Devotional Collection. Britischer Pavillon. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Marco Cappelletti, Courtesy: La Biennale di Venezia.

Für Boyce, so erläutert ein Wandtext, bilden die Stimmen schwarzer britischer Frauen „den emotionalen Soundtrack zum Leben von Millionen Menschen“, und doch werde die Erinnerung daran, wer diese individuellen Frauen sind (oder waren), oft zu gering geschätzt.

In der Begründung der Biennale-Jury heißt es, Sonia Boyce schlage „eine andere Lektüre von Geschichten im Medium des Akustischen vor“. „In der Zusammen­arbeit mit anderen schwarzen Frauen“ entfalte „sie eine Fülle von zum Schweigen gebrachten Geschichten“. Boyce schlage „eine sehr zeitgemäße Sprache in Bezug auf fragmentierte Formen vor, die der Betrachter beim Erleben des Pavillons zusammensetzen kann“.

Die Auszeichnung des britischen Pavillons kommt dennoch etwas überraschend. Nicht nur weil man die designerische Dimension der Installation als etwas überbordend ansehen kann, sondern auch weil es eine Reihe von anderen, sehr starken Länder­pavillons auf dieser Biennale gibt: Die besten nationalen Pavillons der Biennale Venedig 2022.

Britischer Pavillon, Goldener Löwe für den besten nationalen Beitrag. Preisverleihung Biennale Arte 2022. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Andrea Avezzù, Courtesy: La Biennale di Venezia
Britischer Pavillon, Goldener Löwe für den besten nationalen Beitrag. Preisverleihung Biennale Arte 2022. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Andrea Avezzù, Courtesy: La Biennale di Venezia.

Gleichviel, vielleicht kann man diesen Goldenen Löwen als eine Art Auszeichnung fürs Lebenswerk nehmen. Sonia Boyce, geboren 1962 in London, gilt seit den 1980er Jahren als eine der zentralen Figuren der „British black art movement“. Seit 2016 ist sie Mitglied der Royal Academy und unterrichtet heute „Black Art & Design“ an der University of the Arts in London. Sie ist die erste schwarze Künstlerin, die Groß­britannien auf der Biennale vertritt. Und es ist das erste Mal, dass der britische Beitrag zur Venedig­biennale mit einem Goldenen Löwen bedacht wird.

„Spezielle Erwähnungen“ durch die Jury – eine Art Trostpreis, für den man zwar kein goldenes oder silbernes Löwen­stehrumchen, aber eine Menge Aufmerk­samkeit und Renommé bekommt – weisen auf den französischen Pavillon, der von der Foto- und Video­künstlerin Zineb Sedira bespielt wird, sowie auf den Pavillon Ugandas, der Arbeiten von Acaye Kerunen und Collin Sekajugo zeigt.

Goldener Löwe für die beste Künstlerin: Simone Leigh

Manchem mag der Pavillon der USA als der stärkste Länder­beitrag dieser Biennale erscheinen – mit einem spektakulären Auftritt der 1967 in Chicago geborenen Bildhauerin und Multimedia­künstlerin Simone Leigh.

Mit einem Goldenen Löwen wird Leigh aber für ihre Skulptur Brick House (2019) als beste Künstlerin der 59. Internationalen Kunst­ausstellung ausgezeichnet. Die monumentale, fast fünf Meter hohe Bronze steht eingangs der Zentral­ausstellung in den Arsenale.

Simone Leigh, Brick House, 2019. Bronze, 488 x 279 x 279 cm. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Roberto Marossi, Courtesy: La Biennale di Venezia
Simone Leigh, Brick House, 2019. Bronze, 488 x 279 x 279 cm. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Roberto Marossi, Courtesy: La Biennale di Venezia.

Das Werk ist entstanden als Auftragswerk für die New Yorker High Line Art, deren Chefkuratorin Cecilia Alemani ist – die künst­lerische Direktorin dieser Biennale. Es zeigt eine Frau in Halbfigur, deren Kleid an ein Haus aus Lehmziegel erinnert. Die Arbeit ist Teil einer Werkserie, Anatomy of Architecture, in der Simone Leigh seit 2016 Darstellungen menschlicher Körper und architek­tonische Formen verschmelzen lässt.

In der Begründung der Jury heißt es, die Auszeichnung gebe es für „die rigoros recherchierte, virtuos umgesetzte und kraftvoll überzeugende, monumentale skulpturale Eröffnung“ der Ausstellung in den Arsenale.

Spezieller Erwähnungen der Jury konnten sich Shuvinai Ashoona und Lynn Hershman Leeson erfreuen.

Silberner Löwe für einen jungen Künstler: Ali Cherri

Ali Cherri, Of Men and Gods and Mud, 2022. Dreikanal-Videoinstallation, 18 min. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Roberto Marossi, Courtesy: La Biennale di Venezia
Ali Cherri, Of Men and Gods and Mud, 2022. Dreikanal-Videoinstallation, 18 min. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Roberto Marossi, Courtesy: La Biennale di Venezia.

Einen Silbernen Löwen als viel­versprechender junger Künstler nimmt unterdessen der 1976 in Beirut geborene Bildhauer und Multimedia­künstler Ali Cherri mit nach Hause.

Im Zentrum seines starken Auftritts in den Arsenale steht eine Dreikanal-Video­installation Of Men and Gods and Mud (2022), in der Arbeiter – wenn ich recht verstehe, im Nordsudan – Lehmziegel aus dem Schlamm gewinnen. Auf der Tonspur werden Bezüge zu Schöpfungs­mythen verschiedener Kulturen aufgemacht, der Mensch sei von den Göttern aus Schlamm oder Lehm geformt.

Wenn aber die Götter den Menschen nach ihrem Bilde geformt, und sie ihn aus Schlamm geformt haben, folgt daraus nicht, dass die Götter selbst aus Schlamm gemacht sind? Abbilder von drei solcher schlamm­geborenen Götter, Titans (2022), hat Cherri nach Venedig mitgebracht.

Ali Cherri, Titans, 2022. Terrakotta, Holz, Metall, Höhe je 180 cm. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Roberto Marossi, Courtesy: La Biennale di Venezia
Ali Cherri, Titans, 2022. Terrakotta, Holz, Metall, Höhe je 180 cm. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams. Foto: Roberto Marossi, Courtesy: La Biennale di Venezia.

Die Jury und die Löwen

Die Goldenen und Silbernen Löwen für den besten nationalen Beitrag, die beste Künstlerin der Zentral­ausstellung und für einen viel­versprechenden jungen Künstler werden zu Beginn jeder Kunst­biennale von einer Jury vergeben.

Zur 59. Kunstbiennale tagte eine fünfköpfige Jury unter dem Vorsitz von Adrienne Edwards, der Chef­kuratorin des Whitney Museum of American Art. Mit dabei war die Direktorin des Frankfurter Museums für Moderne Kunst, Susanne Pfeffer. Die Löwen werden erst seit 1986 auf der Kunst­­biennale von Venedig ausgeteilt, übernommen von der Kino­­biennale, wo es die Löwen schon seit 1949 gibt.

Die Goldenen Löwen für das Lebenswerk vergibt das Direktorium der Biennale auf Vorschlag der Biennale-Kuratorin. Sie werden bereits im Vorfeld der Biennale bekannt gegeben.

Goldener Löwe fürs Lebenswerk: Katharina Fritsch

Katharina Fritsch. Foto/Rechte: Janna Grak / Biennale di Venezia
Katharina Fritsch. Foto/Rechte: Janna Grak / Biennale di Venezia.

Ein Goldener Löwe fürs Lebenswerk geht an die nordrhein-westfälische Künstlerin Katharina Fritsch.

Fritschʼ Beitrag auf dem Feld der Gegenwarts­kunst, besonders der Skulptur, sei unvergleichlich, begründet Alemani ihren Vorschlag zur Auszeichnung. Fritschʼ Arbeiten, zugleich „hyper­realistisch und phantasievoll“, erzeugen ein Gefühl, „als wenn man Monumente einer außer­irdischen Zivilisation sähe oder Arte­fakte, die in einem seltsamen, posthumanen Museum ausgestellt“ seien.

Katharina Fritsch, geboren 1956 in Essen, lebt und arbeitet in Wuppertal und Düsseldorf. Vor allem ihre groß­formatigen Skulpturen in monochromer Farbgebung finden seit den 1980er Jahren inter­nationale Aufmerksamkeit.

In Venedig war Fritsch bereits mehrfach mit Arbeiten vertreten: In der Zentral­ausstellung der 48. Biennale 1999 (Rattenkönig) und in der 54. Auflage 2011 (Sechs Stilleben). Der deutsche Pavillon in Venedig zeigte 1995 ihre raum­greifende Installation Museum.

Heuer leitet ihr monumentaler grüner Elefant (1987) in der Rotunde des Zentralpavillons die 59. Internationale Kunstausstellung ein.

Katharina Fritsch, Elefant, 1987. Polyester, Holz, Farbe, 420 × 160 × 380 cm. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams, mit Unterstützung durch das Institut fur Auslandsbeziehungen – ifa. Foto: Marco Cappelletti, Courtesy: La Biennale di Venezia
Katharina Fritsch, Elefant, 1987. Polyester, Holz, Farbe, 420 × 160 × 380 cm. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams, mit Unterstützung durch das Institut fur Auslandsbeziehungen – ifa. Foto: Marco Cappelletti, Courtesy: La Biennale di Venezia.

Goldener Löwe fürs Lebenswerk: Cecilia Vicuña

Einen weiteren Goldenen Löwen fürs Lebenwerk sammelt die chilenische Künstlerin und Dichterin Cecilia Vicuña ein.

Vicuña, so Alemani in ihrer Begründung, mache eine „prekäre Kunst“ („arte precario“ ist ein Begriff, den Vicuña selbst für ihre Arbeiten geprägt hat), „die ebenso intim wie kraftvoll“ sei. Seit Jahr­zehnten sei sie „ihren eigenen Weg gegangen, hartnäckig, mit Demut und Umsicht, viele der jüngsten öko­logischen sowie feministischen Debatten vorwegnehmend und neue private und kollektive Mytho­logien entwerfend“.

Cecilia Vicuña im Museo Nacional de Bellas Artes, Chile. Foto/Rechte: Cecilia Vicuña, Quelle: Wikimedia commons, Lizenz: CC BY 4.0
Cecilia Vicuña im Museo Nacional de Bellas Artes, Chile. Foto/Rechte: Cecilia Vicuña, Quelle: Wikimedia commons, Lizenz: CC BY 4.0.

Cecilia Vicuña, geboren 1948 in Santiago de Chile, lebt und arbeitet heute in New York und Santiago. Sie ist als Dichterin ebenso geachtet wie als bildende Künstlerin. Ihre Arbeiten greifen Traditionen indigener Kulturen Süd­amerikas auf, etwa mit Installationen und Performances, die die Knoten­schrift (Quipu) der Inka mobilisieren.

In Venedig war Vicuña bislang nicht vertreten. Jetzt zeigt die Zentralausstellung ihre Malerei vornehmlich aus den 1970er Jahren sowie eine ortsspezifische Installation NAUfraga (2022).

Cecilia Vicuña, NAUfraga, 2022. Ortspezifische Installation, Basuritas (Schutt), Zweige, Plastik, Metall, Stäbe, improvisatorische Materialien und kleine „precarios“, variable Dimensionen. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams, mit Unterstützung durch Lehmann Maupin. Foto: Marco Cappelletti, Courtesy: La Biennale di Venezia
Cecilia Vicuña, NAUfraga, 2022. Ortspezifische Installation, Basuritas (Schutt), Zweige, Plastik, Metall, Stäbe, improvisatorische Materialien und kleine „precarios“, variable Dimensionen. 59. Internationale Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams, mit Unterstützung durch Lehmann Maupin. Foto: Marco Cappelletti, Courtesy: La Biennale di Venezia.

Die Löwen der letzten Biennale

Auf der letzten Biennale, 2019, ging der Goldene Löwe für den besten nationalen Beitrag an den litauischen Pavillon mit der Performance Sun & Sea der Filmemacherin Rugilė Barzdžiukaitė (*1983), der Schrift­stellerin Vaiva Grainytė (*1984) und der Komponistin Lina Lapelytė (*1984). Als bester Künstler der Zentral­ausstellung wurde US-amerikanischen Multimedia­künstler Arthur Jafa (*1960) ausgezeichnet.

Einen silbernen Löwen als „viel­­versprechende junge Künstlerin“ nahm die zyprische Multimedia­künstlerin Haris Epaminonda (*1980) mit nach Hause. Der Goldene Löwe fürs Lebenswerk der 58. Kunst­biennale Venedig ging an den US-amerikanischen Künstler, Autor und Aktivisten Jimmie Durham (1940-2021): Ausführliches zu den Goldenen Löwen 2019.