Kulturraum NRW


Victor Hugo auf Guernsey, 1. Teil: Exil

„Felsen der Freiheit“

Am 31. Oktober 1855 landet Victor Hugo auf Guernsey an. Auf dem „Felsen der Gastfreundschaft und der Freiheit“ lebt er 15 Jahre im Exil und in erbitterter Feindschaft zum Regime Napoléons III.

Bertall, Victor Hugo, 1867. Ausschnitt. Lizenz: PD-Art. Quelle: Wikimedia Commons
Bertall, Victor Hugo, 1867. Ausschnitt. Lizenz: PD-Art. Quelle: Wikimedia Commons.

Gut 25 Seemeilen vor der normannischen West­küste liegt im Ärmel­kanal die Insel Guernsey, dieser „Felsen der Gast­freund­schaft und der Freiheit, dieser Winkel der alten normannischen Erde, wo das edle, einfache Volk des Meeres wohnt“. So schreibt der Romantiker Victor Hugo 1866 in der Widmung seines Romans Die Arbeiter des Meeres an die Insel und ihre Bewohner:innen.

Elf Jahre zuvor, am 31. Oktober 1855, ist der berühmteste Schrift­steller Frankreichs im Haupt­hafen der Insel, Saint Peter Port, angelandet, zusammen mit seinem Sohn François-Victor und seiner langjährigen Geliebten und unermüdlichen Begleiterin Juliette Drouet.

Die 2½-stündige Überfahrt von Jersey durch die herbst­liche See ist aus­gesprochen unruhig gewesen; so unruhig, dass man erzählt, bei der Ausschiffung sei eine Kiste mit Manu­skripten des späteren Welt­bestsellers Les Miserables beinahe ans Meer verloren gegangen.

Castle Cornet am Hafen von Saint Peter Port. Foto: jvf
Castle Cornet am Hafen von Saint Peter Port. Foto: jvf.

Victor Hugo wird lange auf Guernsey bleiben (allerdings immer mal wieder durch Reisen unter­brochen): 15 Jahre des Exils. Es ist bereits der dritte Ort, an dem der Schrift­steller Zuflucht sucht vor dem Regime des französischen Diktators, der sich 1852 als Napoléon III. zum Kaiser der Franzosen machte.

Der Staatsstreich von 1851

In den frühen Morgenstunden des 2. Dezember 1851 hatte der Präsident der Französischen Republik, Charles-Louis-Napoléon Bonaparte, Truppen (60.000 Mann, heißt es) an strategisch wichtigen Plätzen von Paris auf­marschieren, Druckereien und das Gebäude der National­versammlung besetzen, führende Oppositionelle verhaften lassen.

Der Neffe des großen Napoléon hatte den Notstand aus­gerufen, die Auflösung der National­versammlung dekretiert, Neuwahlen und eine neue Verfassung angekündigt. Es war das Ende der Zweiten Französischen Republik, die ihn 1848 zum Präsidenten gewählt hatte.

Renversement de la République, coup d'État du 2 Décembre 1851: „Baudin, Volksvertreter, stirbt bei der Verteidigung der republikanischen Verfassung, geschändet von Louis-Napoléon-Bonaparte, der ihr die Treue geschworen hatte“. Zeitgenössischer Druck. Lizenz: PD-Art, Quelle: gallica.bnf.fr / BnF
Renversement de la République, coup d'État du 2 Décembre 1851: „Baudin, Volksvertreter, stirbt bei der Verteidigung der republikanischen Verfassung, geschändet von Louis-Napoléon-Bonaparte, der ihr die Treue geschworen hatte“. Zeitgenössischer Druck. Lizenz: PD-Art, Quelle: gallica.bnf.fr / BnF.

Victor Hugo, seit 1848 Abgeordneter der National­versammlung, ließ Plakate „An das Volk“ drucken und aushängen: „Louis-Napoléon ist ein Verräter! […] Zu den Waffen! Vive la République!“. In einer geheimen Sitzung der republikanischen Linken wurde Hugo in ein sieben­köpfiges Comité de Résistance gewählt, in einer weiteren Sitzung rief er mit einer wort­gewaltigen Rede zum bewaffneten Wider­stand auf.

Jenseits der Wortmeldungen war Hugo in diesen Dezember­tagen von einer wider­sprüchlichen Zerissen­heit: Empörung über den Staats­streich und Sorge, dass der Wider­stand zu einem fürchter­lichen Blutbad führen würde. Er hatte gesehen und noch mehr davon gehört mit welcher Brutalität die Armee Wider­ständige nieder­metzelte.

Von Verhaftung und Schlimmerem bedroht, musste Hugo in Paris unter­tauchen. Neun Tage nach dem 2. Dezember gelang ihm mit einem gefälschten Pass als Schrift­setzer „Jacques Lanvin“ im Nacht­zug nach Brüssel die Flucht.

Exil in Brüssel und Jersey

Das Brüsseler Exil währte kaum mehr als sechs Monate. Im Spät­sommer 1852 sollte seine Polemik Napoléon le Petit erscheinen, die mit dem französische Regime und mit Bonaparte, dem Verräter, persönlich abrechnete.

Das Pamphlet war – ebenso wie eine spätere Abrechnung in lyrischer Form (Les Châtiments, 1853) – wohl auch deswegen nicht nur von gerechtem Zorn, sondern auch von persönlicher Verbitterung durchzogen, weil Hugo als Abgeordneter der konservativen Parti de l’Ordre 1848 selbst die Wahl Bonapartes zum Präsidenten empfohlen hatte.

Jedenfalls war es klüger, nicht die Veröffent­lichung von Napoléon le Petit abzuwarten, besser vorher aus Brüssel zu verschwinden. Ohnehin zeichnete sich mehr als deut­lich ab, dass die belgischen Behörden den Unruhe­stifter loswerden wollten.

Studio Nadar, Victor Hugo en exil à Jersey. Ausschnitt. Lizenz: PD-Art, Quelle: gallica.bnf.fr / BnF
Studio Nadar, Victor Hugo en exil à Jersey. Ausschnitt. Lizenz: PD-Art, Quelle: gallica.bnf.fr / BnF.

Anfang August 1852 reiste Hugo über London nach Jersey, wo er drei Jahre bleiben konnte. Französische Geheim­diplomatie und englische Verärgerung über Hugos Kritik an der Annäherung Englands und Frankreichs – nunmehr Verbündete im Krimkrieg – führten schließlich im Oktober 1855 zu seiner Ausweisung aus Jersey und zur Übersiedlung nach Guernsey.

Guernseys Freiheit

Mitte des 19. Jahrhunderts leben rund 30.000 Menschen auf Guernsey (später, Anfang des 21. Jhd., werden es mehr als doppelt so viele sein). Sie sind Unter­tanen der Queen Victoria, aber nicht weil die Insel Teil des Vereinig­ten König­reichs wäre. Victoria ist vielmehr der Souverän der Vogtei Guernsey (Bailiwick of Guernsey), die unmittel­barer Kron­besitz der englischen Monarchie ist (crown dependency).

Eine völkerrechtlich komplizierte Sache ist das, die letztendlich auf die Loslösung der Kanalinseln aus dem Herzogtum der Normandie Anfang des 13. Jahrhunderts zurück geht: „Die Kanal­inseln sind ins Meer gestürzte Stücke Frank­reichs, die England auf­gesammelt hat. Daher die schwierige Staats­angehörig­keit“, sagt Hugo (Arbeiter, S. 547).

Aber dieser Status sichert Guernsey in inneren Angelegen­heiten eine sehr weit­gehende Autonomie, auch etwa in Fragen des Aufenthalts­rechts. So kommt es, dass Guernsey den aus Jersey ausgewiesenen Exilanten aufnehmen kann (und damit zugleich der in traditioneller Rivalität verbundenen, größeren Kanalinsel eins auswischen kann).

T. Singleton, St. Peter-Port, vom alten Hafen aus, Guernsey, 1890. Ausschnitt. Lizenz: PD-Art, Quelle: gallica.bnf.fr / BnF
T. Singleton, St. Peter-Port, vom alten Hafen aus, Guernsey, 1890. Ausschnitt. Lizenz: PD-Art, Quelle: gallica.bnf.fr / BnF.

Hugo bedankt sich mit enthu­siastischem Lob der Freiheit im Bailiwick of Guernsey, das man sicher als idealisiertes Gegen­bild zum repressiven Frank­reich des Zweiten Kaiser­reichs verstehen muss:

Kommt her, lebt, existiert. Geht, wohin ihr wollt. Niemand hat das Recht, euren Namen zu erfahren. Habt ihr einen eigenen Gott? Betet ihn an. Habt ihr eine eigene Flagge? Hisst sie. […] Es gefällt euch, die Regierung anzuprangern? Steigt auf den Eck­stein und sprecht. Wollt ihr euch öffent­lich zusammen­schließen? Tut das. […] Und wenn ich die Monar­chie an­greifen würde? Das betrifft uns nicht. Ich möchte Plakate anschlagen. Hier sind die Mauern. Denkt, redet, schreibt, druckt, haltet An­sprachen, das ist eure Sache. […] Abso­lute Rede- und Presse­freiheit. [Arbeiter, S. 580f.]

Vorbehalte allenthalben und ein Denkmal

Es ist indes keines­wegs eine Liebe auf den ersten Blick gewesen. Rück­blickend schreibt Hugo 1866:

Vor zehn oder zwölf Jahren streifte ein Franzose, der gerade erst in Guernsey an Land gegangen war, über einen der Strände des Westens, allein, traurig, verbittert, in Gedanken an seine verlorene Heimat. In Paris flaniert man, auf Guernsey streift man herum. Diese Insel erschien ihm schauerlich. Über allem lag Nebel, die Küste dröhnte unter den Wogen, das Meer warf gewaltige Ladungen Schaum auf die Felsen, der Himmel war feindselig und schwarz. [Arbeiter, S. 585]

Hilfreich ist dagegen, dass auf Guernsey zu dieser Zeit noch das Guernésiais weit verbreitet war, ein Dialekt der normannischen Sprache. Hugo: „Es kommt einem ein wenig wie Französisch vor, was sie da sprechen“ [Arbeiter, S. 547]. Hugo kokettiert damit, dass er trotz der langen Jahre auf Guernsey kein Wort Englisch spreche.

Und der Lokal- und Sozialhistoriker Gregory Stevens Cox weist darauf hin, dass sich Hugo auf Guernsey nicht nur Freunde macht. Bewundert von der Unter­schicht, auch von der Bildungs­elite der Insel, haben große Teile der Bour­geoi­sie Vorbe­halte: Unorthodoxe religiöse Ansichten, Republikaner, womöglich gar Sozialist, fragwürdige Sexual­moral – das ehren­werte Bürgertum hält lieber Abstand zu dem französischen Exilanten [Cox, St. Peter Port, S. 17]. Auf diese Gründe wird noch zurückzukommen sein.

Jean Boucher, Victor Hugo, 1913. Saint Peter Port, Candie Gardens. Foto: jvf
Jean Boucher, Victor Hugo, 1913. Saint Peter Port, Candie Gardens. Foto: jvf.

1914 aber wird Hugo an prominenter Stelle, in den Candie Gardens von Saint Peter Port, ein Denkmal errichtet werden. Die Granit-Skulptur des bretonischen Bildhauers Jean Boucher (1870-1939) ist ein Geschenk der Dritten Französischen Republik. Und noch später wird Hugo zu einem wichtigen Verkaufs­argument der Tourismus­branche auf Guernsey werden.