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August von Platens Sonette aus Venedig

„Weil da, wo Schönheit waltet, Liebe waltet“

August von Platens „Sonette aus Venedig“ (1824) sind bis heute die schönste lyrische Handreichung für den empfindsamen Venedig-Reisenden.

Platen in Venedig. Montage aus Bellotto, Canal Grande in Venedig, 1741/43 und Rugendas, August von Platen. Quellen: Foto jvf / Wikimedia Commons Lizenz: PD-Art

Am 21. August 1824 bricht der Dichter August Graf von Platen-Hallermünde zu seiner Reise von Erlangen nach Venedig auf. Die Reisekasse ist anständig gefüllt, 461 Gulden in Bar und Brief. Das Gepäck ist überschaubar: Ein kleiner Rucksack („ein Ränzchen“) und ein Mantelsack, mehr nicht.

Kleinere Abschnitte geht Platen zu Fuß, den größeren Teil der knapp 700 Kilometer von Erlangen nach Triest (über Salzburg) reist er mit Postkutschen. Nach zwei Wochen trifft er in der österreichi­schen Hafenstadt ein, wo er zwei Tage bleibt, bevor er mit dem Dampfschiff nach Venedig übersetzt.

Platen ist 27 Jahre alt (seinen 28. Geburtstag feiert er in Venedig) und hat bereits einige Anerkennung als Lyriker eingesammelt. Sein Bändchen Neue Ghaselen (1823) sind in Goethes Zeitschrift Über Kunst und Alterthum eindring­lich gelobt worden („Es haben uns diese Ghaselen schönen Genuß gewährt und es läßt sich von ihnen viel Gutes sagen“) – auf solches Lob aus dem Umfeld der Weimarer Instanz können nur wenige zeit­genössische Dichter hoffen.

Platen in Venedig

Jetzt in Venedig ist Platen ganz überwältigt von den Eindrücken, mit denen ihn die Lagunen­stadt bedrängt. Eine Woche lang notiert er nichts in sein Tagebuch: „Die Fülle der Gegenstände ist zu groß“:

Den Tag über bringt man mit tausenderlei Sehens­würdigkeiten zu und die Hälfte der Nacht auf dem Markusplatze.

In Sachen Sehenswürdig­keiten ist Platen von beachtlicher Gründlichkeit. Kaum eine der zahlreichen venezianischen Kirchen entgeht seinem Besuch, und er lässt keine Möglichkeit aus, Gemälde der venezianischen Schule zu sehen.

Was Platen „die Hälfte der Nacht“ so treibt, weiß man nicht, außer dass er fast jeden Abend spät aus Theater oder Oper kommt, „denn ist Theater in Venedig, so fängt dieses erst um elf Uhr an“.

Sein Biograph Peter Bumm vermutet, dass Platen mit Prostituierten, die unter den Arkaden des Markus­platzes ihre Dienste anbieten, seine ersten sexuellen Erfahrungen sammelt. Belegen lässt sich das nicht. Oder sollte der Tagebuch­eintrag vom 13. Oktober sich nicht nur auf den Kunstgenuss beziehen?: „[…] unter einem Volke, das voll Unbefangen­heit und dem Augenblick zu leben weiß, fange ich selbst erst an, das Leben zu erkennen und zu genießen.“

Gleichviel, irgendetwas an oder in Venedig versetzt ihn in einen „sonderbaren Zustand“ und lässt ihn eine „neue Welt“ entdecken. Drei Wochen nach seiner Ankunft notiert er in sein Tagebuch:

Ich befinde mich in einem sonderbaren Zustande, den ich nicht zu definieren weiß. Venedig zieht mich an, ja, es hat mich mein ganzes früheres Leben und Treiben vergessen lassen, so daß ich mich in einer Gegenwart ohne Vergangen­heit befinde. Dennoch bin ich gezwungen, diese neue Welt, über deren Grenzen ich nicht hinaus­blicken mag, in wenigen Tagen zu verlassen. Ich fühle eine unendliche Trägheit, mich vom Platz zu bewegen, und doch empfinde ich auf der anderen Seite, wie wenig Italien die Heimat eines Deutschen sein kann, wie gleichsam seine ganze Natur sich ändert, und wie gedankenlos ich mir selbst in dieser Periode meines Lebens vorkomme. Auch die poetische Ader scheint gänzlich versiegt zu sein, nur eine kleine Reihe zum Teil noch unvollendeter Sonette ist entstanden, die ganz auf Venedig beruhen.

Ein junger Nobile

Erst ganz am Ende seines auf zwei Monate verlängerten Aufenthalts in der Inselstadt macht Platen „die nähere Bekannt­schaft eines jungen Nobile aus der berühmten Familie Priuli“. Berühmt ist die Familie Priuli, weil sie im 16. und 17. Jahrhundert drei Dogen gestellt hat. Die Beschreibung des jungen Nobile, die Platen in seinem Tagebuch gibt, ist reichlich seltsam:

Es ist mir schätzbar, durch Priulis Bekanntschaft das Bild eines echten Venetianers vor Augen zu haben. Sie sind unbefangen, sorglos, naiv wie die Kinder; dabei aber doch fein und versteckt. Priuli hat überdies etwas sehr Heiteres, ja Drolliges in seinem Wesen, was ihn anziehend macht. Die Venetianer sind durchaus human, was vielleicht auch daher kommt, daß sie nicht mit den Tieren umgehen. Es gibt weder Pferde noch Ochsen und wenige Hunde, die meist Ausländern gehören.

Dass die Anziehung nicht allein einem ethno­logischen Interesse folgt, sondern vielmehr „zärtliche Gedanken“ Platen umtreiben, darf man aus zwei seiner Sonette folgern (XIV/XV), ohne über Gebühr das Subjekt der lyrischen Rede mit dem Autor zu verwechseln.

Sonette aus Venedig

Am 20. Oktober notiert Platen, er habe „die zwölf Sonette abgeschlossen, die das Leben Venedigs darstellen sollen“. Einige Wochen später ist der Vorrat auf 17 Sonette angewachsen. Platen reist über München nach Erlangen zurück, wo er Anfang Januar wegen Urlaubs­überschreitung in Haft genommen wird. Er ist Lieutenant der Königlich Bayerischen Armee, beurlaubt zwar zu Studien­zwecken, aber nicht um beliebig lang in Venedig zu säumen.

Nach kurzem Kasernen­arrest und sechwöchigem Haus­arrest wird er in einem Militärgerichts­verfahren zu weiteren vier Wochen Haft verurteilt. Platen nutzt die Zeit, um die Sonette aus Venedig für den Druck fertig zu stellen. Als das schmale Bändchen von 18 Seiten vorliegt, beeilt er sich, Seiner Exzellenz Geheimrat von Goethe ein Exemplar zu senden. Der notiert in seinem Tagebuch, er habe die „Sonette des Grafen Platen [..] lobenswürdig gefunden“.

Heute wird man die Sonette aus Venedig kaum nur „lobenswürdig“ finden. Ob es ihnen gelingt, „das Leben Venedigs“ darzustellen, ist eine andere Frage. Platens Italien­lyrik wird später vorgeworfen, sie sei „nicht viel mehr als versifizierter Baedeker“ (Heinrich Henel). Dies wird man über die venezianischen Sonette keinesfalls sagen wollen.

Platen jedenfalls verdichtet – in der strengen Form der Sonette – den Venedig-Mythos zu einem Symbol, das vergangene Pracht und Größe, verbleibende Schönheit, Schwermut und Schmerz, Sehnsucht, Begierde und unerfüllte Liebe umfasst und an den Ort bindet. Immerhin prägt er damit wesentlich das Venedig-Bild in der deutschen Literatur bis hin mindestens zu Thomas Mann. Und die Sonette aus Venedig sind bis heute die schönste lyrische Handreichung für den empfindsamen Venedig-Reisenden.

August Graf von Platen
Sonette aus Venedig
[1825]


Dem deutschen Freunde, den die Sterne lenken
    Zu dieser Inselstadt vom Meer beschäumet,
    Sey dieses kleine Buch ein Angedenken,
    Wann er am Ufer der Lagune säumet,
    Wann Lieb’ und Kunst ihm schöne Stunden schenken,
    Wann er, gestreckt in einer Gondel, träumet;
    Und legt er’s weg, so mag er leise sagen:
    Hier hat vor mir ein fühlend Herz geschlagen!


I.

Mein Auge ließ das hohe Meer zurücke,
    Als aus der Fluth Palladio’s Tempel stiegen,
    An deren Staffeln sich die Wellen schmiegen,
    Die uns getragen ohne Falsch und Tücke.

Wir landen an, wir danken es dem Glücke,
    Und die Lagune scheint zurück zu fliegen,
    Der Dogen alte Säulengänge liegen
    Vor uns gigantisch mit der Seufzerbrücke.

Venedigs Löwen, sonst Venedigs Wonne,
    Mit ehrnen Flügeln sehen wir ihn ragen
    Auf seiner kolossalischen Colonne.

Ich steig’ an’s Land, nicht ohne Furcht und Zagen,
    Da glänzt der Markusplatz im Licht der Sonne:
    Soll ich ihn wirklich zu betreten wagen?

II.

Dieß Labyrinth von Brücken und von Gassen,
    Die tausendfach sich ineinander schlingen,
    Wie wird hindurchzugehn mir je gelingen?
    Wie werd’ ich je dieß große Räthsel fassen?

Ersteigend erst des Markusthurms Terrassen,
    Vermag ich vorwärts mit dem Blick zu dringen,
    Und aus den Wundern, welche mich umringen,
    Entsteht ein Bild, es theilen sich die Massen.

Ich grüße dort den Ocean, den blauen,
    Und hier die Alpen, die im weiten Bogen
    Auf die Laguneninseln niederschauen.

Und sieh! da kam ein muth’ges Volk gezogen,
    Palläste sich und Tempel sich zu bauen
    Auf Eichenpfähle mitten in die Wogen.

III.

Wie lieblich ist’s, wenn sich der Tag verkühlet,
    Hinaus zu sehn, wo Schiff und Gondel schweben,
    Wenn die Lagune, ruhig, spiegeleben,
    In sich verfließt, Venedig sanft umspühlet!

In’s Innre wieder dann gezogen fühlet
    Das Auge sich, wo nach den Wolken streben
    Pallast und Kirche, wo ein lautes Leben
    Auf allen Stufen des Rialto wühlet.

Ein frohes Völkchen lieber Müssiggänger,
    Es schwärmt umher, es läßt durch nichts sich stören,
    Und stört auch niemals einen Grillenfänger.

Des Abends sammelt sich’s zu ganzen Chören,
    Denn auf dem Markusplatze will’s den Sänger,
    Und den Erzähler auf der Riva hören.

IV.

Nun hab’ ich diesen Taumel überwunden,
    Und irre nicht mehr hier und dort in’s Weite,
    Mein Geist gewann ein sicheres Geleite,
    Seitdem er endlich einen Freund gefunden.

Dir nun, o Freund, gehören meine Stunden,
    Du gabst ein Ziel mir nun, wonach ich schreite,
    Nach dieser eil’ ich oder jener Seite,
    Wo, daß ich treffe dich, ich kann erkunden.

Du winkst mir zu von manchem Weihaltare,
    Dein Geist ist ein harmonisches Bestreben,
    Und deine sanfte Seele liebt das Wahre.

O welch ein Glück, sich ganz dir hinzugeben,
    Und, wenn es möglich wäre, Jahr’ um Jahre
    Mit deinen Engeln, Gian Bellin, zu leben!

V.

Venedig liegt nur noch im Land der Träume,
    Und wirft nur Schatten her aus alten Tagen,
    Es liegt der Leu der Republik erschlagen,
    Und öde feiern seines Kerkers Räume.

Die ehrnen Hengste, die durch salz’ge Schäume
    Dahergeschleppt, auf jener Kirche ragen,
    Sie sind nicht mehr dieselben ach! sie tragen
    Des korsikan’schen Überwinders Zäume.

Wo ist das Volk von Königen geblieben,
    Das diese Marmorhäuser durfte bauen,
    Die nun verfallen und gemach zerstieben?

Nur selten finden auf des Enkels Brauen
    Der Ahnen große Züge sich geschrieben,
    An Dogengräbern in den Stein gehauen.

VI.

Erst hab’ ich weniger auf dich geachtet,
    O Tizian, du Mann voll Kraft und Leben!
    Jetzt siehst du mich vor deiner Größe beben,
    Seit ich Mariä Himmelfahrt betrachtet!

Von Wolken war mein trüber Sinn umnachtet,
    Wie deiner Heil’gen sie zu Füßen schweben:
    Nun seh’ ich selbst dich gegen Himmel streben,
    Wonach so brünstiglich Maria trachtet!

Dir fast zur Seite zeigt sich Pordenone:
    Ihr wolltet lebend nicht einander weichen,
    Im Tode hat nun jeder seine Krone!

Verbrüdert mögt ihr noch die Hände reichen
    Dem treuen, vaterländischen Giorgione,
    Und jenem Paul, dem wen’ge Maler gleichen!

VII.

Der Canalazzo trägt auf breitem Rücken
    Die lange Gondel mit dem fremden Gaste,
    Den vor Grimani’s, Pesaro’s Pallaste
    Die Kraft, das Ebenmaß, der Prunk entzücken.

Doch mehr noch muß er sich den Meisterstücken
    Der frühern Kunst, die nie ein Spott betaste,
    Euch muß er sich und eurem alten Glaste,
    Pisani, Vendramin, Ca Doro bücken.

Die got’schen Bogen, die sich reich verweben,
    Sind von Rosetten überblüht, gehalten
    Durch Marmorschäfte, vom Balkon umgeben:

Welch eine reine Fülle von Gestalten,
    Wo, triefend von des Augenblickes Leben,
    Tiefsinn und Schönheit im Vereine walten!

VIII.

Es scheint ein langes, ew’ges Ach zu wohnen
    In diesen Lüften, die sich leise regen,
    Aus jenen Hallen weht es mir entgegen,
    Wo Scherz und Jubel gepflegt sonst zu thronen.

Venedig fiel, wiewol’s getrotzt Äonen,
    Das Rad des Glücks kann nichts zurückbewegen:
    Öd’ ist der Haven, wen’ge Schiffe legen
    Sich an die schöne Riva der Sklavonen.

Wie hast du sonst, Venetia, geprahlet
    Als stolzes Weib mit goldenen Gewändern,
    So wie dich Paolo Veronese mahlet!

An der Gigantentreppe Prachtgeländern
    Steht einsam nun ein Dichter und bezahlet
    Den Thränenzoll, der nichts vermag zu ändern!

IX.

Ich fühle Woch’ an Woche mir verstreichen,
    Und kann mich nicht von dir, Venedig, trennen:
    Hör’ ich Fusina, hör’ ich Mestre nennen,
    So scheint ein Frost mir durch die Brust zu schleichen.

Stets mehr empfind’ ich dich als ohne Gleichen,
    Seit mir’s gelingt, dich mehr und mehr zu kennen:
    Im tiefsten fühl’ ich meine Seele brennen,
    Die Großes sieht und Großes will erreichen.

Welch eine Fülle wohnt von Kraft und Milde
    Sogar im Marmor hier, im spröden, kalten,
    Und in so manchem tiefgefühlten Bilde!

Doch um noch mehr zu fesseln mich, zu halten,
    So mischt sich unter jene Kunstgebilde
    Die schönste Blüthe lebender Gestalten.

X.

Hier wuchs die Kunst wie eine Tulipane,
    Mit ihrer Farbenpracht dem Meer entstiegen,
    Hier scheint auf bunten Wolken sie zu fliegen,
    Gleich einer zauberischen Fee Morgane.

Wie seyd ihr groß, ihr hohen Tiziane,
    Wie zart Bellin, dal Piombo wie gediegen,
    Und o wie lernt sich ird’scher Schmerz besiegen
    Vor Paolo’s heiligem Sebastiane!

Doch was auch Farb’ und Pinsel hier vollbrachte,
    Der Meissel ist nicht ungebraucht geblieben,
    Und manchen Stein durchdringt das Schöngedachte:

Ja, Wen es je nach San Giulian getrieben,
    Damit er dort des Heilands Schlaf betrachte,
    Der muß den göttlichen Campagna lieben!

XI.

Ihr Maler führt mich in das ew’ge Leben,
    Denn euch zu missen könnt’ ich nicht ertragen,
    Noch dem Genuß auf ew’ge Zeit entsagen,
    Nach eurer Herrlichkeit emporzustreben!

Um Gottes eigne Glorie zu schweben
    Vermag die Kunst allein und darf es wagen,
    Und wessen Herz Vollendetem geschlagen,
    Dem hat der Himmel weiter nichts zu geben!

Wer wollte nicht den Glauben aller Zeiten,
    Durch alle Länder, alle Kirchensprengel
    Der Schönheit Evangelium verbreiten:

Wenn Palma’s Heil’ge mit dem Palmenstengel
    Und Paolo’s Alexander ihn begleiten,
    Und Tizians Tobias mit dem Engel?

XII.

Zur Wüste fliehend vor dem Menschenschwarme,
    Steht hier Johannes, um zu reinern Sphären
    Durch Einsamkeit die Seele zu verklären,
    Die hohe, großgestimmte, gotteswarme.

Voll von Begeisterung, von heil’gem Harme
    Erglänzt sein ew’ger, ernster Blick von Zähren,
    Nach Jenem, den Maria soll gebären,
    Scheint er zu deuten mit erhobnem Arme.

Wer kann sich weg von diesem Bilde kehren,
    Und möchte nicht, mit brünstigen Geberden,
    Den Gott im Busen Tizians verehren?

O goldne Zeit, die nicht mehr ist im Werden,
    Als noch die Kunst vermocht die Welt zu lehren,
    Und nur das Schöne heilig war auf Erden!

XIII.

Hier seht ihr freilich keine grünen Auen,
    Und könnt euch nicht im Duft der Rose baden;
    Doch was ihr saht an blumigern Gestaden
    Vergeßt ihr hier und wünscht es kaum zu schauen.

Die stern’ge Nacht beginnt gemach zu thauen,
    Um auf den Markus alles einzuladen:
    Da sitzen unter herrlichen Arkaden,
    In langen Reihn, Venedigs schönste Frauen.

Doch auf des Platzes Mitte treibt geschwinde,
    Wie Canaletto das versucht zu malen,
    Sich Schaar an Schaar, Musik verhallt gelinde.

Indessen wehn, auf ehrnen Piedestalen,
    Die Flaggen dreier Monarchien im Winde,
    Die von Venedigs altem Ruhme stralen.

*

Wenn tiefe Schwermuth meine Seele wieget,
    Mag’s um die Buden am Rialto flittern:
    Um nicht den Geist im Tande zu zersplittern,
    Such’ ich die Stille, die den Tag besieget.

Dann blick’ ich oft, an Brücken angeschmieget,
    In öde Wellen, die nur leise zittern,
    Wo über Mauern, welche halb verwittern,
    Ein wilder Lorbeerbusch die Zweige bieget.

Und wann ich, stehend auf versteinten Pfählen,
    Den Blick hinaus in’s dunkle Meer verliere,
    Dem fürder keine Dogen sich vermählen:

Dann stört mich kaum im schweigenden Reviere,
    Herschallend aus entlegenen Kanälen,
    Von Zeit zu Zeit ein Ruf der Gondoliere.

XIV.

Weil da, wo Schönheit waltet, Liebe waltet,
    So dürfte keiner sich verwundert zeigen,
    Wenn ich nicht ganz vermöchte zu verschweigen,
    Wie deine Liebe mir die Seele spaltet.

Ich weiß, daß nie mir dieß Gefühl veraltet,
    Denn mit Venedig wird sich’s eng verzweigen:
    Stets wird ein Seufzer meiner Brust entsteigen
    Nach einem Lenz, der sich nur halb entfaltet.

Wie soll der Fremdling eine Gunst dir danken,
    Selbst wenn dein Herz ihn zu beglücken dächte,
    Begegnend ihm in zärtlichen Gedanken?

Kein Mittel giebt’s, das mich dir näher brächte,
    Und einsam siehst du meine Tritte wanken
    Den Markus auf und nieder alle Nächte.

XV.

Ich liebe dich, wie jener Formen eine,
    Die hier in Bildern uns Venedig zeiget:
    Wie sehr das Herz sich auch nach ihnen neiget,
    Wir ziehn davon, und wir besitzen keine.

Wol bist du gleich dem schöngeformten Steine,
    Der aber nie dem Piedestal entsteiget,
    Der selbst Pygmalions Begierden schweiget,
    Doch sey’s darum, ich bleibe stets der Deine.

Dich aber hat Venedig auferzogen,
    Du bleibst zurück in diesem Himmelreiche,
    Von allen Engeln Gian Bellins umflogen:

Ich fühle mich, indem ich weiter schleiche,
    Um eine Welt von Herrlichkeit betrogen,
    Die ich den Träumen einer Nacht vergleiche.

XVI.

Was läßt im Leben sich zuletzt gewinnen?
    Was sichern wir von seinen Schätzen allen?
    Das goldne Glück, das süße Wolgefallen,
    Sie eilen – treu ist nur der Schmerz – von hinnen.

Eh mir in’s Nichts die letzten Stunden rinnen,
    Will noch einmal ich auf und nieder wallen,
    Venedigs Meer, Venedigs Marmorhallen
    Beschaun mit sehnsuchtsvoll erstaunten Sinnen.

Das Auge schweift mit emsigem Bestreben,
    Als ob zurück in seinem Spiegel bliebe,
    Was länger nicht vor ihm vermag zu schweben:

Zuletzt, entziehend sich dem letzten Triebe,
    Fällt ach! zum letztenmal im kurzen Leben,
    Auf jenes Angesicht ein Blick der Liebe.


Die Textgestalt dieser Wiedergabe richtet sich nach dem Erstdruck der „Sonette aus Venedig“, der 1825 in Erlangen erschienen ist (die Bayerische StaatsBibliothek hat ein Digitalisat ins Netz gestellt). Typographische Besonderheiten sind normalisiert, die Ortographie ist unverändert übernommen.

Hinzu gefügt ist allein das * gekennzeichnete Sonett, das in den „Sonetten aus Venedig“ nicht enthalten war, sondern von Platen erst in späteren Ausgaben seiner Gedichte aufgenommen wurde (hier zitiert nach dem ersten Abdruck in „Gedichte“, 1828, S. 200 – archive.org hat ein Digitalisat).