Kulturraum NRW


Biennale Venedig 1924: 14. Internationale Kunstausstellung

Die erste Biennale im Faschismus

Die Venedigbiennale 1924 ist die erste Biennale unter der Herrschaft Mussolinis, erlebt einen Richtungskampf faschistischer Ästhetiken, sieht den ersten Auftritt der Sowjetunion und überzeugt die meisten Kritiker nicht. Ein Rundgang.

Auf der Biennale Venedig 1924: Adolfo Wildt, Benito Mussolini. mod jvf: Ausschnitt. Quelle: Catalogo XIVa Esposi­zione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 1
Auf der Biennale Venedig 1924: Adolfo Wildt, Benito Mussolini. mod jvf: Ausschnitt. Quelle: Catalogo XIVa Esposi­zione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 1.

Im Onlinearchiv der Biennale Venedig findet sich ein Foto vom Besuch des Königs Vittorio Emanuele III. zur Eröffnung der 14. Inter­nationalen Kunst­ausstellung am 25. April 1924.

Der Monarch, in irgendeiner Parade­uniform, schreitet mit Gefolge nach seinem Besuch des deutschen Pavillons dessen kleine Treppe am Portal herab. Seine Rechte ist in Bewegung, vermutlich zu oder von einem lässigen mili­tärischen Gruß.

Auf beiden Seiten der Treppe, teils auf ihrer Brüstung, stehen Poli­zisten und Honor­atioren sowie – soweit im Bild erfasst – fünf „Schwarz­hemden“, also Angehörige der faschis­tischen Milizen. Sie haben den rechten Arm zum saluto romano erhoben. Kurze Zeit später werden die deutschen National­sozialisten diese Geste zum Vorbild für den „Hitler­gruß“ nehmen.

Vittorio Emanuele III. hat vor andert­halb Jahren, Ende Oktober 1922, Benito Musso­lini, den Vorsitzenden der Partito Nazionale Fascista, zum Minister­präsidenten einer Koalitions­regierung aus Faschisten und Politikern der bürger­lichen Rechten ernannt.

Knapp drei Wochen vor Eröffnung der Biennale haben dann die faschis­tisch angeführte Lista Nazionale und verwandte Listen bei Neu­wahlen des Parla­ments einen Erdrutsch­sieg ein­fahren können: 64,9% der Stimmen – so die offiziellen Zahlen, freilich unter Zuhilfe­nahme von Wahl­fälschungen, dem Terror der Schwarz­hemden gegenüber opposi­tionellen Kandidaten und der Ein­schüchterung von Wählern.

Faschistische Demonstration, Oktober 1922 (v.l.n.r.: Michele Bianchi, Emilio De Bono, Cesare Maria De Vecchi, Benito Mussolini, Italo Balbo). Foto: Agence Rol, Lizenz: PD, Quelle: Bibliothèque nationale de France
Faschistische Demonstration, Oktober 1922 (v.l.n.r.: Michele Bianchi, Emilio De Bono, Cesare Maria De Vecchi, Benito Mussolini, Italo Balbo). Foto: Agence Rol, Lizenz: PD, Quelle: Bibliothèque nationale de France.

Nach der vollständigen Etablierung der Diktatur des „Duce“ und bis 1946 wird es keine Wahlen mehr geben, nur noch die Ab­segnung von Einheits­listen mit offi­ziell jeweils rund 99% Ja-Stimmen.

Die Eröffnungsrede des „Philosophen des Faschismus“

Die Hauptrede zur feierlichen Eröffnung der Biennale, im Beisein des Königs, hält Giovanni Gentile. Der „Philos­oph des Faschis­mus“ ist Bildungs­minister im Kabinett Musso­lini und wird dem Regime bis zu seinem Tod 1944 in Treue ergeben sein.

Im April 1925 wird Gentile sein Manifest der faschis­tischen Intellek­tuellen veröffentlichen, in dem er die neue Staats­ideologie zu einer Religion der „Selbst­verleugnung und Auf­opferung des Einzelnen für eine Idee“ verklärt.

Die eschatologische Aufladung der faschis­tischen Ideologie wird ihm dabei zur Begründung, die nicht nur den Terror der Schwarz­hemden als not­wendig für die revolu­tionäre Erneuerung des Vater­landes legiti­miert. Unter Mobili­sierung einer Art vulgär-hegelianischen Dialektik verwirft er jegliche Opposition gegen das faschis­tische Regime als unsinnig, weil gegen das triumphierende, „höhere Prinzip“ des Faschismus es „eigentlich kein gegen­sätzliches Prinzip“ geben, sondern dieses „dem Prinzip des Faschismus nur unter­geordnet“ sein könne.

Jetzt in seiner Eröffnungs­rede spricht der Bildungs­minister aber erstmal nur von der „alten und glor­reichen Mutter“ Italien, dem „glanz­erfüllten und blühenden Land der ewigen Geister“, von dem alle Nationen gelernt hätten, „ihre ange­stammten Gaben und schöpferischen Fähig­keiten zu ver­feinern und zu veredeln“.

Der Eklat: Marinettis diamantener Schrei

Der Applaus für die Rede Gentiles ist gerade abge­klungen als aus der Menge der Zuschauer jemand ruft: „Nieder mit der Präsident­schaft der anti-italienischen Aus­stellung!“. Carabinieri überwältigen den Mann und führen ihn ab in einen Neben­raum zur Ein­vernahme.

Der Mann ist Filippo Tommaso Marinetti, Schrift­steller, Zentral­figur des Futurismus. Marinetti kennt Mussolini seit 1914. Seine Partito Politico Futurista ist 1919 in Musso­linis Fasci Italiani di Combattimento (später PNF) auf­gegangen.

Filippo Tommaso Marinetti, Futurismo e Fascismo, 1924, Titelblatt / Heinrich Sanden, Marinetti, Berlin, 1913. mod jvf: Ausschnitt, entsättigt. Lizenz: PD, Quellen: archive.org / Wikimedia Commons
Filippo Tommaso Marinetti, Futurismo e Fascismo, 1924, Titelblatt / Heinrich Sanden, Marinetti, Berlin, 1913. mod jvf: Ausschnitt, entsättigt. Lizenz: PD, Quellen: archive.org / Wikimedia Commons.

Im Jahr dieser 14. Inter­nationalen Kunst­ausstellung ver­öffentlicht er Futurismo e Fascismo, eine Antho­logie von Manifesten und Artikeln des Futurismus von 1909 bis in die jüngste Zeit, gewidmet dem „lieben und großen Freund Benito Musso­lini“. Darin versichert er, dass „die Macht­übernahme durch den Faschismus“ einer „Verwirk­lichung des futuristischen Minimal­programms“ gleichkomme.

Zu diesem „Minimalprogramm“ zählt er Dinge wie die „Propagierung des italienischen Stolzes“, der „grenzen­lose Glaube an die Zukunft der Italiener“, „die Rehabili­tierung der Gewalt als ent­scheidendes Argument“, die „Verherr­lichung des Krieges als einzige Hygiene der Welt“, die „Über­zeugung von der Über­legenheit unserer Rasse“ usw.

Seinen Auftritt auf den Eröffnungs­feierlich­keiten der Biennale will Marinetti ganz anders erinnert wissen als die Zeitungen berichten: Eine Helden­geschichte. Mit einem „diamantenen Schrei“ – wie der eines Wahn­sinnigen – habe er die massiv-bleierne Stille nach Gentiles Rede zerschnitten:

Ich ergreife das Wort, ich behalte es und ich verteidige es:
– Ich prangere die senile und anti-italienische Unfähigkeit der Ausstellungs­leitung an, die junge italienische Künstler abschlachtet, aus­ländische Futuristen einlädt und systema­tisch alle italie­nischen Futuristen ausschließt!
Der König, regungslos und aufmerksam, hört zu und lächelt. Ich fahre fort:
– Eure Majestät, Ihr habt eine Ausstellung von Camor­risten eröffnet! Camorra! Camorra! Camorra! Camorra!

Vierzig Hände habe es gebraucht, um ihn niederzu­ringen, prahlt Marinetti.

Im Manifest an die faschistische Regierung (wiederum in Futurismo e Fascismo abgedruckt) ist seine erste Forderung an Musso­linis Regime die nach „Ver­teidigung junger italienischer Künstler“:

Ausländische Avantgardisten und Futuristen wurden zur Biennale von Venedig ein­geladen (Archi­penko, Kokoschka, Campen­donk), während italienische Futuristen (Schöpfer aller Futurismen) nie ein­geladen wurden. Wir müssen diesen schänd­lichen, systema­tischen Anti-Italienismus ausrotten!

Die Aufzählung der „ausländischen Avantgardisten“ ist etwas verblüffend: Werke Campen­donks waren meines Wissens nie auf der Biennale zu sehen.

Auf der 15. Biennale 1926 in Marinettis Mostra del futurismo italiano: Umberto Boccioni, Volumi Orizzontali, 1912. mod jvf: Ausschnitt, entsättigt. Lizenz: PD-Art, Quelle: Wikimedia Commons
Auf der 15. Biennale 1926 in Marinettis Mostra del futurismo italiano: Umberto Boccioni, Volumi Orizzontali, 1912. mod jvf: Ausschnitt, entsättigt. Lizenz: PD-Art, Quelle: Wikimedia Commons.

Gleichviel, Marinetti wird sich letztlich halbwegs durchsetzen können. Zwei Jahre später, auf der 15. Biennale, wird im Russischen Pavillon (die UdSSR beschickt 1926 die Biennale nicht) eine Aus­stellung des italienischen Futurismus eingerichtet werden – als Commissario ordinatore für die Zusammen­stellung verant­wortlich: Filippo Tommaso Marinetti.

„Absolut nichts Neues“

Die internationale Kunstkritik und Ausstellungs­bericht­erstattung nimmt von den politischen Rahmen­bedingungen dieser Biennale im Jahr 1924 indes kaum Notiz. Einzig beim Kritiker und Kunst­historiker Ludwig Brosch, der für Kunst für Alle schreibt, lese ich einen dezenten Hinweis auf Schwierig­keiten.

Es sei „keine leichte Sache, eine inter­nationale Kunst­ausstellung unter Dach zu bringen; besonders nicht in einem so nationalis­tisch gesinnten Land wie Italien“, konstatiert Brosch und deutet sodann vorsichtig Einfluss­nahmen auf die Ausstellungs­leitung an.

Pianta del Palazzo dell'Esposizione. Quelle: Catalogo XIVa Esposi­zione Inter­nazionale d'Arte
Pianta del Palazzo dell'Esposizione. Quelle: Catalogo XIVa Esposi­zione Inter­nazionale d'Arte.

Insgesamt reagiert die Kritik mehr­heitlich zurück­haltend bis enttäuscht auf die Biennale 1924. Zu konservativ erscheint vielen die Auswahl. Der öster­reichische Kunst­historiker Hans Ankwicz-Kleehoven schreibt im November für die Wiener Zeitung von dieser Enttäuschung:

Denn faktisch war es – Sowjetrußland und das sehr fort­schrittlich gesinnte Holland aus­genommen – nur eine Massen­versammlung von teils unbedeutenden, teils kunst­geschichtlich längst geeichten Künstlern, die sich mit den konventio­nellen Ausdrucks­mitteln der Vorkriegs­zeit vor allem um gefällige Wirkungen mühten, uns aber absolut nichts Neues zu sagen hatten.

Manchem scheint daher Marinettis Inter­vention berechtigt, vermutlich ohne seine ideo­logische Stoß­richtung einordnen zu können – oder viel­leicht doch? In der Kölnischen Zeitung jeden­falls muss ich lesen: „Als End­ergebnis muß man aber doch wohl Marinetti beipflichten: irgendwo hat‘s gehapert beim Ausstellungs­ausschuß!“

Die Maler des ’900

Pietro Marussig, L’Autunno, 1924 / Ubaldo Oppi, Le amiche, 1924. Lizenz: PD-Art. Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte della città di Venezia, Ill. 36/34
Pietro Marussig, L’Autunno, 1924 / Ubaldo Oppi, Le amiche, 1924. Lizenz: PD-Art. Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte della città di Venezia, Ill. 36/34.

Während draußen Marinetti randa­liert, ist drinnen im Palazzo dell’Espo­sizione, in der Sala 22, eine Sonder­ausstellung von sechs Malern der Künstler­gruppe des Nove­cento ein­gerichtet. Die 19 Gemälde umfassende Schau markiert die ästhetisch konservativere Gegen­position inner­halb der faschis­tischen Bewegung zu Marinettis Brachial­modernismus.

Gegründet worden ist die Gruppo del ’900 1922 in Mailand von den noch recht jungen Künstlern Anselmo Bucci (1887-1955), Leo­nardo Dudre­ville (1885-1975), Achille Funi (1890-1972), Gian Emilio Malerba (1880-1926), Pietro Marus­sig (1879-1937), Mario Sironi (1885-1961) und Ubaldo Oppi (1889-1942), mit Unter­stützung und Förderung durch den Galeristen Lino Pesaro und die Kunst­kritikerin Margherita Sar­fatti.

Sarfatti, Redakteurin des faschis­tischen Zentral­organs Popolo d’Italia und Geliebte Musso­linis, hat 1923 bereits die erste Gruppen­ausstellung in der Galeria Pesaro organi­siert und zeichnet jetzt auch verant­wortlich für diesen Auftritt im vene­zianischen Ausstellungs­palast.

In einem Bündnis aus ästhetischer Regression und politischer Reaktion scheint ihr der dezidierte Anti-Avant­gardismus, die Orientierung an den Meistern der ita­lienischen Tradition, die Puschig­keit der Sujets in der Malerei der ’900 passend für eine Art Saats­kunst des faschis­tischen Italiens.

Ubaldo Oppi, Femmina Bionda. Lizenz: PD-Art. Quelle: Heidelberger historische Bestände – Studio
Ubaldo Oppi, Femmina Bionda. Lizenz: PD-Art. Quelle: Heidelberger historische Bestände – Studio.

Der wohl begabteste Maler unter den Gruppen­gründern, Ubaldo Oppi, nimmt nicht Teil an der gemein­samen Ausstellung, sondern hat in der Sala 38 – mit etwas Sicherheits­abstand zu den Kollegen – eine 25 Gemälde umfassende Einzel­ausstellung, kuratiert von dem einfluss­reichen Kunst­kritiker Ugo Ojetti (auch der wird nächstes Jahr zu den Unter­zeichnern von Gentiles Mani­fest gehören).

Einzelausstellungen im Palazzo dell’Esposizione

Neben Ubaldo Oppi werden weitere zwei hand­voll Künst­ler mit einer Einzel­ausstellung im Palazzo dell’Espo­sizione präsen­tiert. Da ist zum Beispiel der spät­impressionis­tische Maler Armando Spadini (1883-1925), der im Jahr nach der Biennale im Alter von nur 42 Jahren sterben wird. Der Kritiker der Londoner Zeit­schrift für Schöne und Angewandte Kunst The Studio, Selwyn Brinton, lobt dessen malerische Qualität als „superb“.

Oder da ist Edgar Chahine (1874-1947), französischer Maler und Radierer armenischer Abstammung, der u.a. an der Accade­mia di belle arti di Venezia studiert hat, seit 1901 immer wieder auf der Biennale ver­treten gewesen ist, und 1903 sogar die Gold­medaille der Biennale mit nach Hause genommen hat.

Armando Spadini, Bildnis des Malers und seiner Frau / Edgar Chahine, Bijou. Lizenz: PD-Art. Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte della città di Venezia, Ill. 67/73
Armando Spadini, Bildnis des Malers und seiner Frau / Edgar Chahine, Bijou. Lizenz: PD-Art. Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte della città di Venezia, Ill. 67/73.

Es gibt historische Rückgriffe mit Einzel­ausstellungen für den Mailänder Genre­maler Domenico Induno (1815-1878) und den Illustrator und Maler Ugo Valeri (1873-1911) – ein „geist­voll exzen­trisches Talent“, meint Brosch.

Die kürzlich verstorbenen Pietro Fragia­como (1856-1922) und Bartolo­meo Bezzi (1851-1923) werden mit Gedächtnis­ausstellungen geehrt.

Neben der Oppi-Schau bündelt aber vor allem die Einzel­ausstellung in der Sala 26 mit 14 Gemälden von Felice Caso­rati (1883-1963) die meiste Aufmerksam­keit.

Der belgische Kunstkritiker Paul Fierens, der für Beaux-Arts über die Biennale schreibt, kritisiert den Rückfall in den „verlogensten Akademismus“ einiger Anti-Avantgardisten, in diesem Sinne sei es möglich, dass Casorati „im Prinzip falsch“ liege:

Dennoch beeindruckt er uns mit viel Kunstfertigkeit, Charme und Gelassenheit. Er weiß zu komponieren, den Raum zu nutzen, offen zu sprechen; erlesene Figuren machen alles wett, was in der Farbe oder im Strich unmenschlich sein kann.

Unter den übrigen Werken in der ita­lienischen Sektion wird in Sachen Malerei vor allem eine Auf­erstehung des Tiroler Malers Albin Egger-Lienz (1868-1926) auf­fällig – „beinahe zu brutal mit diesen hageren, kompromiss­losen Bauern­figuren“, schreibt Brinton.

Albin Egger-Lienz, Die Auferstehung, 1923/24. Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte della città di Venezia
Albin Egger-Lienz, Die Auferstehung, 1923/24. Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte della città di Venezia.

Und in Sachen Skulptur finden die Arbeiten von Adolfo Wildt (1868-1931) Beachtung. Dass die Ab­bildung seiner Mussolini-Büste den Bild­teil des Biennale-Kata­logs von 1924 einleitet, kann als Vor­griff auf den faschis­tischen Führer­staat nicht verwundern.

Der zukünftige Generalsekretär: Antonio Maraini

Der Bildhauer und Kunst­kritiker Antonio Maraini (1886-1963) hat vor dem Krieg nur einige wenige Stücke auf der Biennale zeigen können. Jetzt ist auch er auf der Biennale mit einer Einzel­ausstellung ver­treten: 48 Plastiken in der Sala 23 („dekorativ und harmonisch“, meint Brinton).

Später wird Maraini, nicht nur in Vene­dig, Karriere machen: 1927 wird er zum General­sekretär der Biennale berufen und dies bis 1942 bleiben. Zudem wird er als Commissario des Sinda­cato Nazionale Fascista di Belle Arti Ab­geordneter im faschis­tischen Parlament werden.

Im Jahr der Bestellung Marainis zum General­sekretär wird der König­liche Gesetzes­erlass Nr. 515 vom 7. April 1927 ver­fügen, dass Aus­stellungen von mehr als nur lokaler Bedeutung in Italien zukünftig jeweils durch Regierungs­beschluss genehmigt werden müssen. Diese Genehmigung könne nur erteilt werden für Kunst­ausstellungen, die „den edlen nationalen Kunst­traditionen ent­sprechende Ergebnisse garantieren.“

Anderthalb Jahre später wird das Gesetz Nr. 3229 vom 24. Dezem­ber 1928 eben diese Ge­nehmigung auf Dauer der Espo­sizione biennale inter­nazionale d’arte gewähren. Offenbar ist unter General­sekretär Maraini nun nicht mehr zu befürchten, dass die Venedig­biennale den „edlen nationalen Kunst­traditionen“ zuwider handeln könnte.

Und ein weiteres Jahr später, mit dem Königlichen Gesetzes­erlass Nr. 33 vom 13. Januar 1930, wird der von Maraini voran­getriebene Umbau der Biennale ab­geschlossen sein. Die Biennale ist nunmehr keine Ver­anstaltung der Stadt Venedig mehr, sondern eine Ein­richtung des faschis­tischen Staates. Der Leitungs­ausschuss der dafür neu ein­gerichteten Körper­schaft liegt bei einem fünf­köpfigen Gremium, dessen Mit­glieder durch die Regierung bestellt werden. Die Stadt Venedig jedoch muss auf eigene Kosten weiterhin für die Instand­haltung der Gebäude in den Giardini pubblici sorgen. Aber kehren wir zurück in das Jahr 1924.

Die ausländischen Beiträge im Ausstellungspalast

Drei Sonder­schauen im Palazzo dell’Espo­sizione zeigen Kunst aus den USA, aus Rumänien und Japan, aller­dings ohne allzu positive Aufmerk­samkeit einzu­sammeln.

Die größte der drei Aus­stellungen ist hinten in den Sälen 12 und 13 zu finden, mit je einem Gemälde von 65 Künstlern und 10 Künst­lerinnen, zusammen­gestellt von der American Federation of Arts. Zu konservativ, scheint das Brosch, Amerika sei „kaum über Sargent hinaus­gekommen“. Immerhin lässt er zumindest die „Figuren­maler“ wie Walter Ufer (1876-1936) und Giovanni Battista Troccoli (1882-1940) gelten.

Rae Sloan Bredin, In the Studio, um 1920 / Giovanni Battista Troccoli, Mrs. Edwin Champney (Lady with a Tray), 1922. Lizenz: PD-Art, Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 30/5
Rae Sloan Bredin, In the Studio, um 1920 / Giovanni Battista Troccoli, Mrs. Edwin Champney (Lady with a Tray), 1922. Lizenz: PD-Art, Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 30/5.

Brinton urteilt, die Aus­stellung könne „das Interesse und die Neugier, mit denen sie von ita­lienischen Kunst­liebhabern erwartet wurde, nicht ganz befriedigen.“ Mir scheint das etwas sehr euro­päisch abschätzig zu sein, vor allem wenn man an die stark traditionalis­tischen Aus­stellungen der ‚great nations of Europe‘ denkt, die es im weiteren Rund­gang durch die Biennale zu sehen gibt.

Etwas vollgepackt mit 106 Gemälden und Skulpturen von 36 rumänischen Künst­ler:innen sind die Säle 19 und 20, die allerdings nur bei­läufig bemerkt werden. Und in der kleinen Sala 41, gleich links vom Vesti­bül, sind 12 Seiden­malereien und kolorierte Holz­schnitte aus Japan zu sehen. Brosch meint, „man sieht sie immer gern, diese asia­tischen Zauber­künstler aus dem Heimat­land Hokusais“. Nun ja. Ich finde jedenfalls keinen Hin­weis darauf, dass ein japanisches Kultur­institut an der Zusammen­stellung beteiligt gewesen wäre.

Die Pavillons in den Giardini

Pianta topografica dei padiglioni stranieri. Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte
Pianta topografica dei padiglioni stranieri. Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte.

In 100 Jahren, zur 60. Inter­nationalen Kunst­ausstellung 2024, werden in den Giardini Pubblici 27 Pavillons für nationale und supra­nationale Beiträge zur Verfügung stehen. Sie sind seit 1907 nach und nach hinzu­gekommen, um den zentralen Ausstellungs­palast zu entlasten.

Jetzt, 1924, sind es acht: Belgien (seit 1907), Ungarn (1909), Deutsch­land (1909, ursprünglich als bayerischer Pavillon), Groß­britannien (1909), Frank­reich (1912), Nieder­lande (1912, ursprüng­lich schwedischer Pavillon), Russ­land (1914) und, zuletzt hinzu­gekommen, Spanien (1922).

Gleich rechts neben dem Ausgang des Ausstellungs­palasts, vorbei an der Feuer­wache, setzt der hollän­dische Pavillon ganz auf Grafik, präsentiert 168 Werke von 30 Künst­ler:innen, denen es „weder an Kühn­heit noch an Inspira­tion“ fehle (Fierens) und die „einen starken Eindruck“ machen (Wald­mann). Mit dabei sind etwa Radierungen von Lode­wijk Schelf­hout (1881-1943), einige Arbeiten des jungen Jan Wiegers (1893-1959) oder Holz­schnitte von Johan ten Klooster (1873-1940).

Johan ten Klooster, Visser. Lizenz: PD-Art, Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 158
Johan ten Klooster, Visser. Lizenz: PD-Art, Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 158.

Ein paar Schritte weiter hat der belgische Pavillon eine recht bunte Mischung ver­schiedener Gattungen im Angebot: Malerei von James Ensor (1860-1949) zum Beispiel oder Skulpturen, Grafik und Malerei von Rik Wouters (1882-1916). In der deutsch­sprachigen Kritik werden aber vor allem das Dutzend Gemälde von Eugène Laermans (1864-1940) gelobt: „gedanken­tiefe“ (Ankwicz-Kleehoven), „mensch­lich ergreifende Bilder“ (Brosch) seien das.

Eugène Laermans, Die Getreideträger / Der Blinde und der Lahme. Lizenz: PD-Art, Quellen: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 150 / Digital Commonwealth
Eugène Laermans, Die Getreideträger / Der Blinde und der Lahme. Lizenz: PD-Art, Quellen: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 150 / Digital Commonwealth.

Nebenan beschränkt sich der spanische Pavillon meist auf je einzwei Werke pro Künstler und bringt so Malerei, Skulptur und Grafik von nicht weniger als 68 Künstlern unter. Aller­dings stößt das auf eher wenig positive Resonanz. Am ehesten werden noch genannt Skulpturen von Mariano Benlliure (1862-1947), ein „bewunderns­werter“ (Brinton) Frauen­kopf des gerade ver­storbenen Impressionisten Joaquín Sorolla y Bastida (1863-1923) sowie – seltsamer­weise – zwei Gemälde von José Gutiérrez Solana (1886-1945).

Mariano Benlliure, Der Maler Joaquín Sorolla y Bastida / Joaquín Sorolla y Bastida, Portrait einer Frau. Lizenz: PD-Art, Quellen: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 105/90
Mariano Benlliure, Der Maler Joaquín Sorolla y Bastida / Joaquín Sorolla y Bastida, Portrait einer Frau. Lizenz: PD-Art, Quellen: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 105/90.

Nach einer Pause im Caffé-Ristorante kann man hinüber zum Pavillon Ungarns schlendern. Dort beschränkt man sich auf 23 Künstler, hat aber auch vier Arbeiten einer Künst­lerin vor Ort: Elsa Kövesházi-Kalmár (1876-1956). Die Aufmerk­samkeit konzen­triert sich aber mehr auf die Gemälde und Radierungen von Gyula Rudnay (1878-1957) sowie die Pastelle und Zeichnungen von József Rippl-Rónai (1861-1927) und die Gemälde von Adolf Fényes (1867-1945). Unter den Zeich­nungen werden zudem insbesondere jene von Sefan Szönyi hervor­gehoben.

Insgesamt kommt der ungarische Auftritt bei dieser Biennale in der Kritik aus­gesprochen gut weg. Selbst der nationalis­tisch gesinnte Korrespondent der Kölnischen Zeitung, der sonst an allem außer der deutschen Ausstellung kein gutes Haar lässt, lobt die „Farben­frische und manch kühnes Experimen­tieren“. Und ganz ähnlich hebt Fierens die ungarischen Koloristen hervor: Es gebe da „einige bezaubernde Werke, die dem Impressionismus eine neue Frische verleihen“.

Adolf Fényes, Stadt unter dem Schnee. Lizenz: PD-Art, Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 145
Adolf Fényes, Stadt unter dem Schnee. Lizenz: PD-Art, Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 145.

Oben auf der „Montagnola“, dem Hügel mit den Pavillons der Franzosen, Briten und Deutschen, sieht es weniger erfreulich aus.

Mit seinen rund 250 Werken von ca. 80 Künstlern und zwei Künstlerinnen sehr voll und etwas museal geraten ist der franzö­sische Auf­tritt. Gut ein Fünftel der Werke sind aus dem Bestand des Musée du Luxem­bourg (die beiden Kommissare des fran­zösischen Pavillons sind Kuratoren des Museums).

Auch Fierens urteilt zwar, „trotz seiner Mängel“ sei das einer der besten Pavillons (einer der besten unter deren acht wohl­gemerkt), aber er kritisiert die „hervorragende Durchschnitt­lichkeit“ der präsentierten Werke und beklagt, dass Künstler wie Matisse, Braque, Derain, Vlaminck u.a. „durch Abwesen­heit glänzen: Das ist eine große Schande“. Immerhin findet eine kleine Sonder­schau mit vier Gemälden und 17 Zeich­nungen von Jean Louis Forain (1852-1931) ebenso allgemein Anklang wie eine kleine Sektion mit 12 Zeich­nungen von Edgar Degas (1834-1917).

Jean Louis Forain, La Maison retrouvée. Lizenz: PD-Art, Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 102
Jean Louis Forain, La Maison retrouvée. Lizenz: PD-Art, Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 102.

Nicht besser steht es nebenan mit dem Pavillon Groß­britanniens: Etwa gleich viel Werke von noch mehr Künst­ler:innen (mit aller­dings höherem Frauen­anteil als bei den Franzosen), einige Anerken­nung findet indes nur ein Saal mit Werken von William Nichol­son (1872-1949), „deren Ent­wurf interes­sant ist, deren Rea­lismus kaum stört und deren Farbe ziem­lich traurig ist“ (Fierens).

Beachtenswert mögen viel­leicht noch einige Aqua­relle sein, „eine Technik, die den Briten immer gelegen“ (Brosch). Selwyn Brinton schreibt, italie­nische Freunde hätten ihm vom britischen Pavillon eher in Worten höf­licher Zustimmung gesprochen als mit irgend­etwas, das auch nur an­nähernd an Begeisterung grenze.

Der deutsche Pavillon

Padiglione della Germania, 1912. Quelle: Ugo Ojetti: La decima esposizione d'arte a Venezia – 1912. Bergamo: Instituto Italiano d'Arti Grafiche, 1912. S. 35.
Padiglione della Germania, 1912. Quelle: Ugo Ojetti: La decima esposizione d'arte a Venezia – 1912. Bergamo: Instituto Italiano d'Arti Grafiche, 1912. S. 35..

Gleich neben dem britischen und gegen­über dem fran­zösischen Pavillon haben die Deutschen ihren Ausstellungs­bau. Das ist noch nicht das zum Nazi-Protzbau umgestal­tete Monstrum, das die Nach­geborenen kennen, sondern ein hübscher, vielleicht etwas kitschiger, kleiner Kunst­tempel, der nach Vor­entwürfen der Münchener Sezession 1909 als bayerischer Pavillon eröffnet und seit 1912 als „Padi­glione della Germania“ bespielt wird.

Vor zwei Jahren, auf der 13. Inter­nationalen Kunst­ausstellung 1922, hat dieser deutsche Pavillon Furore gemacht. Hans Posse, Direktor der Dresdener Gemälde­galerie, hatte eine Schau zusammen­gestellt, die für die Progres­sivität der Kunst in der jungen Weimarer Repu­blik stand: Im Mittel­punkt Sonder­kollektionen von Max Lieber­mann, Lovis Corinth, Max Slevogt und Oskar Kokoschka, dazu Werke von Heckel, Kirchner, Marc, Beck­mann, Pech­stein, Schmidt-Rottluff, Feininger, Kollwitz, Lehm­bruck, Kolbe, Barlach und Sintenis u.v.m.

Nunmehr hat die venezianische Ausstellungs­leitung für die Biennale 1924 um einen Schwer­punkt auf süd­deutscher Kunst gebeten. Mit der Zusammen­stellung beauftragt wurde eine Kommission aus dem Umkreis der Münchener Sezession unter dem Vorsitz von Franz von Stuck (1863-1928).

Franz von Stuck, Das Urteil des Paris, 1923. Lizenz: PD-Art, Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 118
Franz von Stuck, Das Urteil des Paris, 1923. Lizenz: PD-Art, Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 118.

Die Zusammenstellung umfasst meist nur ein, manch­mal zwei Werke von nicht weniger als 73 Künst­lern und drei Künst­lerinnen (Maria Caspar-Filser (1878-1968), Maria Hiller-Foell (1880-1943) und Helène Schatten­mann).

Stuck selber hat ein Urteil des Paris entsandt, Leo Samberger (1861-1949) durfte drei Porträts schicken, Heinrich von Zügel (1850-1941) hat zwei seiner Land­wirtschafts­schinken vor Ort (sein Sohn Willy darf ein Bronze-Zicklein beisteuern).

Das stößt international auf eher wenig Interesse. Fierens erwähnt den deutschen Pavillon nicht einmal, Brinton bemerkt nur beiläufig, der deutsche Pavillon sei „zurück­haltender als vor zwei Jahren“. Die meisten deutschen Bericht­erstatter äußern sich positiver, wenn­gleich mit etwas Reserve. Der Kunst­historiker Emil Wald­mann befindet in Kunst und Künstler, „schlicht und recht“, „achtbar, höchst achtbar, aber ohne größeres faszi­nierendes Interesse“.

Ich halte es da eher mit dem Korrespon­denten des Cicerone, der den deutschen Pavillon scharf kritisiert,

da Herr v. Stuck als verantwort­licher Organisator nichts anderes wußte, als die Mittel­mäßig­keiten seiner Kollegen aus der längst von der Zeit überholten Münchener Sezession nach Venedig zu ver­frachten. [….] Gibt es in der Tat kein Mittel, um gegen einen solchen Miß­brauch in der Ausübung eines Ehren­amtes energisch ein­zu­schreiten?

Heinrich von Zügel, Zur Tränke. Lizenz: PD-Art, Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 137
Heinrich von Zügel, Zur Tränke. Lizenz: PD-Art, Quelle: Catalogo XIVa Espo­sizione Inter­nazionale d'Arte, Ill. 137.

Die Ausstellung der UdSSR im russischen Pavillon

Möglicherweise wäre die Resonanz auf diese Biennale in der inter­natio­nalen Presse positiver aus­gefallen, wenn nicht die, wohl mit am meisten Spannung erwartete nationale Aus­stellung – der erste Auf­tritt der UdSSR auf der Venedig­biennale – zu spät für die meisten Rezensenten eröffnet hätte: Erst nahezu zwei Monate nach Start der Biennale, am 19. Juni 1924.

Die Gründe für die Verzögerung sind vielfältig: Den Tod Lenins im Januar, den langen Anlieferungs­weg nach Italien, „un­endliche Formali­täten“ beim grenz­überschreitenden Kunst­versand machen die sowje­tischen Organisa­toren geltend.

Jetzt aber hat das Organisations­komitee, nach eigenen Angaben, 1398 Werke nach Venedig verschickt. Das ist natürlich viel zu viel, um alles im Rus­sischen Pavillon auszustellen: Malerei, Zeich­nungen, Aquarelle, Skulp­turen, angewandte Kunst aus den letzten zehn Jahren. Etwa 600 Arbeiten sind jetzt wirk­lich im Padiglione del U.R.S.S. zu sehen, „eine höchst verschieden­artige Zusammen­stellung von Werken aller mög­lichen Richtungen“ (Brosch).

Im Vestibül, prominent direkt gegenüber dem Eingang gehängt, finden sich zum Beispiel Skizzen und Entwürfe für Theater­kostüme der Avantgarde-Künstlerin Alexandra Exter (1882-1949).

Alexandra Alexan­drowna Exter, Entwürfe für Theater­kostüme. Lizenz: PD-Art, Quelle: Biblio­thèque nationale de France – Gallica – Renaissance, S. 545
Alexandra Alexan­drowna Exter, Entwürfe für Theater­kostüme. Lizenz: PD-Art, Quelle: Biblio­thèque nationale de France – Gallica – Renaissance, S. 545.

Deutlich mehr Aufmerksamkeit findet aber ein monumen­taler Propaganda­schinken von Juri Annenkow (1889-1974) im Haupt­saal des Pavillons: Sein Portrait von Leo Trotzki (1923) zeigt den Revolutionär im Militär­mantel vor kubistischer Land­schaft mit aus­gestrecktem Arm und Finger­zeig den Weg in die Zukunft weisend.

Ein „stark posierendes, aber ungemein ein­dring­liches Porträt Trotzkijs“ sei das, meint Ankwicz-Kleehoven; „revolutionäre[n] Fanatismus“ dagegen diagnosti­ziert Brosch. Die Nach­geborenen würden noch deut­lich kritischer auf das Ding schauen, aber es hat wohl die stalinis­tischen Säuberungen nicht über­lebt, gilt jeden­falls heute als ver­schollen.

Neben Annenkows Trotzki-Gemälde und Der Bolschewik von Boris Kustodijew (1878–1927) sind noch neun weitere Werke aus dem Moskauer Zentral­museum der Roten Armee und Flotte nach Venedig ent­liehen, darunter Kusma Petrow-Wodkins (1878-1939) Nach der Schlacht (1923), gleich zwei Reihen weiter links neben Annenkows Trotzki. Das Konvolut aus dem Armee­museum stellt sicher, dass die „Errungen­schaften“ des bolschewis­tischen Putsches im Oktober 1917 und des Siegs über die Weiße Armee im Russischen Bürger­krieg angemessen präsentiert werden.

Boris Michailowitsch Kustodijew, Der Bolschewik, 1920. mod jvf, entsättigt. Lizenz: PD-Art, Quelle: Wikimedia Commons
Boris Michailowitsch Kustodijew, Der Bolschewik, 1920. mod jvf, entsättigt. Lizenz: PD-Art, Quelle: Wikimedia Commons.

Im extremen Kontrast zur Propaganda­kunst steht eine Auswahl suprematis­tischer Arbeiten, die nach Venedig verschickt wurden. Welche davon wirk­lich im Pavillon gezeigt werden ist unklar. Nicht nur Platz­gründe, sondern auch ideo­logische Bedenken gegen diesen „abstrakten Forma­lismus“ der Suprema­tisten werden die Auswahl geschmälert haben.

Wahr­schein­lich nicht zu sehen ist die legendäre Trias von Schwarzes Quadrat, Schwarzes Kreuz und Schwarzer Kreis von Kasimir Male­witsch (1879-1935), die der Künstler für die Aus­stellung ein­gereicht hat. Ganz sicher zu sehen sind aber immer­hin zwei suprematis­tische Werke von Alexander Rod­tschenko (1891-1956).

Das abschließende Urteil von Ludwig Brosch in Kunst für Alle: „Im ganzen macht der Pavillon einen sehr entwicklungsfähigen Eindruck“.

Die Ermordung Giacomo Matteottis

Während in Venedig die 14. Biennale tobt, ergibt sich in Italien die wohl letzte Möglich­keit, die Eta­blierung der faschis­tischen Dikta­tur zu ver­hindern.

Am 10. Juni 1924 wird der sozialis­tische Ab­geordnete Giacomo Matte­otti von einem faschis­tischen Kommando ent­führt und ermordet, nachdem er zehn Tage zuvor im Parla­ment den Terror und die Fälschungen der April­wahlen ange­prangert und die Annul­lierung der Wahl gefordert hat.

Alle Umstände der Tat weisen darauf hin, dass der Auftrag für den poli­tischen Mord aus dem unmittel­baren Umfeld von Musso­lini oder von diesem selbst stammt.

Die Unter­stützung für Musso­linis Regime in der italie­nischen Gesell­schaft bröckelt, Ab­geordnete der Sozia­listen, Liberalen, Christ­demokraten und Konser­vativen verlassen die Camera dei deputati und konstitu­ieren ein Gegen­parlament. Musso­lini gerät auch inner­partei­lich unter Druck.

Im Sommer und Herbst 1924 gäbe es die Chance den „Duce“ zu stürzen, aber es gelingt nicht, ein sta­biles und handlungs­fähiges Bünd­nis anti­faschistischer und demo­kratischer Kräfte zu schließen.

Im Januar 1925 wird es dann zu spät sein und Musso­lini wird den Umbau Italiens zum faschis­tischen Führer­staat in aller Brutalität fort­setzen können.

Quellen und Darstellungen