Die 50. Mülheimer Theatertage und der Dramatikpreis 2025
Die Stücke und die Preise
Der Mülheimer Dramatikpreis 2025 und auch der Publikumspreis der 50. Mülheimer Theatertage gehen an Maria Milisavljević für ihr Stück „Staubfrau“.

Zum Abschluss der 50. Mülheimer Theatertage hat die fünfköpfige Preisjury aus Theaterpraktiker:innen und -kritiker:innen den mit 15.000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikpreis 2025 Maria Milisavljević zugesprochen.
Ausgezeichnet wurde sie für ihr sprachmächtiges Stück „Staubfrau“, das patriarchale Gewalt thematisiert (Kurzkritik).
Nach mehr als zweistündiger, öffentlicher Jurydiskussion setzte sich in der finalen Abstimmung Milisavljevićs „Staubfrau“ knapp mit 3:2 Stimmen gegen Bonn Parks „They Them Okocha“ durch (Kurzkritik).
„Extrem beeindruckt“ von Milisavljevićs Text zeigte sich vor allen Jurymitglied und Regisseurin Nora Schlocker und hob die „besondere Sprache“ des Stücks und seine „Bildhaftigkeit“ hervor. Eine berührend schöne Sprache machte auch der Dramaturg Andreas Karlaganis aus. Es sei eine poetische Sprache, aber „immer auch sehr harte Sprache“ ergänzte der Theaterkritiker Stephan Reuter, dessen Stimme am Ende den Ausschlag gab.
Maria Milisavljević, geboren 1982 in Arnsberg, ist Theaterautorin und Übersetzerin und lebt in Berlin. Die Theaterstücke der promovierten Kulturwissenschaftlerin sind vielfach übersetzt und auch international erfolgreich. Mit ihrem ersten Stück „Brandung“ gewann sie 2013 den Kleistförderpreis für junge Dramatiker. Für „Beben“ erhielt sie den Else-Lasker-Schüler-Stückepreis und war bereits 2018 für den Mülheimer Dramatikpreis nominiert.
Der Publikumspreis
Auch der Publikumspreis ging an Maria Milisavljević. Ausschlaggebend für dessen Vergabe waren Stimmzettel, mit denen das Publikum im Anschluss an jede Aufführung die Stücke in die hübschen – wenngleich anfangs etwas schulnotenhaften – Kategorien „Mir gefiel … sehr gut, gut, halbwegs, gar nicht“ einsortieren konnte. Zum ersten Mal war in diesem Jahr auch der Publikumspreis mit immerhin 5.000 Euro ausgestattet.

Alle nominierten Stücke
Die 2025 für den Mülheimer Dramatikpreis nominierten Stücke waren – von einem Gremium ausgewählt aus nicht weniger als 254 „originär dramatischen, deutschsprachigen Stücke[n] lebender Autor*innen“, die im Zeitraum Januar 2024 bis Januar 2025 uraufgeführt wurden:
- Nora Abdel-Maksoud: Doping
- Maria Milisavljević: Staubfrau
- Lukas Rietzschel: Das beispielhafte Leben des Samuel W.
- Dea Loher: Frau Yamamoto ist noch da
- Elfriede Jelinek: Asche
- Bonn Park: They Them Okocha
- Raphaela Bardutzky: Altbau in zentraler Lage
Doping von Nora Abdel-Maksoud

Nora Abdel-Maksoud, Doping. Münchner Kammerspiele. Şafak Şengül, Stefan Merki, Vincent Redetzki, Wiebke Puls. Foto/Rechte: Judith Buss.
Der Spitzenkandidat des FDP Ortsverbandes Wenningstedt-Braderup auf Sylt, der Insel der „pimmelharten, autonomen High-Performer“, hat ein Problem – ein „Pipiproblem“. Die Inkontinenz des „brillanten Rhetorikers“ und „Chancen-Nutzer-Pimmelfrosch“ macht sich gerade bei Wahlkampfauftritten wenig werbewirksam sichtbar.
Was tun, wenn die öffentliche Gesundheitsversorgung infolge von eigenen „Deinvestitionsentscheidungen“ kaputt ist und die private Behandlung des chronisch Inkontinenten wg. mangelndem ROI verweigert wird? Und zuletzt: Kann eine „feministische Konterrevolution“ gelingen?
Nora Abdel-Maksouds Farce über den politischen Arm des neoliberalistischen Fundamentalismus spart nicht an starken Sprüchen und absurden Einfällen. Und die Urinszenierung (ha, ha) der Autorin selbst (Münchner Kammerspiele) ist recht kurzweilig, aber Inkontinenz als komödiantischer Angelpunkt für einen Angriff auf den Neoliberalismus ist vielleicht doch etwas zu läppisch und auch ein Stück weit ableistisch.
Eins der sieben besten Stücke des letzten Jahres? Das Auswahlgremium befand, die „Pointendichte“ suche „im deutschsprachigen Theater ihresgleichen“. Nun ja, ich weiß nicht: halbwegs.
Nora Abdel-Maksoud: Doping. R: Nora Abdel-Maksoud. Münchner Kammerspiele, UA: 5. April 2024. Mülheimer Theatertage: Stadthalle, 10. Mai 2025.
Staubfrau von Maria Milisavljević

Maria Milisavljević, Staubfrau. Auftragswerk für das Schauspielhaus Zürich, Regie: Anna Stiepani. Mit: Anita Iselin Soubeyrand, Nancy Mensah-Offei, Lola Dockhorn. Foto: © Sabina Bösch / Schauspielhaus Zürich.
„Der Boden ist Blut. Unter dem Pflaster klafft die Wunde. Darunter rast der Fluss.“ Es ist eine Archäologie der patriarchalen Gewalt, die Maria Milisavljević in ihrem Stück entfaltet, von verbaler und struktureller Gewalt bis hin zum Femizid.
Der „Theatertext für eine oder mehrere weiblich sozialisierte Personen“ verzichtet auf eine Zuordnung der Repliken auf definierte Figuren, es sind kollektive Erfahrungen und transgenerationale Traumata, die hier verhandelt werden, in einer Sprache, deren lyrische Qualität, mitunter sogar Klassizität, einen gleichermaßen ergreifenden wie erkenntnisfordernden Verfremdungseffekt macht.
Beim ersten Lesen wird schon deutlich, dass es sich um ein sehr starkes Stück handelt. Beglaubigt wird das durch die Einrichtung der Uraufführung (Regie Anna Stiepani) des Auftragswerks am Schauspielhaus Zürich und das überragende Schauspiel der drei Darstellerinnen (Lola Dockhorn, Nancy Mensah-Offei, Anita Iselin Soubeyrand).
Das Auswahlgremium machte in Staubfrau ein „ebenso präzises wie konkretes Stück Gesellschaftsbeschreibung“ aus. Keine Frage, im Sinne der Publikumsvotings: sehr gut. Zurück zum Dramatikpreis
Maria Milisavljević: Staubfrau. R: Anna Stiepani. Schauspielhaus Zürich, UA: 11. Januar 2025. Mülheimer Theatertage: Theater an der Ruhr, 11./12. Mai 2025.
Das beispielhafte Leben des Samuel W. von Lukas Rietzschel

Lukas Rietzschel, Das beispielhafte Leben des Samuel W. Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau. Foto/Rechte: Pawel Sosnowski.
Kommunaler Stichwahlkampf in einer deutschen Stadt im äußersten Osten. Wie kommt es, dass „eine Gesellschaft ihren eigenen Untergang wählt“? Und was treibt den Kandidaten der extremen Rechten an? Das semi-dokumentarische Stück – basierend auf, so heißt es, über 100 Interviews – montiert Mutmaßungen über den Kandidaten zu einem exemplarischen Lebenslauf der Radikalisierung und zu einer Befindlichkeitsstudie seiner Wähler:innen.
„Wer sich dafür interessiert, warum die rechtsextreme AfD gerade in Ostdeutschland ungeahnte Erfolge feiert, kommt um Lukas Rietzschels ‚Das beispielhafte Leben des Samuel W.‘ kaum herum“, meinte das Auswahlgremium. Ich fürchte, das gilt allenfalls halbwegs. Der Erkenntnisgewinn bleibt mager: Eine halbstündige Lektüre irgendeines der einschlägigen Internetforen vermittelt wohl einen instruktiveren und unverstellteren Einblick in die Motive des aktiven wie passiven rechtsextremen Wahlverhaltens.
Zum Glück konstrastiert die Inszenierung der Uraufführung am Gerhart-Hauptmann-Theater das ansonsten recht matte Bühnengeschehen mit einem durchgehenden, tänzerischen Kommentar in trumpesker Choreographie (Elise de Heer).
Lukas Rietzschel: Das beispielhafte Leben des Samuel W. R: Ingo Putz. Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau, UA: 20. Januar 2024. Mülheimer Theatertage: Stadthalle, 14. Mai 2025.
Frau Yamamoto ist noch da von Dea Loher

Dea Loher, Frau Yamamoto ist noch da. Nicole Heesters, Katharina Hauter. Schauspiel Stuttgart. Foto/Rechte: Björn Klein.
„Die Tür ist immer offen. Frau Yamamoto hat es gerne so.“ Die offene Wohnungstür der alten Dame, frühere Sägewerksbesitzerin, die von schaurig-blutigen Unfällen im Betrieb und anderen Verlusten zu erzählen weiß, gewährt nicht nur Einblicke in ihr Leben, sondern gibt auch Einsichten frei in die vielgestaltigen Möglichkeiten des Misslingens menschlicher Beziehungen.
In reigenhaften Episoden, fein verknüpft über Dingsymbole und Handlungsmotive, mit Frau Yamamoto als dezentriertem Zentrum, erzählt Dea Loher mit nachsichtiger Verwunderung von Sehnsucht und Hoffnung, Scheitern, Abschied und Trauer.
Ich bin nicht sicher, ob die – allerdings angemessen gelassene, workshop-artige – Inszenierung des Schauspiels Stuttgart dem Stück in jeder Hinsicht gerecht wird, aber das Bühnenbild mit williamkentridehaften Projektionen (Yoav Cohen) ist sehr hübsch.
„Wie Dea Loher all diese Handlungsfäden sachte, andeutungsweise und doch entschlossen miteinander verknüpft, zeugt von hochsensiblem Gespür für die Reduktion aufs Wesentliche“, urteilte das Auswahlgremium. Absolut – und mindestens gut.
Dea Loher: Frau Yamamoto ist noch da. R: Burkhard C. Kosminski. Schauspiel Stuttgart, P: 11. Oktober 2024. UA: Schauspielhaus Zürich, 12. September 2024. Mülheimer Theatertage: Stadthalle (Studio), 17./18. Mai 2025.
Asche von Elfriede Jelinek

Elfriede Jelinek, Asche. Thalia Theater, Hamburg. Ensemble. R: Jette Steckel. Foto / Rechte: Armin Smailovic.
„Und am Ende wird ein Schiff kommen und mir den Einen nehmen, den ich so lieb wie keinen, er fehlt mir, ich hab ein glühend Messer in meiner Brust, keiner zieht es mir raus, weil sonst an dieser Stelle ein Loch bliebe zum Durchschauen.“
Elfriede Jelineks Totenklage um ihren verstorbenen Ehemann, die Klage um und Anklage der Gaia, der zerstörten Erde, die Trauer um die Leere im Leben der gerade noch Übriggebliebenen: „Asche“ ist eine Textfläche, die so mächtig und schmerzhaft ist wie ein wuchtiger Hieb vor die Brust.
Die Inszenierung von Jette Steckel am Thalia Theater transferiert klug den uferlosen Monolog ins nachvollziehbar Dialogische und setzt der erdigen Schwere einen Kontrapunkt durch Akrobatik von Künstler:innen des Kinderzirkus Zartinka, die dem Ausgeliefertsein Leichtfüßigkeit verleiht.
Das Auswahlgremium sah im Stück ein weiträumiges Nachdenken „Enden und Endlichkeiten“: „Schließlich übernehmen im Text Motive der Einsamkeit, des Alters, des Verfalls, vorgetragen mit Wehmut, Hilflosigkeit und einer verzweifelten Bissigkeit. Ein Endspiel.“
Da es wenig Sinn hat, der Nobelpreisträgerin einen fünften Mülheimer Dramatikpreis hinterher zu schmeißen, sag ich mal: außer Konkurrenz.
Elfriede Jelinek: Asche. R: Jette Steckel. Hamburg, Thalia Theater, P: 12. Januar 2025. UA: Münchner Kammerspiele, 26. April 2024. Mülheimer Theatertage: Stadthalle (Studio), 21./22. Mai 2025.
They Them Okocha von Bonn Park

Bonn Park, They Them Okocha. R: Bonn Park. D: Jannik Mühlenweg, Lioba Kippe, Arash Nayebbandi, André Meyer. Schauspiel Frankfurt. Foto / Rechte: Robert Schittko.
Vier Freunde erleiden die Abwärtsspirale des Lebens, von der Kindheit über die „Pubertät+“ bis hin zum „Rest“: „Früher, damals. Es war besser, bestimmt. Schlimmer als heut war es nicht. Nichts ist schlimmer als heut. Außer vielleicht später.“
Man kann Bonn Parks Groteske als entwicklungspsychologischen Essay über eine infantilisierte Gesellschaft nehmen, die sich in regressiven Sehnsüchten verliert und ihre Autoritätsfixerung nicht mehr los wird.
Kein Wunder, dass der politische Diskurs sich verengt auf mit kindlicher Bockigkeit gebrülltem „Ausländer raus“ und mit ebensoviel Bockigkeit skandiertem Beharren auf eigene Pronomen. Nur noch, dass die Autorität, der Bundeskanzler, alles falsch macht, darauf kann man sich verständigen. Dass sich der Sensenmann am Ende auf reiche Ernte freut, ist nachvollziehbar.
Ob man die Diagnose teilen muss, dass die grassierende Infantilisierung zurückgeht auf frühkindliche Verblödungsstrategien (Teletubbies als Beispiel), sei dahin gestellt. Die Inszenierung der Uraufführung, am Schauspiel Frankfurt eingerichtet vom Autor selbst, schafft es jedenfalls, von einem sehr schmalen Grat nicht dahin abzustürzen, wo die Figuren nicht mehr zugänglich wären und ihre trumpeske Schwundsprache das Publikum enerviert aus dem Saal triebe.
Ich zitiere mal nicht die Begründung des Auswahlgremiums, weil die ein anderes Stück meinen muss, und sage einfach: gut. (Und: Wie Jay Jay Okocha für die Frankfurter Eintracht seinerzeit Oli Kahn ausgetanzt hat, war wirklich unglaublich: Als sich Jay-Jay Okocha gegen Kahn in die Geschichte zauberte [sportschau.de]). Zurück zum Dramatikpreis
Bonn Park: They Them Okocha. R: Bonn Park. Schauspiel Frankfurt, UA: 12. April 2024. Mülheimer Theatertage: Ringlokschuppen, 28./29. Mai 2025.
Altbau in zentraler Lage von Raphaela Bardutzky

Raphaela Bardutzky, Altbau in zentraler Lage (UA). Auftragswerk des Schauspiel Leipzig. R: Salome Schneebeli. Eyk Kauly, Athena Lange, Paula Winteler, Samuel Sandriesser, Sonja Isemer. Foto / Rechte: Rolf Arnold.
Der neue Eigentümer, eine Immobiliengesellschaft, will den Altbau in zentraler Lage sanieren, lieber noch abreißen und einen Neubau hinstellen. Die Mieter:innen sind nach und nach ausgezogen. Nur im 4. Stock des Hinterhauses harren zwei Nachbarinnen aus, die gehörlose Konditorin Trisha und die junge Food Runner und Technofan Zoey.
Nur, wie nicht anders in einem Bau aus dem Jahr 1880 zu erwarten: Es spukt im Haus. Die Nachbarinnen geben sich in ihrem Widerstand Halt, aber am Ende gewinnen – wie immer – die „hyperphysischen“ Gespenster und die institutionellen Gespenster mit ihren Räumungsklagen.
Raphaela Bardutzkys „Schaueroper“ ist unter künstlerischer Mitarbeit von Athena Lange entstanden, der gehörlosen Schauspielerin, die in der mitreißenden Leipziger Uraufführungsinszenierung die Trisha spielt. Das Stück kombiniert Gebärdensprache, gesprochene Sprache, Fingeralphabet, geschriebene Sprache und pantomimische Kommunikation.
So sei das Stück „nicht nur ein Stück über den Wohnmarkt“, befand das Auswahlgremium, sondern „auch eines über Kommunikation und Solidarität“: sehr gut.
Raphaela Bardutzky: Altbau in zentraler Lage. R: Salome Schneebeli. Schauspiel Leipzig, UA: 22. November 2024. Mülheimer Theatertage: Theater an der Ruhr, 28./29. Mai 2025.
Weitere Preise der Mülheimer Theatertage
Den „Gordana-Kosanović-SchauspielerInnenpreis“ des Fördervereins des Theater an der Ruhr teilte die Alleinjurorin Christine Dössel, Theaterkritikerin der Süddeutschen Zeitung, der 1943 in Essen geborenen Schauspielerin Barbara Nüsse zu für ihre überaus beeindruckende darstellerische Leistung in „Asche“ von Elfriede Jelinek.
Den Mülheimer KinderStückePreis 2025 konnte Fayer Koch für „T-Rex, bist du traurig? (Steht dein T für Tränen?)“ mitnehmen.
Die Mülheimer Theatertage
Seit 1976 kümmern sich die Mülheimer Theatertage um die deutschsprachige Gegenwartsdramatik. Im Rahmen des Festivals sind an verschiedenen Spielstätten (heuer: Stadthalle, Theater an der Ruhr und Ringlokschuppen) u.a. die – in diesem Jahr sieben – Stücke zu sehen, die von einem Auswahlgremium für den Wettbewerb um den Mülheimer Dramatikpreis nominiert wurden. Eingeladen werden meist die Uraufführungsinszenierungen.
Zu den früheren Preisträger:innen gehören u.a. Elfriede Jelinek (bereits vier Mal), Rainald Goetz (drei Mal), Dea Loher, George Tabori, René Pollesch (alle je zwei Mal) sowie zuletzt Sivan Ben Yishai (zwei Mal, 2022 und 2024), Caren Jeß (2023) und Ewelina Benbenek (2021).
Die Jubiläumsausgabe, die 50. Mülheimer Theatertage, standen unter dem hübschen Motto: „Drama muss man können“.
50. Mülheimer Theatertage. Mülheim an der Ruhr, 10. Mai bis 31. Mai 2025.