Kulturraum NRW


Documenta fifteen: Ein Rundgang, 1. Teil

„Make friends, not art“

Die spannendsten Projekte und die beste Kunst der documenta fifteen: Der erste Teil eines Rundgangs, rund um den Friedrichsplatz, zu Arbeiten von Richard Bell, Małgorzata Mirga-Tas, Saodat Ismailova, Hito Steyerl, dem Wajukuu Art Project und dem Nest Collective.

documenta fifteen, ruruHaus. Foto: jvf

Es gibt da kein Vertun: Diese Documenta ist beschädigt. Das mit der künstlerischen Leitung der documenta fifteen betraute Künstler:innen­kollektiv Ruangrupa ist seiner Verantwortung nicht gerecht geworden, das räumt es mittlerweile selber ein (wenngleich nur für einen Einzelfall und mit Spuren einer nopology versetzt).

Dass es erheblichen öffentlichen Druck gebraucht hat, damit ein offen antisemitisches Werk vor der documenta-Halle zunächst nur theatralisch verhüllt, dann erst abgebaut wurde, ist eine Katastrophe, die einen finsteren Schatten auf die gesamte Kunstschau wirft.

Die unbefangene Begegnung mit faszinierenden Projekten, der Arbeit sympathischer Kollektive und auch mit guter Kunst – wobei es letztere in leider nur etwas beschränkter Fülle auf dieser Documenta gibt – ist nicht wenig verstellt, weil das dafür notwendige Vertrauen in die Umsicht und Redlichkeit kuratorischer Arbeit gestört ist (und nein: nicht nur wegen eines einzelnen Missgriffs).

Auf öffentlichen Druck hin verhüllt, später abgebaut: documenta fifteen, Peopleʼs Justice. Foto: jvf
Auf öffentlichen Druck hin verhüllt, später abgebaut: documenta fifteen, Peopleʼs Justice. Foto: jvf.

Ich will trotzdem hinweisen auf einige der spannendsten Beiträge, schließlich ist die weit überwiegende Mehrzahl der gezeigten Positionen gänzlich unverdächtig, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, welcher Art auch immer, Vorschub leisten zu wollen.

Spannende Projekte, gute Kunst

Die documenta fifteen hat 32 Spielorte, verteilt über die östliche Hälfte Kassels, vom Komposthaufen im Süden der Karlsaue bis zum Nordstadtpark, vom Museum für Sekrupalkultur am Weinberg bis zum Sandershaus in Bettenhausen. Zu sehen und zu erfahren gibt es dort Arbeiten von – nach Angaben der documenta fifteen – deutlich mehr als 1.500 Künstler:innen und sog. „Akteur:innen“.

Wenn man nicht sehr viel Zeit mitbringt, ist es unmöglich, sich das alles anzuschauen. Zumal eine Vielzahl von partizipativen Formaten einladen, ganze Nachmittage und Abende mit ihnen zu verbringen: Diskussions­runden, Mal- und Klangkunstworkshops, Tagtraum-Workshops, Karaoke-Abende, Konzerte u.v.m.

„Make friends, not art“ ist einer der Slogans dieser Documenta. Man fragt sich, warum eine Kunstschau die Kunst zur Nebensache erklärt. Gleichviel, es sei erlaubt, den zweiten Part des Slogans zu ignorieren. Was also gilt es, in Sachen Kunst keinesfalls zu verpassen? Für besonders eilige Menschen:

Richard Bell im Fridericianum und auf dem Friedrichsplatz

Einen der prominentesten Auftritte auf dieser Documenta hat Richard Bell (*1953 in Charleville, Queensland) mit seinen Arbeiten im, am und vor dem Fridericianum. Auf dem Friedrichs­platz ist ein Zelt als „Aboriginal Embassy“ gekennzeichnet, davor Protest­schilder mit Slogans wie „We want land, not handouts“.

Im Innern der Tent Embassy erzählt dokumentarisches Video­material aus den 1970er Jahren von der Rolle eines Botschafts­zelts bei Bürgerrechts­demonstrationen in Canberra, vom Rassismus und vom Widerstand in Australien. Das Zelt soll im Verlauf der Documenta auch als Veranstaltungs­ort genutzt werden.

An der Fassade des Fridericianums hat Bell einen Zähler (Metronome) anbringen lassen, der die Schulden des australischen Staates bei den indigenen Völkern ausweisen soll. Zu Ausstellungs­beginn liegt die Summe bei rund 100 Billiarden. Ein Währungsangabe fehlt ebenso wie Angaben zur Berechnungs­methode. Es ist aber ja ohnehin eine nicht begleichbare Schuld.

documenta fifiteen: Richard Bell, 2022, Installationsansicht, Fridericianum, Kassel, 14. Juni 2022, Foto: Nicolas Wefers
documenta fifiteen: Richard Bell, 2022, Installationsansicht, Fridericianum, Kassel, 14. Juni 2022, Foto: Nicolas Wefers.

Im Eingangsbereich und in der Rotunde des Fridericianums (2. OG) sind sieben neuere (alle 2022) Acryllein­wände Bells in plakathaftem Agitprop-Stil versammelt, im Treppen­haus eine weitere Arbeit (All Lies Matter, 2022).

Im Untergeschoss, auf dem Toiletten­gang, erledigt ziemlich frech eine kleine Installation von Bell die Western Art (2020-2022) mit einem Arrangement aus Duchamp­schen Pissoir und metallic-farbenen Ballons à la Jeff Koons.

Małgorzata Mirga-Tas im Fridericianum

In der Rotunde im 1. OG des Fridericianums stellt die Budapester Off-Biennale in Kooperation mit dem European Roma Institute for Arts and Culture fünf Arbeiten von Małgorzata Mirga-Tas (*1978 in Zakopane) aus.

Die Bildhauerin, Malerin und Roma-Aktivistin greift mit ihren Collagen aus Textilien und Acryl­malerei (Out of Egypt, 2021) stereotype Darstellungen von Roma aus dem 17. Jahrhundert auf und dekonstruiert sie zu einem selbst­bestimmten Neuentwurf einer Ikono­graphie der Roma-Gesell­schaften in feministischer Perspektive. So in etwa.

documenta fifteen: OFF-Biennale Budapest, Małgorzata Mirga-Tas, aus der Serie „Out of Egypt“, 2021, Installationsansicht, Fridericianum, Kassel, 11. Juni 2022, Foto: Frank Sperling
documenta fifteen: OFF-Biennale Budapest, Małgorzata Mirga-Tas, aus der Serie „Out of Egypt“, 2021, Installationsansicht, Fridericianum, Kassel, 11. Juni 2022, Foto: Frank Sperling.

Nicht nur mir gilt die Arbeit von Mirga-Tas (Re-enchanting the World) im polnischen Pavillon der gleichzeitig zur Documenta stattfindenden Venedig­biennale als eine der stärksten Arbeiten der venezianischen Kunstschau. Die Werke in Kassel können es an Bild­mächtigkeit nicht mit dem wand­füllenden Zyklus in Venedig aufnehmen, sind aber gleichwohl sehr eindrucks­voll.

Saodat Ismailova in den Kellergewölben des Fridericianums

Man kann es leicht übersehen, weil es über einen eigenen Eingang verfügt: Links vor dem Fridericianum führt ein Treppen­abgang hinunter in Keller­gewölbe unter dem Museumsbau. Da sind in vier Räumen Video- und Multimedia­installationen der usbekischen Filme­macherin und Künstlerin Saodat Ismailova (*1981 in Taschkent) eingerichtet.

Ismailova kümmert sich in ihren Arbeiten um Mythen und Spiritualität im zentral­asiatischen Raum, insbesondere um die vierzig Chilltan-Geister, die als gestalt­wandelnde Wesen heilende und schützende Kräfte haben.

documenta fifiteen: Saodat Ismailova, Bibi Seshanbe, 2022, Installationsansicht, Fridericianum, Kassel, 11. Juni 2022, Foto: Nicolas Wefers
documenta fifiteen: Saodat Ismailova, Bibi Seshanbe, 2022, Installationsansicht, Fridericianum, Kassel, 11. Juni 2022, Foto: Nicolas Wefers.

Das wäre vielleicht nicht so besonders bemerkenswert, wenn da nicht ein Video dabei wäre, das in einer Bild­sprache von gleichermaßen elementarer Wucht wie hoher Sensi­bilität vom Kult der Bibi Seshanbe erzählen würde. Der Mythos der Bibi Seshanbe, der Königin des Dienstags, enthält Motive, die im deutschs­prachigen Raum durch Grimms Märchen vom Aschen­puttel vertraut sind.

Hito Steyerl im Ottoneum

[Nachtrag, 8. Juli 2022: Hito Steyerl hat ihre Arbeit zurückgezogen, sie ist also nicht mehr im Ottoneum zu sehen. Steyerl begründet ihren Schritt mit dem Vertrauensverlust gegenüber der Organisation der documenta fifteen.]

Man muss nach Ismailovas Film den Sensitivitäts­regler seiner Wahrnehmung um einige Stufen herunterschalten, um anschließend mit Hito Steyerls (*1966 in München) Videoarbeit Animal Spririts (2022) zurecht­zu­kommen. Am besten besucht man dabei die Höhle im Naturkunde­museum Ottoneum an Tagen mit weniger großem Publikums­aufkommen: Der Raum ist klein, gut besucht und hat gerne mehr als 40° Raum­temperatur. Es lohnt sich aber.

Eingeladen vom Kollektiv INLAND ist Steyerls Video eingebettet in eine Multimedia-Installation aus computer­animierten, verfremdeten Darstellungen von prä­historischer Höhlen­malerei, rätselhaften Glas­kugeln mit Vegetations­miniaturen und als Sitz­möbel im Raum verteilte Felsen.

Der von John Maynard Keynes für das irrationale Handeln von Menschen auf Märkten geprägte Begriff „animal spirits“ ist Ausgangs­punkt für einen 24-minütigen, rasanten filmischen Essay, in dem fiktive Elemente, Videospiel­ästhetik und semi­dokumentarisches Material sich mischen.

In Szenen mit dem „viral angry shepherd“, Nel Cañedo Saavedra, wird gegen „Disney-Ökolog:innen“ und gegen fiktive und reale Wölfe gerantet, der Hype der „NFT bros“ wird persifliert und das Gegen­modell einer käse­basierten Krypto­währung („smart cheese“) propagiert, in Cameos bewirbt sich Kunst­prominenz (Mroué, Gillick, Bridle) erfolglos um eine Teil­nahme an einer Farming Reality Show.

Man tut gut daran, dem Rat zu folgen, den Steyerl anlässlich einer Ausstellung in Seoul gab, wo Animal Spirits im Frühjahr erstmals zu sehen war: „Don’t try to see everything at once. It will be a little too much. Take it easy!“.

Wajukuu Art Project in der documenta-Halle

Einen starken Auftritt nebenan in der documenta-Halle hat das Wajukuu Art Project aus Kenia. Die Künstler:innen­gruppe ist (mit Vorläufern) seit 2004 aktiv im Mukuru Slum im Osten Nairobis, macht Kunst und kümmert sich um den Vertrieb, organisiert Kunst­workshops mit Kindern und Jugend­lichen, Film­vorführungen, eine öffentliche Bibliothek.

Den Eingang zur documenta-Halle hat Wajukuu durch eine architek­tonische Intervention zu einem Tunnel umgestaltet, der Formen traditio­neller Maasai-Architektur, aber auch Materialien der Hütten in den Slums Nairobis aufgreifen soll.

documenta fifiteen: Wajukuu Art Project, Shabu Mwangi, Wrapped Reality, Installationsansicht / Detail, 2022, documenta Halle, Kassel, 13. Juni 2022, Foto: Nicolas Wefers
documenta fifiteen: Wajukuu Art Project, Shabu Mwangi, Wrapped Reality, Installationsansicht / Detail, 2022, documenta Halle, Kassel, 13. Juni 2022, Foto: Nicolas Wefers.

Im Innern der Halle informiert eine Video­dokumentation über die Arbeit des Wajukuu Art Projects, ist aber vor allem eine Auswahl von massiv-mächtiger Malerei, Skulptur und Installation einiger Gründungs­mitglieder zu sehen, vornehmlich Ngugi Waweru (*1987 in Nairobi), Lawrence Shabu Mwangi (*1985 in Nairobi) und Joseph Waweru Wangui (*1987 in Nakuru).

Nest auf der Karlswiese

Unten auf der Karlswiese vor der Orangerie fällt schon von weitem die Installation des Nest Collective ins Auge. Paletten mit Elektro- und Plastik­schrott, nach schwarzer und weißer Farbe sortiert zu Quadern gepresst, sind auf der Wiese verteilt, aus bunten Stoff­ballen ist eine Hütte mit Wellblech­dach in die Park­landschaft gebaut.

documenta fifteen: The Nest Collective, Return To Sender, 2022, Installationsansicht, Karlswiese (Karlsaue), Kassel, 14 Juni 2022, Foto: Nils Klinger
documenta fifteen: The Nest Collective, Return To Sender, 2022, Installationsansicht, Karlswiese (Karlsaue), Kassel, 14 Juni 2022, Foto: Nils Klinger.

Drinnen zeigt das 2012, ebenfalls in Nairobi gegründete Künstler:innen­kollektiv eine Video­dokumentation über die Implikationen der Müll­exporte und vor allem der Altkleider­verschaffung aus dem globalen Norden nach Afrika. Expert:innen erzählen sehr differenziert über die Auswirkungen des Imports von 2nd hand Kleidung auf die heimische Textil­wirtschaft, über die geringe Qualität der ankommenden Textilien – und über das, was das Auftragen von Kleidung anderer mit der Würde von Menschen macht. Das ist ausgesprochen eindrucks­voll und lehrreich.

Weiter zum zweiten Teil des Rundgangs.

documenta fifteen. K: ruangrupa. Kassel, 18. Juni bis 25. September 2022.