Documenta fifteen: Ein Rundgang, 2. Teil
„Sekarang mereka, besok kita“
Die spannendsten Projekte und die beste Kunst der documenta fifteen: Der zweite Teil eines Rundgangs, abseits des Friedrichsplatzes, zu Auftritten von den Atis Rezistans, Trampoline House, Taring Padi, Nguyen Trinh Thi, Alice Yard und Hamja Ashan.

- 1. Teil: Rund um den Friedrichsplatz
- Richard Bell (Friedrichsplatz / Fridericianum)
- Małgorzata Mirga-Tas (Fridericianum)
- Saodat Ismailova (Fridericianum, Kellergewölbe)
- Hito Steyerl (Ottoneum)
- Wajukuu Art Project (documenta-Halle)
- Nest Collective (Karlswiese)
- 2. Teil: Abseits vom Friedrichsplatz
Atis Rezistans / Ghetto Biennale in St. Kunigundis
Der zweite Teil des Rundgangs über die documenta fifteen beginnt im Osten Kassels, in Bettenhausen, an der wenig schmucken Leipziger Straße, in St. Kunigundis, der vielleicht hübschesten Spielstätte der Kunstschau.
Die Kirche wird – wenn ich recht informiert bin – seit Frühjahr 2019 wg. Bauschäden nicht mehr für Gottesdienste genutzt und dient jetzt als Ausstellungsort für Atis Rezistans.

documenta fifiteen: Atis Rezistans | Ghetto Biennale, Installationsansicht, St. Kunigundis, Kassel, 14. Juni 2022, Foto: Frank Sperling.
Atis Rezistans, ein Kollektiv aus Port-au-Prince, Haiti, zeigt in und vor der Kirche Arbeiten von rund 40 Künstler:innen, eigenen Mitgliedern, aber auch von Teilnehmer:innen der Ghetto Biennalen. In Reaktion auf Reisebeschränkungen organisieren die Atis Rezistans seit 2009 Biennalen, zu denen Künstler:innen aus aller Welt nach Port-au-Prince eingeladen werden. In der Sakristei informieren zehn Kurzfilme in zweistündigem Loop über die Biennalen von 2009 bis 2019.
In Kassel vor Ort sind vor allem starke Skulpturen und Assemblagen, meist aus Elektro- und anderem Schrott gearbeitet. Sie nähmen Bezug auf das „afrikanische Kulturerbe, Voodoo Praktiken und eine dystopische Science-Fiction-Sicht auf die Zukunft“, heißt es auf einer Erklärtafel.
Ganz sicher ist es dabei die Spannung zwischen römisch-katholisch geprägtem Ausstellungsort und den Arbeiten mit ihren Referenzen auf haitianische Religiosität und Spiritualität, die der Zusammenstellung von Atis Rezistans hier einen besonderen Reiz verschafft.
Trampoline House (Hübner / Platz der deutschen Einheit)
Etwas nördlich von St. Kunigundis, an der Agathofstraße, nutzt die documenta fifteen das Werk 1 des Kasseler Verkehrstechnikherstellers Hübner als weitläufige Spielfläche.
Dort im „Hübner-Areal“ hat u.a. das Trampoline House sein Castle in Kassel eingerichtet und informiert über die Arbeit des dänischen Gemeinschaftszentrums in Sachen solidarischer Flüchtlingspolitik sowie über die restriktive und diskriminierende Asylpolitik Dänemarks.

documenta fifiteen: Trampoline House, 2022, Installationsansicht, Hübner Areal, Kassel, 15. Juni 2022, Foto: Frank Sperling.
Der dänische Konzeptkünstler und Mitbegründer des Trampoline House Morten Goll (*1964) hat zum Beispiel eine Videoarbeit mitgebracht, The Childrenʼs Asylum Seeker Dictionary (2022), in dem sich fünf geflüchtete Kinder über ein Wörterbuch der ausgrenzenden Sprache verständigen. Der Modedesigner und Künstler Dady de Maximo Mwicira-Mitali (*1982 in Ruanda) zeigt „Outfits, die vom Leben und Leiden Geflüchteter inspiriert sind“.
Später, auf dem Weg zurück in die Kasseler Innenstadt, kommt man zum Platz der deutschen Einheit, ein Verkehrsknotenpunkt von abgründiger Trostlosigkeit. Noch unwirtlicher als die Verkehrswüste oben ist die Fußgängerunterführung darunter.
Hier hat der sudanesische Künstler Khalid Albaih (*1980 in Bucharest), eingeladen vom Trampoline House, seine Soundinstallation The Walls Have Ears eingerichtet. In acht, von Graffiti überzogenen Hörstationen erzählen Nabila aus Marokko, Faiza (17) aus Kurdistan, Femi aus Nigeria und andere von ihrer Flucht und ihren Erfahrungen mit dem dänischen Asylsystem.
Taring Padi im Hallenbad Ost
Aber erstmal zurück zum weiter östlichen Teil der Leipziger Straße und dort zum Hallenbad Ost. Das trockengelegte Hallenbad ist natürlich eine spektakuläre Spielstätte und wird ausschließlich durch das indonesische Künstler:innen- und Aktivist:innenkollektiv Taring Padi beschickt.

documenta fifiteen: Taring Padi, Bara Solidaritas: Sekarang Mereka, Besok Kita / The Flame of Solidarity: First they came for them, then they came for us, 2022, Installationsansicht, Hallenbad Ost, Kassel, 14. Juni 2022, Foto: Frank Sperling.
Das 1998 von Student:innen der Kunsthochschule in Yogyakarta auf Java gegründete Kollektiv prägt wie kein anderes die documenta fifteen: Selbstverständlich zuallererst durch das, wegen antisemitischer Bildsprache vom Friedrichsplatz entfernte, monumentale Triptychon Peopleʼs Justice und das anschließende Kommunikationsdesaster (für das Taring Padi nicht verantwortlich zu machen ist).
Zur prägenden Rolle tragen aber auch zwei weitere großformatige Arbeiten an prominenter Stelle im öffentlichen Raum bei: Rakyat Demokratik („Demokratische Menschen“) an der Fassade von C&A am Opernplatz und Lembaga Budaya Kerakyatan („Institut für Volkskultur“) am Mauerwerk des Rondells zur Fulda hin.
Auf der Grünfläche vor dem Hallenbad Ost nun sind Hunderte von wayang kardus aufgestellt, demotaugliche Pappkartonpuppen. Im Innern des Bads sind dann sicher mehr als hundert Arbeiten ausgestellt, vornehmlich bannerartige Malerei, aber auch Zeichnungen, Holzschnitte und weitere wayang kardus.

documenta fifiteen: Taring Padi, Sekarang Mereka, Besok Kita (Today they’ve come for them, tomorrow they come for us), 2021, Installationsansicht, Kassel, 12. Juni 2022, Foto: Frank Sperling.
Es lohnt, sich längere Zeit auf das Monumentalgemälde an der nördlichen Stirnseite des Beckens einzulassen: Bara Solidaritas: Sekarang Mereka, Besok Kita. Das Handbuch der documenta fifteen übersetzt den Titel mit „Flamme der Solidarität: Zunächst kamen sie um ihrer selbst willen, dann kamen sie unseretwillen“. Google Translate übersetzt den zweiten Teil schlanker: „Heute sie, morgen wir“ – ich weiß nicht, was treffender ist.
Jedenfalls scheint das Ding charakteristisch zu sein für die Methode von Taring Padi. Das vielfigurige und motivreiche Bild kann man in mehrere Sektionen teilen. Oben rechts eine Paradieslandschaft; unten rechts Szenen aus dem friedlichen Leben des Volkes mit spielenden Kindern, gutem Essen, tanzenden Menschen unter dem Banner der Solidarität, ein Liebespaar; im mittleren Vordergrund ein Leichenzug (manche Figuren tragen Mundnasenschutz, die Szene spielt wohl in der Coronazeit) der als Demo hinüber zur Kampfzone führt: „organize – educate – agitate“ ist hier der Slogan.
Darüber ist das Reich des Bösen, der Dämonen und Teufel unter dem Firmenschild „globalisasi moneterian oligarki .co“, das braucht keine Übersetzung. Die NATO, das Kapital, Big Data, eine Krake mit Uncle Sam Zylinder, Atom-, Öl- und Kohleschergen sind unter den auszumachenden Elementen. „Harus diHentik an!“ steht dabei, was wohl heißt: „Sie müssen aufgehalten werden!“.
Und jetzt gibt es etwas Seltsames – für den flüchtigen Blick gar nicht leicht zu entdecken. Ganz am linken Rand des Bildes, knapp oberhalb der mittleren Höhe, ist eine grüne Hügellandschaft vor Friedhof gezeichnet, auf der recht friedlich wirkende Einfamilienhäuser in Reihe stehen. Darüber wehen eine palästinensische und eine israelische Flagge.

documenta fifiteen: Taring Padi, Sekarang Mereka Besok Kita, 2021, Detail, Foto: jvf.
Ist das ein Plädoyer für eine friedliche Zweistaatenlösung und/oder eine Kritik an der israelischen Siedlungspolitik? Und warum ist dieses Motiv in dem Bildsegment einsortiert, das den Teufeln der „monetaristischen Globalisierungsoligarchie“ vorbehalten ist? Und warum eigentlich rutscht hier in den doch erkennbar dominierenden indonesischen Kontext der Erzählung unerwartet der Nahostkonflikt hinein? Der im Rest recht einfach zu lesende und zu deutende Manichäismus der Bilderzählung wird an dieser Stelle plötzlich gänzlich unklar.
Idealerweise wäre diese Arbeit von Taring Padi ein Anknüpfungspunkt für einen umsichtigen und auf Verstehen (wenn nicht gleich Verständnis) abzielenden, öffentlichen Dialog zwischen der documenta fifteen und ihren Kritiker:innen. Das Kolonialregime in Indonesien, das im kalten Krieg und noch danach vom Westen unterstützte Terrorregime Suhartos, Globalisierung, Dekolonialisierung und „Israelkritik“ in der antikapitalistischen Linken – das Themenfeld ist ebenso klar wie unübersichtlich.
Aber es wird wohl nicht mehr zu einem solchen Dialog kommen.
Nguyen Trinh Thi im Rondell
Wieder zurück auf dem linken Ufer der Fulda: Im Rondell, dem ältesten erhaltenen Teil der Befestigungsanlage Kassels, hat die Videokünstlerin Nguyen Trinh Thi (*1973 in Hanoi) ihr sehr intensives And They Die a Natural Death installiert (mixed media, 2022).
Im völlig abgedunkelten Kuppelraum hängen acht Bambusflöten von der Decke, verdeckte Lichtquellen und Chili-Pflanzen werfen florale Muster an die Wand. Die Leuchten und der Wind für die Flöten werden – so heißt es – nach Maßgabe von Sensorwerten aus Tam Đảo, nördlich von Hanoi, gesteuert.

documenta fifteen: Nguyễn Trinh Thi, And They Die a Natural Death, 2022, Installationsansicht, Rondell, Kassel, 14. Juni 2022, Foto: Frank Sperling.
Die Installation nimmt Bezug auf eine Episode aus dem autobiographischen Roman Erzählung im Jahr 2000, in dem der vietnamesische Schriftsteller Bùi Ngọc Tấn von seiner Zeit in einem der „Umerziehungslager“ des Regimes erzählt.
Aber selbst wenn man diesen Hintergrund nicht kennt: Das veränderliche Schattenspiel der Pflanzen an dem düsteren Gemäuer und der meditative, dissonante Flötenklang machen eine beklemmend-ergreifende Wirkung und setzen gegen die Brutalität des Baus filigrane Poesie.
Versia Harris / Alice Yard in der Grimmwelt
Oberhalb des Fuldatals dann, westlich der Karlsaue, im Filmraum im Untergeschoss des schmucken Museums „Grimmwelt“, zeigt das Kunstkollektiv Alice Yard, gegründet 2006 in Port of Spain (Trinidad), Videoarbeiten von karibischen Künstler:innen unter dem Titel Telling After All ….
In den Eröffnungstagen der documenta fifteen lief hier ein ebenso zauberhaft-humorvoller wie kluger Animationsfilm von Versia Harris aus Barbados. Das Zweikanal-Video, They say you can dream a thing more than once (2013-2015), zeigt Chimären mit Schwanenhals und -kopf auf weiblichem, menschlichem Körper. Die bewegen sich durch ihre gezeichnete Welt, die geprägt ist vom Widerspruch zwischen den Verheißungen eines Disney-Prinzessinnen-Ideals und der Unmöglichkeit, dieses Ideal zu erreichen.
Ich hoffe, dass die im Verlauf der Documenta hinzukommenden Videoarbeiten in der Grimmwelt Harrisʼ Arbeit ergänzen, nicht ersetzen. Es wäre schade drum.
Hamja Ashan an verschiedenen Standorten

documenta fifteen: Hamja Ahsan, documenta Fried Chicken, 2022, Installationsansicht, Fridericianum, Kassel, 15. Juni 2022, Foto: Frank Sperling.
Auf dem Weg durch Kassel, an vielen Standorten der documenta fifteen, finden sich Leuchtreklamen für fiktive Halal-Hähnchengrills – ich habe neun gezählt, aber vielleicht finden Sie mehr.
So kündet im Museum für Sepulkralkultur ein Hähnchen als Sensenmann vom Final Fried Chicken, am ruruHaus verspricht Fanon Fried Chicken „Fast Food für die Verdammten dieser Erde“ und am Fridericianum sind gleich zwei Filialen annonciert: Der Claim von Kaliphate Fried Chicken ist „Feeding the Ummah since 1924“ und PFLFC ist der Imbiss der „Volksfront für die Befreiung der Grillhähnchen“.
Der britische Konzeptkünstler Hamja Ahsan (*1981 in London) greift mit seiner satirischen Intervention islamophobe Stereotypen auf und macht daraus ein ziemlich witziges und schräges emanzipatorisches Projekt.
Lumbung
Und was ist mit Lumbung, den majelis und nongkrong? Das kann man an anderer Stelle nachlesen.
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documenta fifteen. K: ruangrupa. Kassel, 18. Juni bis 25. September 2022.