Kulturraum NRW


Die documenta 14 in Athen und Kassel – 2017

Von Kάσελ lernen

Nur noch bis 16. Juli ist die documenta 14 in Athen, immerhin noch bis 17. September 2017 in Kassel zu sehen. Macht dieser zweifache Spielort Sinn? Und muss man noch rasch nach Athen?

„Welcome and enjoy the ruins“ – Blick von der Dachterasse des EMST hinüber zur Akopolis. Foto: jvf
„Welcome and enjoy the ruins“ – Blick von der Dachterasse des EMST hinüber zur Akopolis. Foto: jvf.

Die documenta 14 zeigt Arbeiten von rund 150 Gegenwarts­künstlerinnen, -künstlern und Kollektiven. Hinzu kommen historische Rückgriffe vornehmlich auf die Kunst des 20. Jahrhunderts (mit Werken von rund 50 Künstlerinnen). Von fast allen sind Arbeiten in beiden Städten zu sehen. Mit dabei sind einige bestens im internationalen Kunstbetrieb Etablierte (Hans Haacke, Maria Eichhorn, Douglas Gordon, Miriam Cahn, Peter Friedl, Sanja Iveković, Artur Żmijewski, Nairy Baghramian, David Lamelas, Susan Hiller u.v.m.) – und sehr viel bild­künstlerischer Mittelbau.

In einer großen Kultur­zeitschrift konnte man lesen, „ein großer Teil der auf der documenta 14 vertretenen Künstler ist schon tot“, was entweder übertrieben oder sehr frech ist – je nachdem, wie man das verstehen will. Andere verweisen darauf, dass diese documenta wenig junge Kunst zeige. Es stimmt, das Durchschnitts­alter der Eingeladenen (ohne die historischen Rückgriffe) ist zweidrei Jahre höher als etwa in der Zentral­ausstellung der diesjährigen Biennale in Venedig (ich zähle ~58 versus ~56 Jahre). Aber Alter ist ja kein Argument.

„Die Welt kann nicht ausschließlich von Kassel aus erklärt werden“

Zum ersten Mal wird in der 14. Auflage also die Kasseler Kunstschau auf zwei Standorte verteilt. Das hat in Kassel nicht allgemein erfreut. Mit Aussagen wie: „Die documenta kommt aus Kassel, die documenta gehört nach Kassel, und deswegen soll sie auch in Kassel bleiben“, wurde ein lokaler Abgeordneter im Vorfeld der Schau zitiert. Nun ja.

Der künstlerische Leiter der documenta 14, Adam Szymczyk, hat dagegen darauf verwiesen, dass auch frühere Ausgaben der Kasseler Kunstschau sich nicht auf die hessische Metropole beschränkt hätten. Zuletzt hatte Carolyn Christov-Bakargiev 2012 im Rahmen ihrer dOCUMENTA(13) Workshops, Ausstellungen und eine Klausur in Kabul, Kairo und Banff ausgerichtet.

„documenta 14 fuck off!“ – Wandanschlag in Athen. Foto: jvf
„documenta 14 fuck off!“ – Wandanschlag in Athen. Foto: jvf.

„Von Athen lernen“ wurde als „Arbeitstitel“ dieser documenta ausgegeben und: „Die Welt kann nicht ausschließlich von Kassel aus erklärt, kommentiert und erzählt werden“, schreibt Szymczyk. Das ist vermutlich ebenso richtig wie falsch, spricht vor allem aber für eine gewisse Hybris. Die ausschließliche, allumfassende Welt­erklärung wäre also das Ziel der documenta, einer Kunst­ausstellung?

Diese documenta kann nicht aus der Nummer rauskommen, dass der Ausgriff nach Athen ein Kulturexport ist und natürlich von der documenta, also von Kassel, aus gedacht ist, bei allem Vorsatz, von Athen lernen zu wollen. Es ist ja eben nicht die 6. Athen Biennale, die Kassel oder Berlin zum gleich­berechtigten Spielort erklärt hätte und „von Kάσελ lernen“ zu wollen vorgäbe – letzteres läge, zugegeben, den meisten Griechen derzeit auch sehr fern –, sondern es ist eben die documenta, die umgekehrt verfährt.

Das wird nur einer der Gründe sein, warum die Begeisterung der Athener über die documenta in ihrer Stadt nicht vollständig ungeteilt ist. Dass die Ökobilanz dieser documenta unzweifelhaft desaströs ist, gilt dagegen vermutlich als kleinlicher Einwand.

Der Parthenon der Bücher

Das spektakulärste oder zumindest populärste Merkzeichen dieser documenta und ihrer zwiefachen Verortung ist sicher der Parthenon der Bücher, von Marta Minujín (*1943 in Buenos Aires) auf der Grünfläche des Friedrichsplatz vor dem Fridericianum abgesetzt, ins Zentrum der Kasseler documenta-Geographie also.

Das ist ein Metallgerüst, das den Athener Parthenon im Maßstab 1:1 nachbaut, die Giebel und Säulen sind mit Klarsicht­folie umzogen, darin „einst oder gegenwärtig verbotene“ Bücher eingewickelt. Bis zu 100.000 Exemplare sollen es am Ende sein, bislang (Mitte Juni) fehlen rund ein Drittel.

Das Ding ist sehr eindrucksvoll und sehr hübsch anzusehen, wenn nachts erleuchtet, und noch mehr, wenn tagsüber die Sonne die Plastik­folie reflektieren lässt. Ist man aber nicht zu sehr vom Glanz geblendet und schaut etwas genauer hin, zeigen sich ein paar Probleme.

Die Buch­exemplare sind von wohl­meinenden Menschen und Verlagen gespendet, auf Basis einer „Liste verbotener Bücher“, die von Germanisten der Uni Kassel zusammen­gestellt wurde. Diese Form der Einsammlung führt aber dazu, dass im Wesentlichen gerade jene Werke sichtbar werden, die Verbote überstanden haben und durch sie nicht dauerhaft der Wahrnehmung entzogen wurden, also heute marktgängig sind (Heine, Kafka, Musil, Mann …). Wollte man böse sein, könnte man dieses Monument auch als triumphales Denkmal für den Sieg der Zensoren und Bücher­verbrenner missdeuten, weil die nachhaltig erfolgreich verbotenen Werke fehlen.

Problematischer noch: Für manche Verlage ist das Ding eine Werbeplatt­form; gleich paletten­weise ist offensichtlich „Das Guantanamo Tagebuch“ angeliefert worden, mit mehreren hundert Exemplaren an diesem Parthenon macht das den Eindruck, das sei das meist­verfolgte Buch der Weltgeschichte. Rebecca Skloots „The Immortal Life of Henrietta Lacks“ findet man, wohl weil fehlgeleitete Eltern in den USA eine Befassung im Schul­unterricht erfolglos verhindern wollten – das hat aber nichts mit einem Verbot von Büchern zu tun. Auch „Harry Potter“, „Twilight“ und anderes sieht man da, wohl aus ähnlichen Gründen.

Eine solche konzeptionelle und ästhetische Unschärfe ist auf dieser documenta jedenfalls allenthalben zu finden. Früher sprach man in solchen Fällen gerne von „Gesinnungs­ästhetik“, wenn also der – so kann man unterstellen – gute Vorsatz als wesentliches Kriterium künstlerischen Gelingens gilt (Mehr dazu hier: Kunst und Politik auf der documenta 14: Eine Erregung).

Muss man also nach Athen?

Alle Künstlerinnen der Documenta waren eingeladen an beiden Standorten Arbeiten zu zeigen. Muss man also wirklich noch rasch nach Athen? Ja, nicht unbedingt, aber besser wäre es. Es gibt viel gute Kunst dieser documenta, die nur in Athen zu sehen ist oder dort besser funktioniert als in Kassel.

Da ist zum Beispiel Rebecca Belmores (*1960 in Upsala, Kanada), aus Mamor gehauenes Flüchtlings­zelt. Das Stück ist jetzt weit oben auf dem Philopappos­hügel aufgeschlagen, mit Blick hinüber auf die Akropolis, der Bergfeste also, die eins der wichtigsten Symbole der Festung Europa ist. Mitte Juli wird Belmores Zelt nach Kassel verbracht und dort auf die Weinberg­terrassen mit Blick auf Karlsaue und Kasseler Südstadt platziert ––.

Oder da ist der Klang- und Konzeptkünstler Emeka Ogboh (*1977 in Enugu, Nigeria). In Athen ist seine zwar nicht gerade subtile, aber sehr berührende Installation im brutalistischen Auditorium des Konservatoriums (Odeion) zu erleben: The Way Earthly Things Are Going. An der Wand ein Leuchtschrift­laufband mit aktuellen Börsenkursen, dazu eine mächtige Mehrkanal­tonspur mit Soundtrack aus flüsternden Stimmen und klagenden Gesängen, basierend auf einem griechischen traditional, wenn ich recht verstehe.

In Kassel kümmert sich Ogboh leider nur um die Biermixgetränke­versorgung und bewirbt Sufferhead Original mit Werbeplakaten in der Stadt, die allerdings sehr hübsch mit rassistischen Stereotypen spielen („Wer hat Angst vor Schwarz?“). Das Zeug in schmucker, schwarzer Flasche hat 7,8 Volumenprozent, beinhaltet Stout, Honig und Chiliflocken und schmeckt dementsprechend fürchterlich, kostet dafür aber auch nur 8 Euro je 0,33l. (Nebenbei: Mehr von Ogboh gibt es bei den Skulptur Projekten in Münster, wo er den Tunnel neben dem Haupt­bahnhof mit einer Klang­installation versehen hat – und ein Bier vertreibt).

Nevin Aladağ (*1972 in Van, Türkei, lebt in Berlin) hat ebenfalls im Athener Konservatorium ihren Music Room eingerichtet, eine Sammlung von Vintage-Möbeln, die mit Stahlseiten bespannt sind und zusammen mit Küchen­utensilien als Schlagwerk einen coolen Instrumenten­park machen, der in beinahe täglichen Performances bespielt wird. In Kassel (Hessisches Landesmuseum) ist von ihr nur eine etwas rätselhafte, wenig packende Großskulptur aus bunt-lasierten Keramikkacheln zu sehen (Jali​).

Ein letztes Beispiel: Vom jüngst verstorbenen, kanadischen Bildhauer Beau Dick (1955-2017) sind in Athen wie in Kassel sehr beeindruckende Masken zu sehen, nur dass sie im Athener EMST in einem wirkungsvollen, großflächigen Arrangement inszeniert und erzählerisch eingebunden werden, in der Kasseler documenta-Halle weitere Masken aber wie achtlos beiseite gestellt sind.

Mehr zu den besten Arbeiten der documenta 14 gibt es hier: Die beste Kunst der documenta 14: „Brékekekéx koáx koáx!“.

documenta 14. KLtg: Adam Szymczyk. Athen, 8. April – 16. Juli / Kassel, 10. Juni – 17. September 2017.