Oskar Kanehl, Die Schande (1922) – Der Erste Weltkrieg in der Literatur
„Ich bin Soldat und werde Mörder sein“
Der Lyriker Oskar Kanehl (1888-1929) ist heute weitgehend vergessen. Zu Unrecht. Seine Gedichte über „Die Schande“ des Krieges gehören zu den ergreifendsten Antikriegstexten, die in den Schützengräben des 1. Weltkriegs geschrieben wurden.
Assault on Passchendaele, 1917. Rechte: © IWM (E(AUS) 1233), Lizenz: IWM Non Commercial Licence, Quelle: IWM.
Auch wenn man gut daran tut, die gängige Erzählung von einer das ganze Volk umfassenden Kriegsbegeisterung im Deutschland des Sommers 1914 mit einer gewissen Skepsis zu nehmen und damit zu rechnen, dass propagandistische Inszenierungen bis heute das Stimmungsbild verfälschen: Gänzlich unzweifelhaft und ebenso erschütternd ist, dass die deutschen Intellektuellen jener Tage fast flächendeckend in einem chauvinistischen Taumel der Kriegsbesoffenheit unterwegs waren.
Als Thomas Mann im Herbst 1914 seinen Dienst am Vaterland mit Stift und Papier ableistet und seine Gedanken im Kriege veröffentlicht und von den Dichtern faselt, die „sogleich in Flammen standen, als jetzt Krieg wurde“, entspricht das nicht nur seinem verblendeten Wunschdenken, sondern der Realität auch der Lyrikproduktion jener Zeit:
Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden und eine ungeheuere Hoffnung. Hiervon sagten die Dichter, nur hiervon.
Selbst der begnadetste deutschsprachige Dichter des neuen Jahrhunderts, Rainer Maria Rilke, huldigt in fünf Kriegsgesängen aus August 1914 dem „Kriegs-Gott“, dem „Schlacht-Gott“ und diagnostiziert mit einiger Verwunderung sein Aufgehobensein im Kollektiv der „Ergriffenen“:
So auch bin ich nicht mehr; aus dem gemeinsamen Herzen
schlägt das meine den Schlag, und der gemeinsame Mund
bricht den meinigen auf.
[….]
Andere sind wir, ins Gleiche Geänderte: jedem
sprang in die plötzlich
nicht mehr seinige Brust meteorisch ein Herz.
Heiß, ein eisernes Herz aus eisernem Weltall.
Das Versagen der Intellektuellen war keineswegs auf die Mittelmächte beschränkt. Albert Einstein hat die Lage wohl am treffendsten beschrieben. In einem Brief an Romain Rolland schreibt er im März 1915, dass „die Gelehrten der verschiedenen Länder sich gebärden, wie wenn ihnen vor acht Monaten das Großhirn amputiert worden wäre“.
Aus der Mordsaison
Manche der „eisernen Herzen“, der „Großhirnamputierten“ und andere Schreibtisch-Militaristen haben sich nach Ausbleiben eines schnellen Siegs, erst recht nach eigenen Kriegserfahrungen, der Besoffenheit ernüchtert. Ich will aber an einen Dichter erinnern, der sich von Anfang an nicht vom Kriegsgetaumel hat anstecken lasssen.
Oskar Kanehl ist heute weitgehend vergessen, seine Gedichte sind – bis auf wenige Ausnahmen, die es in Anthologien expressionistischer Lyrik geschafft haben – nur noch schwer zugänglich. Das gilt auch für seine Kriegsgedichte „aus der Mordsaison 1914-1918“, die ich deshalb im Volltext Kulturraum.NRW wiedergebe: Oskar Kanehl: Die Schande. Sie sind des Lesens wert.
Menschen brechen um
Kanehl, geboren 1888 in Berlin, studierte Germanistik und Philosophie in Berlin, Würzburg und Greifswald und wurde mit einer Arbeit „Der junge Goethe im Urteile des jungen Deutschland“ promoviert. Ab 1913 veröffentlicht er expressionistisch geprägte Gedichte, die vornehmlich im Zentralorgan der linksradikalen expressionistischen Intellektuellen, Die Aktion, erschienen. Und er gab selbst eine Zeitschrift heraus, den Wiecker Boten, mit dem er kunsttheoretische, kritische und politische Aufsätze verbreitet. Der Wiecker Bote wird mit Ausbruch des 1. Weltkriegs eingestellt.1
Ende August 1914 erscheint in der Aktion Kanehls Gedicht Sonnenuntergang, wohl vor dem Krieg geschrieben und Referenzen auf die Apokalypse gehören seit Anbeginn der expressionistischen Lyrik zu deren gängigem Inventar. Aber die Leser der Aktion werden verstanden haben, warum deren Herausgeber Franz Pfemfert dieses Gedicht Ende des ersten Kriegsmonats abdruckt:
Die letzten weißen Wolkenflotten fliehen.
Der Tag hat ausgekämpft
über dem Meer.
Wie eine rote Blutlache liegt es,
in der das Land wie Leichen schwimmt.
Vom Himmel tropft ein Eiter, Mond.
Es wacht kein Gott.
In Höhlen ausgestochner Sternenaugen
hockt dunkler Tod.
Und ist kein Licht.
Und alles Tier schreit wie am jüngsten Tag.
Und Menschen brechen um
am Ufer.
Die humane Kriegführung
Oskar Kanehl wird bald nach Kriegsanfang eingezogen und kämpft als Leutnant zunächst an der Front in Frankreich, dann in Rumänien und Makedonien. Verhaltensauffällig wird er mit der Verbreitung von kriegskritischen Schriften an der Front.
Erstaunlicherweise gelingt es dem Herausgeber der Aktion, noch während des Krieges und trotz der Zensur sechs Kriegsgedichte von Oskar Kanehl in Sammelbänden und der Zeitschrift zu veröffentlichen. Zusammen mit 16 weiteren erscheinen sie dann 1922 nochmals in dem Band Die Schande. Gedichte eines dienstpflichtigen Soldaten aus der Mordsaison 1914-1918, wiederum im Verlag der Aktion.
Eingeleitet wird der Band von einem fulminanten Vorwort Kanehls, der sich die Verbitterung und die Wut angesichts der Verdrängung des Kriegsverbrechens im „Deutschland der Novemberrevolution und der Ebertrepublik“ von der Seele schreibt. Kanehl greift hier insbesondere jede Form der Idealisierung des Krieges wortgewaltig an:
Aufgedeckt müßte werden der Hohn der „idyllischen Massengräber“, der „humanen Kriegführung“, der „großen Zeit“. Der ganze patriotische Himmel entgöttert werden, alle Rauschromantik zerfledert. Auf endlosen Märschen hat man nicht munter Wandervogelliedchen gesungen, sondern gefroren oder gedöst und sich die Füße kaputgelaufen. Beim Sturmangriff waren wir nicht bravourös voll Gott, König und Vaterland, sondern besoffen. An Schützengräbenöfen gab es keine poetische Kameradschaft, sondern gegenseitiges Bespitzeln und Bestehlen. Kein Mensch ehrte den Heldentod als süß und ehrenvoll, sondern jeder drückte sich davor so gut er konnte. Schwindel, Gemeinheit und jedes Verbrechen geschah nicht nur in dieser Zeit, sondern wurde ausdrücklich durch Gesetz und Reglement gefordert, gottgefällig geheißen und besonders geweckt und belohnt durch Beförderung und Verleihung der höchsten staatlichen Ehrenauszeichnungen in Form geschmackloser Tollkühnheitsmedaillen.
Keine Seele mehr
Die 22 Gedichte umfassen den ganzen Zeitraum des Krieges. Krieg ist das erste Stück überschrieben, es wendet sich gegen die Begeisterung bei Kriegsausbruch:
Was jubelt ihr und schwenkt die bunten Tücher?
Und brüllt den Krieg?
Werdet vor heiligem Gottgeist schamrot!
Hunger und Seuche und Tod
feiern den Sieg.
Den Zynismus der Musterungskommisionen (Musterung), das Rekrutenschinden in den Kasernen (Soldatenmisshandlung), der Truppentransport (Unterwegs):
Kameraden betäuben sich.
Lieder sind lauter als Schmerz.
Ein paar sind schon Tiere.
Aus Augen und Maul
speien sie Rauflust.
Mancher sitzt stumm
und bedenkt noch.
Oder gräbt sich
sinnlos ins Dunkel.
[…]
Ich bin Soldat und werde Mörder sein.
Die Märsche (Märsche, Auf dem Marsch, Vormarsch im Winter):
Vor uns gähnt ein dunkles Gebirge
von dessen Gipfel wir heut noch schießen müssen.
Aber es ist noch weit.
Inzwischen fällt ein Pferd um. Ein Mann fällt um.
Am Wegrand ragt ein Kreuz an dem ein Christus friert.
Das Elend auf dem Schlachtfeld (Schlachtfeld, Überfall), in den Lazaretten (Der mazedonische Tod), in den Schützengräben (Mazedonischer Winter, Nacht vor Sturm):
Morgen werden wir aus den Gräben springen.
Zum Sturm. Es ist alles bereit.
Manche schlafen noch einen zufriedenen Schlaf.
Die müssen keine Seele mehr haben.
Ich fühle in der unheimlichen Dunkelheit
das spärliche Denken der Kameraden.
Sprache verliert. Tierischer Gleichmut.
Wir sind beherrscht von dem Befehl
den uns der Nachbar zurufen wird.
Atemnot. Dunkelheit. Feuer und dumpfes Einschlagen.
Dann die Desertion als Hoffnung (Der Deserteur):
Ich will nun nicht mehr länger das Gemeine tun.
Ich will nicht mehr für meine Feinde kämpfen.
[…]
Ich tu’s.
Noch einmal leuchtet solche Kugel – Stern von Bethlehem.
Wenn nur der Leidensfreund dort von der andern Seite
mir keine Handgranate in die Beine schmeißt
wenn ich jetzt überlaufe.
Schließlich drei Gedichte, die die Revolution als Konsequenz des Krieges feiern (Der letzte Krieg, An Alle, Revolution).
Sprache verliert
In der Literaturgeschichtsschreibung kommt Kanehl meist nicht sonderlich gut weg, zu den „mittleren und kleineren Talenten“ hat man ihn angesichts seiner Vorkriegslyrik gezählt, insgesamt „zweitrangig“ sei er gewesen, seinen Kriegsgedichten wurden „Mängel bei der künstlerischen Umsetzung der Erlebnisse“ attestiert.
Ich weiß nicht. Vielleicht sind es gerade diese Mängel und die Unmittelbarkeit bei der „Umsetzung der Erlebnisse“, die mir seine Gedichte aus dem Krieg so wertvoll machen. Man nehme sein Nun dauert es so lange, gewiss kein Meisterwerk, aber:
Nun dauert es so lange,
daß ich anfange zu vergessen,
wie sehr ich dir gut war.
Und wenn ich dich
zwischen den Wahnsinnen der Schlacht
im Traum treffe,
dann leuchten deine samtenen Augen
lieb mir zu.
Ein Unglücksfall
Nach dem Krieg arbeitet Kanehl als Regisseur und Dramaturg bei den Rotter-Bühnen in Berlin, versucht sich als Berufsrevolutionär bei antiautoritär linksradikalen Splittergruppen, schreibt proletarisch-revolutionäre Agitationslyrik.
Am 28. Mai 1929 stürzt Kanehl aus dem Fenster seiner Wohnung in der Berliner Kantstraße in den Tod. Die Todesanzeige spricht von einem „tragischen Unglücksfall“. Die Hintergründe sind etwas unklar. In der Neuen Deutschen Biographie muss ich lesen:
Entsprechend der politischen Funktionslosigkeit des Linkskommunismus seit 1923 sind K.s Gedichte der folgenden Jahre von realitätsfremder Schwarzweißmalerei, Resignation und Verzweiflung gekennzeichnet, die seinen Freitod als folgerichtig erscheinen lassen.
Nun ja, ein „folgerichtiger“ Freitod. Go fuck yourself.
1 Das gesicherte Wissen um das Leben von Oskar Kanehl ist eher spärlich. Seine Witwe hat 1933 alle Papiere und Manuskripte ihres Mannes aus Angst vor den Nationalsozialisten vernichtet. Den gesicherten Kenntnisstand hat Ute Druvins in den 70er Jahren in ihrer ganz vorzüglichen Dissertation aufbereitet: Ute Druvins: Oskar Kanehl. Ein politischer Dichter der expressionistischen Generation. Köln, Diss. 1977 [=Literatur und Wirklichkeit, Bd. 19].