Kulturraum NRW


Oskar Kanehl
Die Schande

Gedichte eines dienstpflichtigen Soldaten
aus der Mordsaison 1914-1918
Die Aktions-Lyrik [Bd. 7]
Hg. von Franz Pfemfert
Berlin-Wilmersdorf: Verlag Die Aktion, 1922


Als der „Dolchstoß von hinten“ – wie viele Menschenleben zu spät! – schließlich geglückt war, Wilhelm, der oberste Kriegsherr, vor seinem Volke desertierte und wir siegreich (einen kurzen revolutionsgläubigen Augenblick) ins gut gehaßte Vaterland einmarschierten, da trafen wir neben größeren Enttäuschungen auch auf diese:

Wenn es einmal aus sein würde – und nun hatten wir über den Ausgang sogar Recht behalten –, dann würden in kaum zu bewältigendem Angebot auf dem Kunstmarkt die Dokumente des Widerwillens, des Ekels, Haß und Galle, Leid und Sehnsucht der dienstpflichtigen Soldaten, das wahre Gesicht der entlarvten Kriegsfresse unvergeßlich und für nachfolgende Generationen nicht zu wiederholen sichtbar werden. Schrifttum in allen Sprachen, Farben und Stein und Töne aller Instrumente müßten den wahren Sachverhalt des entsetzlich Erlebten künden. Waren die Revolutionäre vor dem Augustrummel in der Uniform nicht revolutionär geblieben? Waren den Malern und Bildhauern durch die Griffe am Schießprügel die Hände eingeschlafen? Hatte die Halsbinde den Dichtern die Kehle zugeschnürt? Wo waren ihre Haßgesänge? Oder hatten sie alle umgelernt? Sich alle angepaßt? Alle Lügner? Alle Konjunkturknechte?

In Kunstausstellungen dachte ich mir Wände voll Porträts der Kaiser und Generäle, ihrer Maskaradenwürde entkleidet, als Menschenschlächter, wie sie von ungestörter Frontferne während der Zeremonien ihres Unterleibkults mit mordgeilen Befehlen ihre Sklaven in den Tod trieben. Geöffnete Schlachtfelder aus Giftgas-, Knochen- und Blutfarben. Wunden und Leichen. Kranke und Krüppel. Hungergerippe der Heimkrieger. Und aus jedem Buch, das man aufschlagen würde, dachte ich gewiß, müßte widerklingen der Wehschrei der eisenzerfleischten Opfer, Menschen und Tiere, der Irrsinnslärm des Angriffs, die tierische Verblödung des Unterstandslebens, die Halluzinationen der Verrücktgewordenen, die Besinnung des Postenstehens, die Seligkeit des Überläufers. Aufgedeckt müßte werden der Hohn der „idyllischen Massengräber“, der „humanen Kriegführung“, der „großen Zeit“. Der ganze patriotische Himmel entgöttert werden, alle Rauschromantik zerfledert. Auf endlosen Märschen hat man nicht munter Wandervogelliedchen gesungen, sondern gefroren oder gedöst und sich die Füße kaputgelaufen. Beim Sturmangriff waren wir nicht bravourös voll Gott, König und Vaterland, sondern besoffen. An Schützengräbenöfen gab es keine poetische Kameradschaft, sondern gegenseitiges Bespitzeln und Bestehlen. Kein Mensch ehrte den Heldentod als süß und ehrenvoll, sondern jeder drückte sich davor so gut er konnte. Schwindel, Gemeinheit und jedes Verbrechen geschah nicht nur in dieser Zeit, sondern wurde ausdrücklich durch Gesetz und Reglement gefordert, gottgefällig geheißen und besonders geweckt und belohnt durch Beförderung und Verleihung der höchsten staatlichen Ehrenauszeichnungen in Form geschmackloser Tollkühnheitsmedaillen. Ehrliches Bekenntnis, anständige Menschlichkeit und gläubige Hingebung an eine große Idee waren fremd und ferne und mit dem Tode bestraft. Alles dieses und noch ungezählt mehr, die volle Sinnlosigkeit des Tuns und Duldens in Front und Heimat, nicht übersehen die Schweinereien der Etappenzwischenstation, müßte allen, die es mitgemacht hatten, noch einmal, befreit von Vorgesetzten- und Regierungsschwindel, lebendig gemacht und denen, die nachkommen würden, als ewig verabscheuungswürdiges Denkmal gerichtet werden.

Aber nicht einmal das. Dokumente dieser „Schande“, wo waren sie? Das Deutschland der Novemberrevolution und der Ebertrepublik setzte die Schande fort. Die Ausstellungen der Republik beherrschten Stahlhelmbilder, Heldenverehrungen, sentimentale Untergangslyrik und neutraler Kunstquark. Auf dem Buchmarkt profitierten kapitalistische Verleger an Wälzern der prominentesten Kriegsverbrecher. – Ach, nicht einmal das. Und hatte geglaubt – als selbstverständlich abgemacht, als Mindestverpflichtung –, daß aufgespeicherter Kriegsekel, Führerhaß und Vaterlandslosigkeit sich über Zeugnis und Bekenntnis hinaus zu revolutionärer Tat steigern müßten. Heruntergerissen müßten werden nicht nur von den kaiserlichen Monturen die Kokarden, sondern von allen Wänden in Schulen, Kneipen und sonstigen öffentlichen Häusern die Bildverehrung der gesamten karmoisinroten Schlächterinnung und ihres Obermeisters Wilhelm mit zahlreichem Familienanhang, herunter die Siegeswagen von Triumphbögen, die Siegesgöttinnen, die Siegessäulen, verschwinden die Kaiserecken, Kaisereichen, Kaisersäle, aufgeräumt mit der ganzen Zeughausherrlichkeit des Hohenzollernmilitarismus, ausgelöscht die klassischen Symbole des Gottesgnadentums. Über Nacht (wie haben sie gezetert, die deutschen Novemberrevoluzzer, gegen Revolutionstaten über Nacht), über Nacht sollte zum Beispiel die Reichshauptstadt erlöst werden von dem Weißgardistenspuk der Siegesallee; eines Morgens müßte dieses groteskeste Panoptikum hohenzollernschen Größenwahns und kaiserlicher Geschmacksblamage nicht mehr da sein. Oder Berolina, die Panzerhure auf dem Alexanderplatz („wat stellt’n die vor?“ fragt der Berliner – „det linke Been“), Symbol des Juste milieu, wäre ausgewechselt durch einen riesigen Proleten, der, Symbol des werktätigen Volks, befreit in Auge und Geste, die enteignete Bourgeoisie geduckt hielte. Solche Zeichen waren erwartet und wären zahlreich fruchtbar geworden an allen Enden und Ecken des Gott sei Dank besiegten und von seinem bankerotten Kaiser verlassenen Deutschland. Aber nichts, gar nichts.

Wie, hast du geträumt, das anders zu finden? Aber Herzchen! Die die Arbeitermassen an die Front geschickt hatten, die Kreditbewilliger, die Durchhalteprediger, die hatten sich konjunkturflink auf die freien Regierungsstühlchen gesetzt, die Republik eröffnet und nun vollauf zu tun, Ruhe und Ordnung in dem neuen Geschäft herzustellen. Maschinengewehre mußten Arbeiter zu ihren Untertanenpflichten zwingen, Aufständische mußten eingesperrt, Kommunisten erschossen werden. Die „völkerbefreiende“ Sozialdemokratie an der Spitze der frechsten Diktatur der Bourgeoisie erfüllt ihr historisches Schicksal als Büttel der deutschen Gegenrevolution. Immer feste rin in’n Dreck …

Straße frei: Die Revolution marschiert!

Mai 1922, Oskar Kanehl

Krieg

Was jubelt ihr und schwenkt die bunten Tücher?
Und brüllt den Krieg?
Werdet vor heiligem Gottgeist schamrot!
Hunger und Seuche und Tod
feiern den Sieg.

Was schießt ihr plötzlich auf euren Menschenbruder,
den ihr geliebt?
Fallt sengend über sein Gut und Habe her?
Staaten- und Völkerrecht. Wißt ihr nicht mehr,
daß es Menschenrecht gibt?

Leichenfeld. Kunst und Wissenschaft sind ein Gelächter.
Krähenmusik
Gott ist verjagt. Stumm ist sein Buch der Bücher.
Was jubelt ihr und schwenkt die bunten Tucher?
Und brüllt den Krieg?

Musterung

Nackte Männerleiber.
Knochige. Schwammige.
Borstige. Glatte.
Musklige. Verwöhnte.
Anziehen. Ausziehen.
Polizisten mit Anschnarcherton.
Schreibersoldaten.
Wiegen und Messen.
Zehenspitzen zusammen.
Kinn angezogen.
Hinter einer Kulisse
Warten und Frieren
in Zahlenordnung.
Davor
mit einem Federheldentrupp
ein Oberstleutnant.
Als Beckmesser. Der mustert.
Durch ein Augenglas.
Gutmütig streng, weißbärtig.
Wanderniere. Plattfüße.
Herzfehler. Leistenbruch.
Menschenmarkt.
Ein Arzt betastet das Nötigste.
„Ich habe …“ „Machen Sie keine Redensarten.“
„Aber ich habe ….“
„Tauglich für alle Waffen.“
„Die Seele reiß ich mir aus dem Leib.
Da seht, wie sie untauglich ist.“
Der Beckmesser nickt – „Infanterie.“

Soldatenmisshandlung

Im Nebel eulen noch die Gaslaternen.
Uns tat der Schlaf so not.
Da standen wir auf dem Kasernenhof,
dem nüchternen, umgitterten,
frierend.
Und: Stillgestanden. Richt euch.
In Abmärschen rechts schwenkt marsch!
begleiten uns Vorgesetzte
in die Kirche.
Widerwillig, aber ohne Murren,
wie ein Gefangenentransport,
hallt laut Soldatennägelschritt
auf sonntagsruhem Pflaster.
Im Federbett drängt sich der Bürger,
damit er nochmal müde wird,
an seine Frau. Indes wir in Sankt Barbara,
der kühlen, stramm unsern Dienst tun – Gottesdienst.
Sehr schlechte Bilder sind sehr fromm.
Seminaristisch spielt die Orgel.
Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen ….
liest ein verdorrter Prediger
den schönen Psalm.
Singen. Liturgie.
Und von der Kanzel über unsern Köpfen
spricht der bezahlte Schwätzer
mit schwerstudierter Zwerchfellschütterung:
Ernste Zeit, heilige Zeit …
und redet uns mit „Kameraden“ an.
Und treibt unlauter Politik.
Und schmeißt auf uns geduldige Gemeinde
im Namen Gottes
Beleidigungen aller unsrer Feinde,
Sagt uns durch nichts begründete stockplumpe Schmeicheleien.
Und lehrt vom lieben Gott,
daß er von uns allein gepachtet wäre,
in diesem ernsten Krieg, in diesem heiligen Krieg.
Mit Halleluja und mit Amen
Dummheiten ohne Maß und Lästerungen unerhört.
Er rollt sein hohles Sprüchlein ab
die vorgeschriebene Stunde.
Die Militärgemeinde gähnt, und betet
kernehrlich einen Fluch.
Noch einmal spielt die Orgel seminaristisch.
Wieder weiß keiner Text dazu.
Bis wir entlassen sind mit Priesters Segen. –
Von neuem: Stillgestanden. Richt euch.
In Abmärschen rechts schwenkt marsch. –

Uns hätte Schlaf so not getan.
Im Nebel eulen immer noch die Gaslaternen.

Wache im Krankenstall

Giftquallen stehn sich drängend in der Luft
vom Fieberdunst der kranken Pferde.
Wie in der Menschen Siechenhäuser
Name und Krankheitsbild
an jedem Stand.
Und zu den befohlenen Stunden,
mit Kennermiene, aber wenig Hilfe,
kommt ein Veterinär.
Kein Tier bewegt sich auf Anruf.
Dünne Haut zittert über Skeletten.
Gähnen und Keuchen. Winseln
und schauriges Wiehern.
Und alle sind heiß, wo man sie anfaßt;
und riechen abscheulich.
Aus einer Öffnung am Hals
hustet ein Pferd widerlich.
Ein Fuchs mistet milchig.
Aus Augen und Nüstern läuft breiter Schleim.
Wenn der Futtermeister Dienst tut,
möcht er sich kotzen.
Manche sind in den Russenschlachten verwundet.
Einem bleckt das rote Fleisch
am Widerrist. Held von Lublin.
Dazwischen Muttertiere
mit tiefem Hängekreuz
von schwerer Leiblast.
Wir halten Wache.
Ob es uns ekelt. Ob es uns hochkommt.
Wenn das Mitleid nicht wäre.
Und die Abgestumpftheit
und die große Müdigkeit.
Ein Gaul ist krepiert.
Ich werde die Nacht mit ihm schlafen.

Lästermäuler

Sie drängen sich
wie draußen vor dem Feind die Toten.
Und wie das Blut dienstpflichtiger Soldaten
fließt ihnen reichlich Wein aus bodenlosen Kübeln.
Mehr Wein, noch mehr! Zur Siegesfeier.
Und trunken fordern sie vom Vaterlande,
dem schwerbedrohten, wie sie prahlen
(und denken nur an schwerbedrohte eigne Batzen)
noch mehr Blut.
„Wir wollen siegen, (lauter), müssen siegen,
(lauter), werden siegen.
Deutschland – und auf dem Fette
ihrer glatten Backen schliddert Kronenlicht –
Deutschland soll über aller Welt,
soll über aller Welt –
Deutschland soll über aller Welt
die Fahne hissen.“
– Lärmruf und Zutrunk.
– Auf ihre Lästermäuler schlügen ihre Söhne sie,
die leben sollten, strotzig lebten;
und die
breitbrüstig nun dem Tode feilgeboten liegen.

Sieg

Die Glockentürme schreien neuen Sieg.

Was ist? Tausend und mehr
Menschenbrüder
liegen ermordet.
Tausend und mehr von uns.
Tausend und mehr von denen,
die eine Kriegslaune unsre Feinde nennt.
Tausend und mehr schleppt man in Hospitäler,
scheußlich verstümmelt.
Tausend und mehr von uns.
Tausend und mehr von den Feinden.
Unübersehbar (krähen die Zeitungen)
ist die Zahl der Gefangenen
und das erbeutete Kriegsmaterial.
Unübersehbar (sage ich Euch)
ist das Heer der Toten
und das Heer der Verwundeten.
Auf beiden Seiten.
Unübersehbar die Tränen
der Mütter und Witwen und Kinder und Bräute.
Unübersehbar gehobene Hungerhände.
Unübersehbar Jammer und Wahnsinn.
Eine reiche Stadt liegt
mit all ihrer Hände und Geister Arbeit
eingeäschert.
Besudelt ist ihr Stein mit Blut.
Ihre stillen Bürger verängstigt.
Weithin ist der Boden verwühlt.
Eine Ernte zertrampelt.
Weithin ist der Wald verwüstet.
Das aufgeschreckte Wild verscheucht.
Ungehindert mästen sich die Aastiere.
Über dem Lande ist der Himmel zerfetzt.
Von dieser Stätte hat sich Gott gewendet.
Was ist?
Wer rührt da freventlichen Jubellärm?

Ich will Euch ins Gesicht treffen
und predigen:
Herunter mit den Glocken
und werft sie ins Tal.
Schlagt Euch die Fäuste in die Augen
und fallt auf die Erde,
euer unverdientestes Geschenk.
Und klagt und weint.
Und klagt und weint.
Und schämt euch
eures unglückseligen, gemeinen
Sieges.

Unterwegs

Es reißt mich in Nacht.
Aus ihrem Schacht
in den Viehwagen winkt
der Mond leichenfarb.
Leuchtest mir zum frühen Tod.
Kameraden betäuben sich.
Lieder sind lauter als Schmerz.
Ein paar sind schon Tiere.
Aus Augen und Maul
speien sie Rauflust.
Mancher sitzt stumm
und bedenkt noch.
Oder gräbt sich
sinnlos ins Dunkel.
Wir fliegen über helle Bahnsteige
wo Landsturm Spionen lauert.
Über Flüsse und Städte.
Immer tiefer in Nacht.
Ich hab keine Mutter mehr.
Von meinen Brüdern weiß ich nichts.
Ich bin Soldat und werde Mörder sein.
Blut durchsickert mein Herz.
Blut und Blut.
Bis es stickt.

Märsche

Immer und immer wieder diese langen Chausseen
die wir marschieren.
Dieses Spießrutenlaufen zwischen militärischen Bäumen ‚
und weißen Kilometersteinen.
Wir werden zermahlen.
Mit den Augen ist man am Rücken des Vordermanns aufgehakt
und läßt sich ziehen.
Keiner sagt was.
Nichts als das Klappern der verfluchten Kanonenräder.
Und das Knirschen des zerpreßten Steins.
Und das schlürfende Schlaksen der Kolonnen.
Die Kameraden schlafen im Gehen.
Zwei haben sich die Hände gegeben
und tragen sich mit geschlossenen Augen vorwärts. .
Ich versuche mir etwas Schönes auszudenken.
Aber ich finde nichts.
Und übergebe mich dem Blödsinn der nerventötenden Geräusche.

Auf dem Marsch

Die Beine baumeln in den Hüften,
und unsre Knie beugen sich nach vorne tiefer.
Sehr langsam wird die Straße überwunden.
Durch Brandstätten und Mordfelder,
vor denen uns nicht mehr schauert.
Durch neue Ernte, und Sonne, Sonne,
die uns nicht mehr wärmt.
Vom vielen Hängen sind die Hände geschwollen.
Das harte Schuhzeug reißt die Füße wund.
Von Schweiß und Staub ist das Gehirn verklebt.
Schlapp zum Hinschlagen.
Aber die Herde treibt alle weiter.
Aus müden Mündern fallen lalle Lieder.
Nur um den Takt.
Kein Mensch freut oder ärgert sich
über den lieben Gott oder das Vaterland,
von dem sein Sang singsangt.
Es gibt überhaupt nicht Freude und Haß mehr in uns.
Wir sind so sehr verkommen.
Nur selten richten sich Lustigkeiten auf
und sind mechanisch.
Manchmal (sehr trostlos) quält einen
eine Erinnerung: Du meine Mutter,
und: Du meine liebe Frau.
Dann wieder fällt er in die alte Starre
und stiert vor sich auf die Kanonenräder,
die mühsam greifenden,
wie vom zermahlenen Stein
die Pulverwolke steigt.
Die Marschkolonne hat den Gleichschritt aufgegeben.
Jeder pendelt im Gleichschritt seiner Körpermaschine.
Irrsinnig eintönig. Irrsinnig eintönig.

Vormarsch im Winter

Bespannt von grauem Leichentuche ist der Himmel.
Das Land schneeüberweht.
Eiswind peitscht splittriges Glas in unser Fleisch.
Kein Wetter hemmt den Befehl zum Vormarsch.
Und kein Opfer.
Auf gefrorenem Boden hallt unser Schritt hohl
als gingen wir auf Sargdeckeln riesiger Massengräber.
Einzeln stoßen Strauchstrunke durch den Schnee
wie Hände eines der noch leben wollte.
Vielleicht eines meiner getöteten Freunde.
Bleibt wach! Ihr werdet alle mit uns auferstehen!
Baumkronen, hängen als groteske Fesselballons über der Erde.
Wegweiser zeigen mit schwarzer Hand
in unbekannte Tode.
Seltene Stimmen sprechen wie in leeren Kellergewölben.
Verfluchter Tag.
Die eingewickelten Feldgrauen schleichen neben dem langen Zügel ihrer Tiere
und haben Eisbärte, die Pferde Eisschwänze.
Schritt für Schritt bleibt eins stehen.
Hustet und schüttelt sich vor Kälte.
Die Magenwände schlagen aneinander.
Schleimhäute funktionieren ohne Hilfe.
Im Gleichtakt wiegend wankt die Last
der Berggeschütze auf dem Rücken der Tragtiere.
Öfter muß nachgegürtet werden. Dann stockt es.
Oft umgepackt.
Aber das Ganze kommt vorwärts. Muß vorwärts.
Nur diese einzige wache Freude:
wenn von den Stollen an den Hufen der Pferde
ab und zu ein warmer Feuerfunke springt.
Vor uns gähnt ein dunkles Gebirge
von dessen Gipfel wir heut noch schießen müssen.
Aber es ist noch weit.
Inzwischen fällt ein Pferd um. Ein Mann fällt um.
Am Wegrand ragt ein Kreuz an dem ein Christus friert.

Schlachtfeld

Schwefelig mit roten Blutspritzern
schwindet die Sonne.
Nur dann und wann
bummst irgendwo ein Mörserschuß.
Lichtläufer suchen am Himmel
feindliches Flugzeug.
Dunkle Meldereiter galoppieren
mit neuen Mordbefehlen.
Manchmal grinst in der Ferne
ein Feuerschein.
Die Schlacht ist müde.
Samariterhunde
wie menschenfreundliche Hyänen
traben über den Plan.
Rotekreuzwagen. Ärzte.
Träger und Trägerinnen.
Verwundete vergessen ihren Völkerhaß,
und Leichen lagern brüderlich.
Schmerzschreie schwer Getroffener.
Röchelnde Rufe Sterbender.
Pferdekadaver. Weggeworfenes
und zerschossenes Kriegsgerät.
Modergestank.
Letzte Zeilen kritzelt ein Griffel.
Am Freundesherzen horcht ein Kamerad.
Ein Atem stockt. –
Tränen und Siegjubel.
Beten und Fluchen.
Und alles schluckt
die große Nacht.
Ein weißer Totenschädel
scheint der Mond.
In Menschenaugen hacken Krähenschnäbel.

Nacht vor Sturm

Tage und Nächte hat uns Artilleriefeuer betäubt.
In uns ist es unendlich tot.
Unser Leben ist längst ohne Sinn.
Der gestern neben mir lag, sagte mir leise:
Du, ich schieße nicht.
Da sprengte ihm ein Splitter,
der nichts von Menschenliebe weiß, den Schädel.
Diese Nacht ist tiefer und grauenvoller als alle Nächte.
Morgen werden wir aus den Gräben springen.
Zum Sturm. Es ist alles bereit.
Manche schlafen noch einen zufriedenen Schlaf.
Die müssen keine Seele mehr haben.
Ich fühle in der unheimlichen Dunkelheit
das spärliche Denken der Kameraden.
Sprache verliert. Tierischer Gleichmut.
Wir sind beherrscht von dem Befehl
den uns der Nachbar zurufen wird.
Atemnot. Dunkelheit. Feuer und dumpfes Einschlagen.
Drüben in den feindlichen Drahtverhauen
hängen schon die vierte und fünfte.
Nun gehts an unsre Kompagnie.
Uns friert so. Nicht aus Angst.
Aber vor diesem fremden Sterben.
O! Betet eine Frau für mich?
Ich bringe eine letzte Mühe auf, leben zu wollen.

Nun dauert es so lange

Nun dauert es so lange,
daß ich anfange zu vergessen,
wie sehr ich dir gut war.
Und wenn ich dich
zwischen den Wahnsinnen der Schlacht
im Traum treffe,
dann leuchten deine samtenen Augen
lieb mir zu.
Und deine großen Lippen locken meinen Kuß.
Und deine Hüften tragen,
was du mir versagst.
Auf deiner Blässe blüht ein unerlöstes krankes Fieber.
Unirdisch kommt dein Fuß,
an dem die rote Rose stak,
den ersten Tag, da ich dich sah.
Und deine Schritte reihen sich
wie Psalmenglieder.
Schwarze Frau, dein schwarzes Haar
fühle ich weich an meiner Hand
und deine körperliche Nähe ganz lebendig. –
Aber ich benehme mich ungelenk
und fremd und wie nicht mehr gehörig
zu dir.
Der Traum an dich weckt mich in meinem Schlafe auf.
Und wenn ich wache,
lärmt kriegerischer Tag um mich,
in dem ich dich so oft verlor.
Bleib du mir treu.
In deinem Räuschen bleib mir treu.

Mazedonischer Winter

Wir möchten in den Schützengrabenofen kriechen.
Die Luft steht.
Und die Berge sind steif und spitz.
Blut erfriert.
Aber der Krieg geht immer.
Unser letztes Interesse hängt an dem Feuer
das wie glühender Schnee an unsern Füßen kocht.
Bulgarenkameraden betteln auf den Knien um Wärme; .
Aber wenn man sie einläßt, stehlen sie unser Brot.
Plötzlich ist in der Nacht eine Katze dagewesen.
Und hat ihr Fell am Feuer verbrannt.
Und kommt nun jede Nacht.
Die Tage sind Tage.
Und die Nächte sind Nächte.
Es ist blödsinnig langweilig.
Alles ist gleich.
Ich habe mich um den Ofen gewickelt
und hoffe nichts als daß ein oder zwei Frauen
nicht schlechter von mir denken als ich bin.

Der mazedonische Tod

Sonne füllt wie dicker Schleim die Gassen der Etappe.
Flache Häuser schwimmen im Dunst wie führerlose Flöße.
Ein weißer Schornstein, Turm vom Minarett, sticht in den trostlos blauen Himmel,
in dem, wie festgeklebt, die Genfer Flagge hängt.
Atmen verbrennt die Lunge.
Von allen Seiten durch den hohen Staub kommen Autos
aufgefahren wie zum Hofball.
Bringen die Schwerkranken in die vollen Zelte.
Noch Gesunde schleppen stöhnende Kameraden.
Oder hält der Heiland
Jesus Christus
selber Heiltag hier?
Die Türkenfrauen sind so dicht verhüllt;
man weiß nicht was sie denken.
Malariafieber phantasiert von Frieden.
Ruhrkranke können ihren Stuhl nicht bei sich halten.
Der ganze Umkreis stinkt.
Typhuszerfressne Leiber wissen kaum noch, daß sie leben.
Vom Kriegsmordwerkzeug Wunde bluten aus.
Die Fakultät ist solchem Todeswillen nicht gewachsen. –
Immer hin und her
schleicht der Bretterwagen
mit dem lahmen Schimmel
an der einen Seite der Deichsel
mit seiner Last
in weißes Tuch gewickelt.
Einen nach dem andern. –
Und die Kapelle bläst den ganzen Tag
dieselben beiden Lieder:
Jesus, meine Zuversicht.
Ich hatt’ einen Kameraden.

Überfall

Die Höhenstellung brennt in Mittagsonne,
Idyllisch ziehen Tragtierstaffeln bunt bergauf.
Esel mit friedlichen Kochkisten. Bosniaken. Heimatlieder.
Auf einmal – eingesehene Stelle –
heult gefräßig – Warnungssignal –
und stürzt
der schwere Schuß.
Rauchsäule steigt
vom Kaïnsopfer
und fällt
und läßt ein Loch
wie eine große Badewanne.
Paar hundert Meter daneben warten Zuschauer.
Vier Mann tot.
Drei Beine brachten sie davon herunter
in einer Zeltbahn.
Und ein bissel Gehirn
das in den Sträuchern hing.

Abend

Berge aus blassen Rosenblättern
blühen am Horizont.
Gelbe Wege münden zärtlich ein
in Walfahrtsziel.
Ungeheuer blaue Schatten
breiten über tiefem Tal,
aus dem ein mattes Lagerfeuer leuchtet.
Ganz leise zünden Sterne ihre Feierflammen an.
Und Mond zieht milden Silberschleier
über hartes Taggesicht.
Waffen ruhen. Stille ist. –
Ich höre deines Herzschlag, ferne Frau.
Und deine Träne auf das Bettuch fallen.
Nun bete ich seit lang zum erstenmal
daß auch Feindschaft und Krieg
endlich zu Abend gingen.

„Das einer Spinne gleich mit dürren langen Beinen über meine Seele kroch“

Das Licht versammelt uns um diesen kleinen Tisch.
Du liest Gedichte deines toten Freundes.
Sie ist beteiligt wie an heißem Leben.
Von draußen dringt das Meer mit Ruch und Rausch herein.
Ich lausche nur mit halben Sinnen.
Das Töten wird noch lange nicht zu Ende sein.
Du wirst Gedichte deiner toten Freunde lesen.

Der Deserteur

Ich will nun nicht mehr länger das Gemeine tun.
Ich will nicht mehr für meine Feinde kämpfen.
Die Kompagnie schläft todbestimmt in ihren Höhlen.
Es ist stockdunkel.
Nur wenn in trostlosen Abständen
Leuchtkugeln aufgehen,
ist das Stück Erde zwischen mir
und den französischen Genossen mir gegenüber klar.
Das Stückchen Erde.
Unterm Drahtverhau bin ich schnell durchgekrochen.
Dann sind nur noch drei Sprünge.
Mir ist so heimatbange heut.
So haßgeladen gegen Gott, König und Vaterland.
In einer Stunde muß es Morgen sein.
Ob ich …
Der Grabenoffizier kommt – letzte Runde –
„Auf Posten nichts Neues.“ und torkelt weiter.
Saudumme Fratze.
Ich tu’s.
Noch einmal leuchtet solche Kugel – Stern von Bethlehem.
Wenn nur der Leidensfreund dort von der andern Seite
mir keine Handgranate in die Beine schmeißt
wenn ich jetzt überlaufe.

Der letzte Krieg

Du großer Krieg!
Wo sind für deine Schlachten die Soldaten?
Du großer Sieg!
Wo sind zu deiner Weihe die Prälaten?
Wo sind die Waffen deiner überzähligen Feinde?
Wo Bünde, die das Brüdervolk der Völker einten?
Hauft euch, Geistkämpfer aller Vaterländer
brecht aus mit eures Feldgeschreies Wucht;
das abreißt eitele Paradebänder,
das Plempen bricht, Schießprügeln flucht;
das in Kanonenschlünden Kugeln würgt.
Pflanzt auf, entrollt die heilige Fahne,
die Freiheit bürgt!
Du aller Geister große Republik.
Ruf gegen allen Mörderkrieg den letzten Krieg.
Zu aller Siege wundergroßem Sieg!

An alle

Soldaten! Alle!
Entblößt Eure Narben auf den Marktplätzen.
Reißt Eure Wunden auf.
Hebt Eure Krücken, Kriegskrüppel, in den belebtesten Gassen.
Kriegsblinde, Eure leeren Augenhöhlen.
Kriegskranke, zeigt Eure Schwären öffentlich.
Eure Hungerleiber, Heimkrieger.
Bräute, Witwen, Mütter,
Tragt Eure Tränen aus Euren Kammern in die lauten Städte.
Haltet sie sichtbar hoch, Eure verwaisten Kinder.
Liebe zum Vaterland?
Antwortet den höllischen Versuchern mit der ganzen Wahrheit:
Öffnet Euch, Erde und Meergrund.
All Ihr Hingemetzelten, Zerrissenen, Vergifteten, Vermißten, Gefangenen:
Steigt quälend auf.
Ein warnendes Gewissen unserem wachen Tag.
Ein drückender Alp unseren Nachtträumen.
Vaterland ist ein tönendes Erz.
Und der Tod fürs Vaterland eine klingende Schelle.
Und Ihr, all Ihr in Tränen und Elend Überlebenden.
Bekennt:
Lieben werden wir Eure Feinde.
Ihr wollt uns dafür erschießen?
Ekel und Angst schüttelte uns vor Eurem kriegerischen Heldentod.
So aber zu sterben
– ohne Widerspruch zu unserem Leben –
für das wir gelebt haben,
Süß und ehrenvoll ist es.
Wir bangen nicht davor.
Wir grüßen ihn.
Wir jubeln ihm zu.
So viele werdet Ihr zum Tode bereit finden,
Daß Eure Kugeln nicht hinreichen.
Daß Ihr des Schlachtens satt werdet.
Und Ihr an der überzeugenden Liebe dieser Sterbenden erstickt.
Bekennt:
Der Mensch ist da.
Der durch keinen Lohn und durch keine Drohung zu bewegen ist
Gegen den Mitmenschen zu sein.
Der Mensch ist da.
Der den Mitmenschen liebt wie sich selbst.
Der den Mitmenschen dient, wie sich selbst.
Dessen Berufung die Arbeit ist
Zur Erhöhung des Menschen.
Bekennt;
Wir sind vaterlandslos.
Nationale Ehre haben wir nicht.
Wir sehen keinen Unterschied zwischen den Gewaltakten der verschiedenen Vaterländer.
Wir sehen keinen Unterschied zwischen der Arbeit der verschiedenen Vaterländer.
Grenzpfähle sind uns Kerkerstäbe.
Politik ist ein Menschenhandel –.
Wir lassen nicht mehr Politik mit uns treiben.
Regiertwerden ist Sklaverei.
Untertan ist Knechtschaft.
Wir werden uns selbst regieren,
Uns selbst bestimmen.
Beugen wollen wir uns allein dem Vertrauen zum Menschen.
Nennt uns wie ihr wollt.
Unser schlichter Name heißt: Mensch.
Bekennt:
Der Mensch ist da. Besinnet Euch.
Zeugt für ihn.

Revolution

Gequälte Kraft brüllt stöhnend auf.
Volk.
Gebeugte Rücken recken sich.
Unzählige freie Fäuste ballen sich.
Volk.

Gerottet wie Gewitterwolken
Volk.
Umdrohen sie den morschen Staat.
Und zucken auf und schlagen ein.
Volk.

Der Tron ist leer. Der Altar leer.
Volk.
Laßt Knechte uns regieren.
Und Huren Mütter Gottes sein.
Volk.

Blut trieft von unsern Knochenhänden.
Volk.
Auf Königsleichen stehn wir stolz.
Rot deckt die ganze Erde unsre Fahne.
Volk.

Rechte

Der Text von Oskar Kanehls Die Schande ist nach Auffassung des Herausgebers der Rheinischen Kulturraumverdichtung gemeinfrei, da die Schutzfrist nach § 64 Urhg – siebzig Jahre nach dem Tod des Urhebers – abgelaufen ist. Bei der Verwendung bedenken Sie bitte, dass Sie für die Rechtmäßigkeit der Verwendung selbst verantwortlich sind. Aus der Tatsache, dass der Herausgeber davon ausgeht, dass der Text nach deutschem Urheberrecht gemeinfrei ist, können Sie nicht folgern, dass dies für eine Verwendung unter der Rechtsordnung, unter der ihre Verwendung steht, gilt. Dementsprechend kann der Herausgeber nicht für etwaige Rechtsfolgen einer Weiterverwendung haftbar gemacht werden.

Die Edition der Rheinischen Kulturraumverdichtung steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.

Editorische Notiz

Der Text der vorliegenden Ausgabe folgt dem Text der Erstausgabe, die 1922 im Verlag Die Aktion, Berlin-Wilmersdorf, erschienen ist, herausgegebenen von Franz Pfemfert. Einige Gedichte waren zuvor in der Zeitschrift „Die Aktion“ und in einem Sammelband der Aktion bereits veröffentlicht worden.