Kulturraum NRW


Wege durch das Ruhrgebiet – Ruhrtriennale

Erzählräume zwischen Duisburg und Bochum

Die Ruhrtriennale erschließt mit ihrem „Wege“-Projekt in acht Touren Stadtlandschaften und Erzählräume zwischen Duisburg und Bochum (bis 18. September 2022).

Ruhrtriennale, Flaggen. Foto: jvf

Die Ruhrtriennale hat ihr, im letzten Jahr aufgelegtes Projekt „Wege“ wieder aufgenommen und um drei neue Touren ergänzt.

Kuratiert vom Dramaturgen Aljoscha Begrich führen nunmehr acht audio- und text­basierte Exkursionen zu Fuß, mit dem Rad, der Tram und dem Zug durch den Sektor zwischen Duisburg und Bochum und weiter in den Iran, nach Mexiko und in andere Dimen­sionen.

Zwei bis drei Tage kann man gut mit diesen Entdeckungs­reisen verbringen und ist danach um einiges reicher an Einsichten und Geschichten.

Duisburg: Altes zu neuem Leben erwecken

Der Musiker und Fotograf Stefan Schneider (*1961 in Düsseldorf) hat mit seiner rund 12 km langen Audio-Fahrrad­tour (um die 2 h) vom Hbf Duisburg durch die Duisburger Einkaufs­zone, Kaßlerfeld, Ruhrort, Laar und Unter­meiderich bis hin zum Landschafts­park Nord einen Stadt­führer zu Locations ent­wickelt, die garantiert in keinem Reise­führer stehen.

Ruhrtriennale, Wege, Altes zu neuem Leben erwecken. Foto: jvf

Unter dem etwas sperrigen Titel Altes zu neuem Leben erwecken kommen in den Audio­tracks Einwohner und Expert:innen des Alltags zu Wort, die vom Leben und Arbeiten in Duisburg berichten.

Da sind zum Beispiel der Polizei­haupt­kommissar der Wasserschutz­polizei am Binnen­hafen, die Chefin der Konditorei Kurz in Ruhrort, die Chefin der Änderungs­schneiderei Sen in Meiderich, Lehrer:innen der Duisburger Hundertwasser­schule.

Die Interviewausschnitte sind immer nur wenige Minuten lang, in vielen Fällen wünscht man sich eine extended version – die Menschen haben etwas zu sagen.

Duisburg: El extranjero

Wege: El Extranjero, Lisandro Rodrigues © Daniel Sadrowski, Ruhrtriennale 2022
Wege: El Extranjero, Lisandro Rodrigues © Daniel Sadrowski, Ruhrtriennale 2022.

Etwas ratlos dagegen hinterlässt zumindest mich die Intervention El extranjero des argentinischen Künstlers Lisandro Rodriguez (*1980 in Quilmes).

Plakate mit weißer Schrift auf schwarzem Grund stellen auf dem Weg zum Duisburger Landschafts­park bohrend-kritische Fragen wie „Welche Roh­stoffe rechtfertigen das Ende?“, „How much does violence not fascinate me?“, „Ist Kunst der neue Bergbau?“, „¿Tu conflicto es global?“.

Manchen mag diese Intervention vielleicht etwas einfach gestrickt erscheinen.

Mülheim: Unearth

Sehr spannend ist dagegen der Audiowalk, den die 1983 in Teheran geborene Dramatikerin und Regisseurin Azadeh Ganjeh für den Weg zwischen Mülheim-Styrum und dem Mülheimer Haupt­bahnhof ein­gerichtet hat (rund 4 km – mindestens 1 h).

Ruhrtriennale, Wege, Unearth. Foto: jvf

Unearth führt zu Orten der Wasser­wirtschaft und -landschaft an der Ruhr und überschreibt die Mülheimer Settings in Form einer „Gegen­kartierung“ mit Erzählungen aus der Gegend um Haft Tepe (oder Tappeh) im Südwesten Irans.

Die Geschichten aus Haft Tepe verbinden Einsichten in die desaströsen Auswirkungen industriellen Anbaus von Zuckerrohr durch eine „Haft Tappeh Sugar­cane Agro-Industry Co.“ und in die Ohnmacht des Wider­stands dagegen mit einer Klage über den Migrations­druck, den ökologische Kata­strophen und Wasser­krisen erzeugen.

Das ist ebenso lehrreich wie ergreifend – fast ein wenig benommen von der Kraft der Erzählungen kommt man am Ziel beim Bahnhof an.

Essen/Kettwig: Los vientos

Ruhrtriennale, Wege, Los Vientos. Foto: jvf

Das 2003 von Luisa Pardo und Lázaro Gabino Rodríguez gegründete mexikanische Theater­kollektiv Lagartijas tiradas al sol hat für die Strecke vom Essener Haupt­bahnhof bis zum Kettwiger Ruhr­bogen eine Erzählung um den Wind und das Wasser und die Zerstörung des Gleich­gewichts inszeniert (ungefähr ¾ h mit der S6 und zu Fuß).

Ein illustriertes Booklet („Fanzine“, liegt aus auf der Theke von Kamps in der Essener Bahnhofs­halle), Los vientos / Die Winde, erzählt während der Fahrt mit der S6 eine Legende aus Yuxatoto im Südwesten Mexikos von den Sieben Dörfern und ihrem Untergang: „Der Wohlstand der einen bedeutet fast immer das Unglück der anderen“.

Am Ende des Wegs, am Kettwiger Ruhrufer, bündelt eine Installation Motive der Legende.

Essen: Achtmal blinzeln

Ruhrtriennale, Wege, Achtmal blinzeln. Foto: jvf

Das Bochumer Kunst- und Theater­kollektiv Anna Kpok gestaltet die Fahrt mit der Tram 107 von Essen Haupt­bahnhof bis zum Abzw Katern­berg mit Exkursion in Stoppen­berg als „Text-Adventure“ (etwa 1¼ h).

Das Booklet für die Abenteuertour („Ein Dimensions­reise­lesebuch“ – liegt aus bei Blumen Große-Kock im Hbf Essen und bei PACT Zollverein) lädt ein zu einem spielerischen Parcours, der auf Ent­scheidungen der Reisenden beruht und verschobene Wahr­nehmung und Einbildungs­kraft trainiert.

Und es regt an, die etwas ins Hintertreffen geratene Kultur­technik des Versands von Ansichts­karten wieder­zubeleben.

Das macht Spaß, auch wenn man mit der etwas abgedrehten und im Büch­lein breit­getretenen Metapher der „Dimensions­reise“ wenig anfangen kann.

Essen, Gelsenkirchen: Naturbüro 1–7

Ruhrtriennale, Wege, Naturbüro 1-7. Foto: jvf

Verblüffend interessant – auch für Nicht-Ornitholog:innen – ist die Fahrrad­tour von Zoll­verein zum Haupt­bahnhof Gelsen­kirchen (oder umgekehrt): Naturbüro 1–7 (rund 6 km – etwa 1½ h).

Die Dokumentarfilmer:innen Ulrike Franke und Michael Loeken haben für sieben Hör­stationen Expert:innen befragt zu Nist- und Wander­verhalten von Vögeln, dem Arten­sterben, der allmählich aus­sterbenden Kultur der Brieftauben­zucht. Und sie erzählen sehr eindrucks­voll von der Bedeutung des Vogel­gesangs für das Leben der Menschen und ihr Heimat­gefühl.

Die hübsche Strecke führt u.a. durch die Zechen­siedlung Dahlbusch, zum Brieftauben­zentrum am Hördeweg und durch den Gelsen­kirchener Stadt­garten. Ist kein Rad zur Hand, kann man das mit etwas mehr Zeit auch gut zu Fuß machen.

Bochum: Inside out

Ruhrtriennale, Wege, inside out. Foto: jvf

Etwas Resilienz muss man mitbringen für den rund 4 km langen Audiowalk vom Bochumer Haupt­bahnhof bis zur Jahrhundert­halle (ca. 1½ h). Inside out wurde vom Berliner Performance-Kollektiv tehran re:public eingerichtet und ist gerade zu Beginn bestimmt von recht pathetischer, raunend-poetischer Prosa sehr zweifel­hafter Qualität.

Es wäre zwar verständlich, aber sehr schade drum, wenn man die Tour daraufhin zu Anfang entnervt aufgeben würde – im weiteren Verlauf gibt es die ein oder andere spannende Einsicht in eine kritische Sozio­logie der Stadt­planung, in die Techniken der Exklusion aus dem öffent­lichen Raum, in das Gewalt­potential von Wohn­quartieren.

Gleichviel, angekommen an der Jahrhundert­halle können sich Anti­pathetiker schadlos halten: Auf dem Vorplatz hat Katja Aufleger ihre hübsche Installation The Huddle aufgebaut, in der drei Atlas-Bagger sich – zu möglicher­weise etwas Beunruhigendem – verständigen (tgl. ab 12 Uhr).

The Huddle, Katja Aufleger © Daniel Sadrowski, Ruhrtriennale 2022
The Huddle, Katja Aufleger © Daniel Sadrowski, Ruhrtriennale 2022.

Bochum, Gelsenkirchen: Zwischentage

Uneingeschränkt empfehlenswert ist die Audiotour von der Jahrhundert­halle zum Gelsen­kirchener Haupt­bahnhof: Zwischentage (ca. 1¼ h). Eingespielt von der, seit 2012 im Sektor aktiven Gruppe Ruhrorter geht es über den Westpark hinunter zur Halte­stelle der Straßenbahn­linie 302, mit der Tram durch Watten­scheid und Gelsen­kirchen bis hin zum Neustadt­platz südlich des Bahnhofs (oder umgekehrt).

Die Autor:innen erzählen vom Struktur­wandel, ein Experte von Berg­schäden und Ewigkeits­aufgaben, Jasmin Degeling von zunächst ausbleibender Gentrifi­zierung in Gelsen­kirchen. Sipan Ali und Azad Helez (von Salar Music – Musikalien­handel und zugleich Musik­schule an der Strecke) bringen Überlegungen zum Potential multi­kulturell geprägter Musik im Revier bei und machen einen ziemlich coolen Sound­track. Lina Atfah hat ein Gedicht mitgebracht („Das letzte Lied des Kanarien­vogels“).

Ruhrtriennale, Wege, Zwischentage. Foto: jvf

Das eine Mal wünscht man sich, die Straßen­bahn wäre langsamer unterwegs, um mehr davon zu hören.

Praktische Hinweise

Wege. K: Aljoscha Begrich. Ruhr­triennale 2022, verschiedene Orte im öffent­lichen Raum zwischen Duisburg und Bochum, 11. August – 18. September 2022.