Die Documenta 13 in Kassel 2012 – Ein Rundgang: Dritter Teil
Revolution und Arbeit, Krieg und Gebet
Auf der documenta 13 erzählen Künstler vom Krieg, erkunden die subversive Macht demokratisierter Medien, konstatieren das Verschwinden der Arbeit und erhält Thomas Bayrle für seine Apocolocyntosis der Technik von mir die Martin-Mosebach-Gedächtnismedaille. Der dritte Teil eines Rundgangs in drei Teilen, der jetzt doch noch einen vierten Teil bräuchte, aber man kommt ja zu nichts.
Der 1972 in Jerusalem geborene Filmemacher Omer Fast lebt heute in Berlin und zeigt in seinem metafiktionalen kleinen Fernsehspiel Continuity (2012, Video, 40 min.) drei Variationen der Heimkehr eines jungen deutschen ISAF-Soldaten – und eine vierte des Ausbleibens. Die Eltern werden in allen Variationen von den gleichen Schauspielern gegeben, die Besetzung des Soldaten wechselt. Oder hat das Elternpaar, das da stets aufs Neue zur Bahnstation fährt, um einen Sohn abzuholen, Schauspieler oder Callboys engagiert, um die Heimkehr zu simulieren? Und ist das eine Leiche, die der Vater nächtens im Kofferraum versenkt? Karlsaue, 60.
Wael Shawky (*1972 in Alexandria) nähert sich mit Cabaret Crusades: The Horror Show File (2010, Video, 32 min.) der Geschichte des ersten Kreuzzuges aus arabischer Sicht. Shawky verwendet sehr ausdrucksstarke, zweihundert Jahre alte Marionetten aus der Turiner Sammlung Lupi, die an sichtbaren Fäden geführt werden und vor atmosphärisch dichten Kulissen Episoden des Krieges von der Synode von Clermont (1095) bis zum Massaker von Jerusalem (1099) darstellen. Das Kammerspiel der Grausamkeiten ist der erste einer auf vier Filme angelegten Serie in Sachen Kreuzzüge. Vermutlich findet man auf Youtube illegale Ausschnitte. Neue Galerie, 162.
Von der Revolution
Rabih Mroué (*1967 in Beirut) sammelt und analysiert im Südflügel des Hauptbahnhofs derweil Handyvideos aus den Revolutionen und Bürgerkriegen des arabischen Frühlings: The Pixelated Revolution (2012, Video und verschiedene Materialien). Seine Videovorlesung meditiert über Phänomene des „double shootings“: wie etwa das syrische Regime auf filmende Passanten schießen lässt. Mroués Versuch einer analytisch-nüchternen Äquidistanz zu den beiden Enden des double shootings sorgt für ein Gleichgewicht des Schreckens im Krieg der Bilder, formuliert aber auch die grimmige Hoffnung, dass die narrationsperspektivische Unmöglichkeit, den eigenen Tod zu erzählen, lebensrettend auf die Wirklichkeit übergreifen möge. Die analytische Distanz wird für den Besucher aufgelöst durch Daumenkinos mit Bildmaterial aus den Revolutionsvideos, die im Vorraum des Lecturerooms ausgelegt sind. artort.tv hat einen Videobeitrag. Hauptbahnhof Südflügel, 122.
Wenn man will, kann man von zwei Ziegelsteinen aus, die in der Rotunde des Fridericianums hingestellt sind, eine historische Perspektive aufmachen: Vom Prager Frühling hin zum arabischen Frühling, vom symbolischen Einsatz simulierter Mediengadgets als subversiver Geste 1968 hin zur Wirkungsmacht demokratisierter Medien im symbolischen Kampf heutiger Revolutionen. Als die Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei für Friedhofsruhe sorgten und mittels Regelungen und Verbote der Rundfunknutzung die Kontrolle über die Öffentlichkeit zu erlangen suchten, nahmen sich Prager Demonstranten Ziegelsteine, versahen sie mit Antennen und gaben vor, damit ihren Rundfunk zu hören. Der Fluxuskünstler Tamaś St. Turba hat zwei dieser Ziegelsteinradios nachgebaut: Czechoslovak Radio 1968 (1969-2012, Ziegelstein, Schwefel). Fridericianum, 166.
Auf Arbeit und im Gebet
Zu etwas ganz anderem: Arbeit wird auf dieser documenta zum Thema vorrangig nur im Hinblick auf den Primärsektor, der mit nicht-anthropozentrischen Perspektiven der Nachhaltigkeit versehen werden soll, aber dazu später mehr. Eine Ausnahme ist das Monument der verschwunden oder exportierten warenproduzierenden Arbeit, das István Csákány (*1978 in Rumänien, lebt in Budapest) in die Lagerhallen des Hauptbahnhofs gestellt hat, die Replika einer Textilmanufaktur: Ghost Keeping / The Sewing Room (2012, variable Größe) — Foto und 360°-Panorama beim HR. In fast fanatischer Detailtreue formt Csákány aus Holz (ich glaube, das ist Fichte) eine leicht überlebensgroße Näherei: Nähmaschinen, Bügelstation, Plättpresse usw. markieren die Abwesenheit der Produzenten. Anbei präsentieren Geistergestelle auf einem Laufsteg Businessanzüge im Retroprol-Schnitt. Hauptbahnhof Nordflügel, 44.
In der documenta-Halle bespielt Thomas Bayrle (*1937 in Berlin) den Hauptsaal im Alleingang. Zu sehen ist u. a. seine monumentale Fotomontage Flugzeug (1982-83, Fotomontage, 8 x 13,4m), vor allem aber neuere Arbeiten, die die Apotheose der Technik zu einer Art Apocolocyntosis der Technik ironisieren: aufgesägte Motoren und — sehr lustig — ein Scheibenwischer tanzen den Rosenkranz, u.a. Rosary (2012, Galaxis-Scheibenwischer mit Motor, Soundinstallation, 110 x 86 x 43 cm), Porsche 911: Rosenkranz (2010, aufgesägter Porschemotor, Soundinstallation, 100 x 71 x 93 cm), Montranz (2010, aufgesägter Sternmotor, Soundinstallation, 150 x 110 x 120). Bayerle bekommt von mir dafür die Martin-Mosebach-Gedächtnismedaille für angewandte Blasphemie. Der HR hat umfassendes Material zu Bayerles Arbeiten auf der documenta. documenta-Halle, 25.
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