Kulturraum NRW


„1914 – Mitten in Europa“ – Ausstellung auf Zeche Zollverein in Essen

Die Rhein-Ruhr-Region im Krieg

Noch bis 26. Oktober 2014 ist in der Kokerei auf der Essener Zeche Zollverein die ebenso materialreiche wie spektakulär inszenierte Ausstellung „1914 - Mitten in Europa“ zu sehen. Die rheinische Zentralausstellung zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg erkundet sozial- und alltagsgeschichtliche Aspekte der Zeit um 1914.

Ausstellung „1914 - Mitten in Europa“ Außenansicht. Foto: jvf

Der Zugang zu dieser Ausstellung ist ebenso spektakulär inszeniert wie die Ausstellung selber: Vom Wiegeturm der ehemaligen Kokerei aus nimmt man die Standseilbahn, die den Besucher 150 Meter hinüber zum Dach der Mischanlage fördert. Von hier aus geht es, dem Weg der Kohle folgend, in drei Kapiteln hinab durch die Verteiler-, Bunker- und Trichterebene der Industrieanlage, jede Ebene als historischer Querschnitt angelegt, durch die Zeit des ersten deutschen Wirtschafts­wunders vor dem Krieg (1890-1914), durch die Zeit des Krieges (1914-1918) und die Zwischenkriegszeit (1918-1933) in der Rheinprovinz.

Plakatmotiv zur Ausstellung „1914 - Mitten in Europa“ © LVR-Industriemuseum / Ruhr MuseumPlakatmotiv zur Ausstellung „1914 – Mitten in Europa“ © LVR-Industriemuseum / Ruhr Museum.

Mit mehr als 2.500 Exponaten auf ebenso­viel Ausstellungsquadratmetern erhellen das RuhrMuseum und das LVR-Industrie­museum in dieser gemeinsam aus­gerichteten Schau alltags- und sozial­geschichtliche Aspekte des zweiten Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Sie ist die größte von insgesamt 14 Ausstellungen, mit denen der Landschafts­verband Rheinland im Rahmen seines Verbundprojekts „1914 – Mitten in Europa“ an den Ersten Weltkrieg erinnert.

Modernisierungsschub vor 1914

Das erste Kapitel, auf der Verteilerebene der Mischanlage eingerichtet, zeigt die Rhein-Ruhr-Region zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als den „Maschinenraum“ der Modernisierung im Kaiserreich, als Motor des „ersten deutschen Wirtschaftswunders“ in den Jahren 1890 bis 1914. Seinerzeit bildeten sich die Konzerne und Kartelle heraus, die die ökonomische Basis für Deutschlands „Griff nach der Weltmacht“ lieferten und die damit eine der Voraussetzungen für den Weltkrieg schufen.

Ausstellungsansicht „1914 - Mitten in Europa“. Verteilerebene. Foto: jvfAusstellungsansicht „1914 – Mitten in Europa“. Verteilerebene.

Technische Innovationen, Intensivierung der industriellen Produktion, Globalisierung der Wirtschaft, das waren treibende Faktoren des Modernisierungsschubs vor 1914. Die Verdichtung und Beschleunigung der Kommunikation durch Telephonie und Telegraphie, der Ausbau der Verwaltung und öffentlichen Infrastruktur werden anhand einer Fülle von Exponaten nachvollziehbar gemacht, darunter etwa ein sehr hübscher „Fernsprechwandapparat für Selbstanschluss – Modell ZB SA 13“ von 1915 und ein faszinierendes „Empfangsgerät des Schnelltelegraphen“ aus dem Hause Siemens, 1912.

Mobilitätsanforderungen an Güter, Waren und Menschen führten zu einer rasanten Entwicklung in Sachen Ausbau von Verkehrswegen, sei es für den Schiffsverkehr (der Duisburg-Ruhrorter Hafen war nach seiner Erweiterung 1905 der größte in Europa) oder für Eisen- und Straßenbahnen. Im Individualverkehr war das Automobil noch ein unerschwingliches Kuriosum, 1907 waren 1.172 Autos in der Rheinprovinz angemeldet, 1914 immerhin 6.383 (so entnehme ich dem Katalog zur Ausstellung). Die Essener Ausstellung hat ein wunderhübsches rotes Elektro­automobil der Marke „Runabout“ von 1903 zu Gast. Es war aber eher das Fahrrad, das zum massentauglichen Mittel des Individualverkehrs wurde. Das Zentrum der rheinischen Zweiradproduktion war Köln, wo in Klettenberg die Cito-Werke (seit 1896) und in Lindenthal die Allright-Werke (seit 1890) produzierten.

Zweiräder der Köln-Lindenthaler Metallwerke A.G. Herrenrad, 1899 und Motorrad 1910 der Marke Allright. Foto: jvfZweiräder der Köln-Lindenthaler Metallwerke A.G. Herrenrad 1899 und Motorrad 1910 der Marke Allright.

Die Waren- und Freizeitwelt der Vorkriegsmoderne mit ihren Warenhäusern, Werbemitteln, Vergnügungseinrichtungen und ihrem Vereinswesen rückt die Essener Ausstellung ebenso in den Blick wie die Ambivalenz von sozialer Mobilität und statischer Klassengesellschaft wie sie den wilhelminischen Kleidercodes ablesbar ist: Besonders eindrucksvoll eine Galerie der Kleidungordnung des Kaiserreichs, vom champagnerfarbenen Abendkleid aus Atlasseide bis zum groben Schwarzweiß eines proletarischen Sonntagsstaats.

Blick in die Ausstellung auf der Verteilerebene der Mischanlage. Fotograf: Michael RascheBlick in die Ausstellung auf der Verteilerebene der Mischanlage. Fotograf: Michael Rasche.

Zentrum der Waffenproduktion

Im mittleren Geschoss, in den mächtig-düsteren Räumen der Bunkerebene, ist der zweite Hauptabschnitt den Kriegsjahren 1914 bis 1918 gewidmet.

Ausstellungsansicht „1914 - Mitten in Europa“. Bunkerebene. Foto: jvfAusstellungsansicht „1914 – Mitten in Europa“. Bunkerebene.

Schon während des Rüstungswettlaufs zwischen 1890 und 1914 etablierte sich die Rheinprovinz als Zentrum der deutschen Waffenproduktion, besonders Krupp in Essen und Rheinmetall in Düsseldorf haben sich um die kaiserliche Expansionspolitik früh verdient gemacht. Im Laufe des Krieges stellte sich die gesamte Schwer­industrie des Rheinlandes in den Dienst der Kriegswirtschaft. Die Ausstellung zeigt u.a. eine schwere Feldhaubitze, Maschinengewehre, Granaten und eine Graben­keule aus der heimischen Produktion.

Besonders umtriebig in Sachen des Massenvernichtungsgeschäfts war die chemische Industrie am Rhein. Bayer entwickelte sich während des Krieges nicht nur zum größten Sprengstoffhersteller Deutschlands, sondern stellte auch Kampfmittel für die chemische Kriegsführung bereit. Die Leverkusener nutzten ihre Expertise in Sachen Giftgas zudem dazu, der führende Hersteller von Gasmasken zu werden.

Otto Bollhagen, Giftgas-Versuch auf der Wahner Heide in Köln, um 1915Otto Bollhagen, Giftgas-Versuch auf der Wahner Heide in Köln, um 1915

Die Erfolge der Rüstungsindustrie im Menschenschlachthaus des Ersten Weltkriegs dokumentiert die Ausstellung mit wirkungsvoll inszenierten Multimediainstallationen und Exponaten wie Prothesen und grausam anzusehenden Gipsmoulagen von schweren Gesichtsverletzungen, die für Schulungszwecke in der plastischen Chirurgie erstellt wurden.

Ausstellungsansicht „1914 - Mitten in Europa“. Vitrine mit Beinprothesen und Krücken. Foto: jvfAusstellungsansicht „1914 – Mitten in Europa“. Vitrine mit Beinprothesen und Krücken.

Zwischen öffentlicher Trauer und nationalistischer Propaganda changieren Beispiele aus dem Erinnerungswesen nach dem Krieg wie Joseph Enselings Gedenktafeln für die 2.841 gefallenen Werksangehörigen der Gussstahlfabrik Krupp von 1926 oder die widerliche Monumentalplastik eines Bochumer Kriegerdenkmals von 1935.

Nach dem Krieg, vor dem Krieg

Postkarte der Arbeiter- und Soldatenräte, 1918, Sammlung Ruhr Museum © Ruhr MuseumPostkarte der Arbeiter- und Soldatenräte, 1918, Sammlung Ruhr Museum © Ruhr Museum. Das letzte Hauptkapitel der Essener Schau, auf der taghellen Trichterebene der Mischanlage, widmet sich den Folgen des Kriegs für die Rheinprovinz. Nach der am Rhein weitgehend friedlich verlaufenen Novemberrevolution 1918, der Besetzung der linksrheinischen Gebiete durch alliierte Truppen im Dezember 1918, sozial­revolutionären Generalstreiks im Jahr 1919, dem „Ruhrkampf“ 1920 – für den die Reichsregierung Militär und Freikorps gegen die revolutionäre Arbeiterschaft in Marsch setzt und die Bevölkerung des Ruhrgebiets terrorisiert, der Besetzung Düsseldorfs und Duisburgs 1921 sowie des Ruhrgebiets 1923 durch französische und belgische Truppen, bis hin zum Abzug der Besatzungsmächte aus den links­rheinischen Gebieten, dauerte die unmittelbare Nachkriegszeit in der Rheinprovinz bis in den Sommer 1925.

Rationalisierung der Arbeitswelt, soziale Not und Sozialstaat, politische Radikalisierung, die Entwicklung der audiovisuellen Massenmedien, das sind einige der Aspekte, die für die Zwischenkriegszeit in der Rheinprovinz entfaltet werden.

Mitten in Europa

Thematische Beschränkung und stringente Entfaltung historischer Zusammenhänge ist die Sache dieser ausgesprochen materialreichen und vielfältigen Ausstellung nicht. Es geht um ein manchmal etwas kursorisch aufbereitetes, aber atmosphärisch dichtes, multiperspektivisches Panorama der Zeit um den Ersten Weltkrieg. Der unverzichtbare Audioguide schafft etwas Orientierung, fügt vor allem aber mit Zeitzeugenberichten den Objekten eine lebensgeschichtliche Dimension hinzu.

Der Katalog zur Ausstellung umfasst 342 Seiten, kostet in der Museumsausgabe sehr preiswerte 25 Euro, ist weniger ein Katalog – er enthält Abbildungen nur einer kleinen Auswahl der Exponate und kein Gesamtverzeichnis – als ein hervorragend bebildertes und informatives Begleitbuch zur Ausstellung.

1914 – Mitten in Europa. K: Heinrich Theodor Grütter, Walter Hauser. Essen, Zollverein: 30. April – 26. Oktober 2014.