Laurent Chétouane dramatisiert Kleists Erdbeben in Chili in der Kölner Halle Kalk nicht
Heilige Ruchlosigkeit
Der in Frankreich geborene, seit Jahren in Deutschland inszenierende Regisseur Laurent Chétouane verweigert in Köln eine Dramatisierung von Kleists Erdbebennovelle und bringt dafür einen reduzierten Werkzeugkasten seiner theatralischen Verfremdungsstrategien mitbei. Die für ihn ungewöhnlich behutsame Annäherung an den Text fordert ein erhebliches Maß an Konzentration und ein Übermaß an Geduld vom Publikum.
Eingangs stehen die drei Bühnenfiguren etwas abseits der Spielfläche, wie verwundert, unschlüssig, was ihr Geschäft wohl sein mag. Dann räumen sie die oberste Lage des Bühnenbodens bei Seite, sorgsam wird er weggefaltet, hier geht es ums Ganze, nicht nur um ein Erdbeben, sondern um den „Umsturz aller Verhältnisse“, auch wohl um Grenzerkundungen an den Rändern der Bühnenpraxis (genauer: unterhalb). Dann, wie verstört, beginnen sie zu erzählen vom Erdbeben in St. Jago, wie das war mit Donna Josephe und Jeronimo, wie die beiden gerettet, wie sie gelyncht wurden. Dabei irren die drei Erzähler (Philipp Gehmacher, Jan-Peter Kampwirth, Marie Rosa Tietjen) auf der Spielfläche umher, sie kennen sich nicht aus mit dieser Geschichte, noch weniger mit den Menschen. Immer wieder blicken sie das Publikum an, nicht unfreundlich, eher neugierig, befremdet.
Kleists Katastrophenfilm
Heinrich von Kleist, in dieser Saison wg. zweihundertjährigen Ablebens auf den Bühnen der Rheinprovinz sehr präsent, ließ seinen Katastrophenfilm im Santiago de Chile des Jahres 1647 spielen. Jeronimo hat seine, ins Kloster verbrachte, ehemalige Schülerin Josephe geschwängert, was ihr als sündiger Nonne die Todesstrafe einbringt und ihm als verzweifelten Liebhaber den Vorsatz, sich zu „erhenken“. Ein Erdbeben, das die Stadt in Schutt und Asche legt, befreit die beiden Liebenden und führt sie für einen kurzen Tag des Glücks, des Pläneschmiedens wieder zusammen.
Vor den Toren der zerstörten Stadt finden sich aber nicht nur Jeronimo und Josephe, sondern auch die anderen Überlebenden der Katastrophe – und für einen kurzen Moment sind die Menschen solidarisch: „einander bemitleiden, sich wechselseitig Hülfe reichen, von dem, was sie zur Erhaltung ihres Lebens gerettet haben mochten, freudig mitteilen, als ob das allgemeine Unglück alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte.“ Das kann nicht gutgehen. Während eines Dankgottesdienstes ereifert sich der religiöse Mob, in „heiliger Ruchlosigkeit“ werden die frevelhaft Liebenden als Verursacher des erderschütternden göttlichen Zorns gelyncht: „steinigt sie! steinigt sie!“.
Phlegma der Verstörung
Ich hege ein solides Vorurteil gegen die Bühnenkunst von Chétouane. Die Zerlegung von Texten, die vermeintliche Kenntlichmachung durch manieriert verschobene Betonung, die ansonsten zu seinem inszenatorischen Inventar gehört, ist meine Sache nicht. Aber er nähert sich in dieser Inszenierung dem kleistschen Text ungewöhnlich behutsam, belässt ihn weitestgehend unverändert, lässt ihn, nur durch ein Phlegma der Verstörung verfremdet, in seiner ganz ungeheuerlichen erratischen Wucht bestehen.
Dabei vermeidet er jeden Anschein einer Dramatisierung des Textes, kaum je lässt er sein Bühnenpersonal aus der Rolle des Erzählers ins Spiel übertreten, allenfalls finden sich die drei aus ihren Erkundungen des Erzählraums zu kurzzeitigen Figurationen zusammen, die dem Bildinventar der Novelle nachspüren. Diese sehr konzentrierte Annäherung an den Text hat etwas ergreifendes, mitunter. Manchmal – und im Verlauf des Abends immer öfter – entgleist dieser Ansatz aber auch hin zu einer in Albernheit umschlagenden Prätention. Manchmal müssen die drei sich verrenken, marionettenartig mit den Armen fuchteln, das bedeutet wohl ein Hin- und Hergeworfensein, ein Sichnichtauskennen – und das sieht sehr albern aus.
Inversion der Bewegungsmuster
Die von Matthias Nebel weitgehend frei geräumte Bühne spielt derweil mit der Verweigerung illustrativer Elemente. Hinten links stehen zwar auf Stelltafeln großgezogene Zeichnungen bereit, ein Marienbild, eine Kirchenglocke, Andachtsgruppen, ein Baum. Die werden zum Kirchgang auch kurzzeitig aufgestellt, aber gleich wieder zu Boden gelegt.
Rückwärtig halb rechts eine Leinwand, vielleicht vier Meter breit, gut zwei Meter hoch, etwas aus dem Zentrum gerückt das brennende und blendende Licht eines Projektors. Im ersten Teil des Stücks zeigt die Projektion eine sehr überzeugende Inversion der Bewegungsmuster und erzählt von der Relativierung der theatralischen Blicklogik. In unscharfem Schwarzweiß sehe ich Kamerafahrten durch ein statisches Modell des Bühnenraums: die Figuren still gestellt, der Blick unterwegs durch den Raum, verschiedene Perspektiven erprobend. Späterhin – weniger überzeugend – sehe ich paradiesische Bühnenmalerei, rotierende Lichspiele wie von Kirchenfenstern gebrochener Farben, unscharfe Fotos von motorisierten Fluchtbewegungen aus der Gegenwart. Den Soundtrack dazu macht Leo Schmidthals auf einem E-Bass: mal dissonant dröhnende Katastrophenklänge, mal fast kitschiges Gezupfe in höheren Lagen.
Das Premierenpublikum in der Kalker Halle applaudiert höflich, ist aber nach pausenlosen eindreiviertel Stunden etwas erschöpft.
Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili. R: Laurent Chétouane. D: Philipp Gehmacher, Jan-Peter Kampwirth, Marie Rosa Tietjen. Köln, Halle Kalk. P: 28. Januar 2012. 1¾h o.P.