Kulturraum NRW


Jürgen Kruse inszeniert Calderóns Das Leben ein Traum in Köln

Menschenmonster und Hofschlampen

Jürgen Kruse inszeniert Calderón de la Barcas Das Leben ein Traum am Schaupielhaus Köln als sehr ernstes Spaßtheater und hält in kurzweiligen vier Stunden voll wunderbaren Bühnengetümmels das barocke Welttheater in der anschlussfähigen Fremde.

Das Königreich Polen ist offensichtlich etwas heruntergekommen. Auf der von Franz Kopendorfer eingerichteten Bühne muss sich der Hofstaat an einem burning barrel die Hände wärmen, der Palast ist nur noch ein Baugerüst unterm Unheil kündenden Sternenzelt, vollgemüllt mit allerlei Haus- und Unrat. Pappmachéfiguren von Papst und Mutter Marie stehen da am Rand rum, die Religion taugt auch nur noch zum Kasperle, oben hängt eine beleuchtete Weltkugel, die die aufgebrauchten Mächtigen mal schneller, mal langsamer drehen. Die Retrokostüme (Sebastian Ellrich), mit der die Hofschlampen unterwegs sind, zwicken und zwacken und versemmeln den höfischen Auftritt. Und auch das Sprechen ist Krisensymptom, die da die Rede verschleifen, zerhacken, absagen glauben sich selbst und den anderen schon lange kein Wort mehr, sie giggeln und lachen und ignorieren die Worte der anderen hinweg.

Aber das seltsame Königreich Polen, das der spanische Dichter Calderón de la Barca so um 1630 in seiner ernsten Komödie La vida es sueño beschreibt, ist ja auch in keinem vorzeigbaren Zustand mehr.

Alles wird gut

König Basilio also hat seinen Sohn Segismundo wegen unheilvoller Vorzeichen gleich nach der Geburt in einen Turm kerkern lassen, dort vegetiert der in Tierfell gekleidet, ausgestoßen, ein „Menschenmonster“ – großartig gespielt von Jan-Peter Kampwirth, mit angepappter Zottelmähne, die er später im Getümmel verliert. Im Alter beißt Basilio nun das Gewissen und auch die Thronfolge ist zu regeln, deshalb will er seinen Sohn auf Probe regieren lassen: Vielleicht war ja die Sterndeutung, dass Segismundo ein grausamer, lasterhafter Herrscher werden würde, wenn nicht falsch, so doch anfechtbar, vielleicht kann man dem Schicksal ja trotzen. Segismundo wird betäubt, in den Palast gebracht, wo er als Herrscher erwacht und gleich als Tyrann agiert: ein Mord, eine versuchte Vergewaltigung, beleidigte Granden. Das Experiment mit dem Menschenmonster wird abgebrochen, Segismundo erneut betäubt und weggesperrt, das alles sei nur ein Traum gewesen, wird ihm weisgemacht. Doch das Volk befreit den legitimen Erben, ein kurzer Bürgerkrieg folgt, dann übernimmt Segismundo die Macht, nunmehr „umsichtig und klug“ handelnd, aber stets muss er fürchten, „aufzuwachen und mich zu finden ein weiteres Mal in meinem eingemauerten Gefängnis“.

Dazu eine Parallelhandlung, die spiegelbildlich das Unglück der Ausgestoßenen ins Weibliche wendet: Die entehrte Edeldame Rosaura (Anja Laïs) will lieber nicht ins Kloster, sondern ihren Verführer zur Strecke bringen, entweder töten oder heiraten, je nachdem. Rosaura ist dabei als Mann verkleidet unterwegs oder als Hofdame ihrer Erzrivalin oder als sie selbst, je nachdem. Die Spiegelstruktur des Stücks und die vielfachen Rollenwechsel soll das Publikum in Köln nachspielen und nach der Pause die Plätze tauschen: „Seitenwechsel“, „Wechseln Sie Ihre Perspektive“, ist ein Handzettel überschrieben der vor Beginn das Prozedere erklärt. Nun ja. Immerhin gibt das Anlass, hübsche Beobachtungen zu machen über die Verbissenheit mit der Menschen ihren Platz verteidigen („Ich lass mir doch von einem Regisseur nicht vorschreiben, wo ich zu sitzen habe!“).

Am Ende eine Doppelhochzeit, alles wird gut, schießlich ist’s ja eine comedia: eine Party, It’s a beautiful world dröhnt es aus den Lautsprechern. Nur Segismundo sitzt mit seinen Hofschlampen etwas abseits, er bläst langsam die Kerzen aus, ich glaube, der weiß was.

Vier kurze Stunden

Calderóns Traum ist gewiss kein einfaches Stück. Es ist von einer thematischen Fülle, die man – wenn sie aus dem 17. Jahrhundert auf uns kommt – gerne barock nennt: Fragen von Identität und Rolle, von Reden und Schweigen und Handeln, von Schicksal und Willensfreiheit, Macht und Ohnmacht werden da verhandelt, vielleicht auch von Liebe und Verrat, aber da bin ich mir nicht sicher. Im Prinzip ein philosophisches Lehrstück, mit endlosen Monologen, voll von nun wirklich barocker Allegorik und Symbolik, jenseits aller psychologischer Wahrscheinlichkeit – und einfach ziemlich lang, selbst Kruse braucht fast vier Stunden bis er durch ist. Aber er macht dabei etwas ganz Wunderbares: Die Fülle wird aufgemacht, nicht eingeschlossen in eine eilfertige Deutung oder ins Abspielen des Lehrstücks, sondern ins Offene gebracht und ausgespielt. Dabei kommt ein ganz ernstes Spaßtheater raus, das Calderons Weltdrama zwar in der Fremde hält, aber durch Populärsymbolik fürs Heute anschlussfähig macht. Und es hat ein herrliches, aber präzise choreographiertes Getümmel auf der Bühne.

Dafür braucht es natürlich ein Ensemble, mit dem man das durchziehen kann. Jan-Peter Kampwirth macht einen großartigen Segismundo, sowohl als ausgestoßenes Menschenmonster als auch später als anzugtragendes Politikerarschloch und Menschenmonster. Anja Laïs spielt ihre komödiantischen Stärken aus und wird ergänzt von der wunderbar krakeligen Annika Olbrich als ihre Rivalin Estrella.

Das durch die WM etwas geschwächte Kölner Publikum – einige Plätze bleiben leer – applaudiert dem Ensemble freundlich, aber es hat einige Buhs gegen das Regieteam: „Possenreißer!“ ruft jemand dem Kruse zu. Ganz recht. Aber wenn das Leben schon kein Traum sein sollte, eine Posse ist es allemal.

Pedro Calderón de la Barca: Das Leben ein Traum (-Was sonst?-). R: Jürgen Kruse. D: Jan-Peter Kampwirth, Anja Laïs, Annika Olbrich, Hartmut Stanke, Maik Solbach, Michael Weber, Simon Eckert. Köln, Schauspielhaus, P: 19. Juni 2010. 4h mit 1 P.

[Ein kleiner prophylaktischer Hinweis: Menschen mit einer ernsten Schlangenphobie sollten sich nicht in die erste Reihe setzen, ernsthaft.]