Kulturraum NRW


Andrea Breth inszeniert Isaak Babels Marija in Düsseldorf

Nach dem Aufstand

Im Schauspielhaus Düsseldorf hält Andrea Breth Isaak Babels 1935 geschriebenes Revolutions- und Elendspanorama Marija in historisierender Distanz, lässt keine Illusionen über die Revolution und die Menschen aufkommen und findet damit beim Düsseldorfer Premierenpublikum sehr freundliche Aufnahme.

Was ist nach dem Aufstand, was kommt nach der Revolution? Wenn die alte Ordnung zusammen gebrochen ist, eine neue noch nicht etabliert oder schlimmer: eine noch prekäre neue Ordnung durch ein Regime des Terrors, der Säuberungen, ihren Machtanspruch zu realisieren sucht? Und was macht das mit den Menschen, die beiseite sortiert werden, auf der Strecke bleiben?

Das Schauspielhaus in Düsseldorf und die aus der Wiener Burg herbei gerufene Regisseurin Andrea Breth suchen Antworten bei Isaak Babel, dem besten und illusionslosesten Erzähler des revolutionären Russlands. Der hatte sich 1926 mit Budjonnys Reiterarmee – einer Sammlung knapper, expressionistischer Erzählskizzen des Schreckens und der Grausamkeiten im russisch-polnischen Krieg – eine Vielzahl Bewunderer, aber auch erbitterte, mächtige Feinde verschafft.

Ideologisch unzuverlässig

Marija, ein „Schauspiel in acht Bildern“, war der (dann doch sehr illusorische) Versuch, sich bei den stalinistischen Machthabern auf die sichere Seite zu schreiben. Das ist mehr als gründlich misslungen. Der Bilderbogen der menschlichen Verelendung in Zeiten des revolutionären Bürgerkriegs war viel zu weit vorbei am Sozialistischen Realismus, der 1932 offiziell zur ästhetischen Doktrin der Bolschewiki ausgerufenen reinen Lehre, wie man Kunstwerke im Dienste der neuen Ordnung zu gestalten habe, um auftragsgemäß als „Ingenieur der Seele“ an der Schaffung des Neuen Menschen mitzuwirken.

Als das Stück 1935 in einer Theaterzeitschrift veröffentlicht werden konnte, wurde dieser Erstabdruck von einer vernichtenden Rezension begleitet, die dem Autor ideologische Unzuverlässigkeit vorwarf – in Stalins Russland eine potentiell tödliche Kritik. Die bereits geplante Uraufführung im Moskauer Wachtangow-Theater wurde daraufhin abgesagt, das Stück auch späterhin in der Sowjetunion nie auf die Bühne gebracht. Die erste Inszenierung gab es dann erst 1964 am Piccolo Teatro in Florenz, drei Jahre später richtete Peter Palitzsch die deutsche Erstaufführung am Staatstheater Stuttgart ein.

Babel selbst konnte sich, zunächst durch die Fürsprache seines Mentors Maxim Gorki, später mit Hilfe seiner guten Kontakte zu Spitzen der Staatssicherheit, der Verhaftung noch einige Jahre entziehen, bis er 1939/40 Stalins Säuberungen zum Opfer fiel.

Ljudmila

Petrograd, St. Petersburg, im Winter 1920, eine von Revolution und Bürgerkrieg ausgezehrte Stadt. Es ist grausam kalt, in den Wohnungen kaum weniger als draußen, Brennholz ist nicht verfügbar oder nicht zu bezahlen, auf den Straßen sterben die Pferde, Hunde, Katzen und ihre Überreste reichen nicht, den Hunger der Menschen zu stillen. Schwarzmarkthandel und Prostitution sind die einzigen beiden Gewerbe, die noch halbwegs das Überleben sichern, das erste mehr, das zweite weniger.

Der ehemalige Generalquartiermeister der zaristischen Armee, Nikolaj Wassiljewitsch Mukownin, schreibt in den Restbeständen seiner Wohnung, aussortiert aus der Gegenwart, an einer kritischen Geschichte der russischen Streitkräfte, vermutlich auch, um sich den neuen Machthabern anzudienen. Seine Mitbewohnerin Katerina weiß, dass das nichts wird, die Revolution interessiert sich nicht für die Vergangenheit. Babel zeichnet Mukownin als durchaus positiven Charakter, der aber dem Verfall seiner aristokratischen Familie und der neuen Zeit nichts mehr entgegen zu setzen hat.

Während sich eine ältere Tochter, Marija, auf die Seite der Revolution geschlagen hat und fernab an der Front in der Politischen Abteilung der Roten Armee dient, versucht sich die jüngere Tochter, Ljudmila, als Kokotte durchzuschlagen im Milieu der Schieber und sich vom kleinkriminellen Parvenü Dymschitz aushalten zu lassen. Sie wird von ihm vergewaltigt, später nochmals von einem seiner betrunkenen Kumpane, wird in eine Schießerei verwickelt, verhaftet, an Gonorrhoe erkrankt. Mukownin verliert den Verstand und das Leben über das Schicksal seiner jüngeren Tochter.

Denuziatorische Stubenmädchen und singende Reinigungsfachkräfte

Aber das ist natürlich keine Familientragödie, die Babel geschrieben hat, sondern eine Szenenfolge als Panorama einer Gesellschaft im gewaltsamen Umbruch, Skizzen von Leuten, denen die Geschichte über das Genick fährt und ein Lehrstück über den, in der Not sehr schnellen Verlust jeglicher Humanität. Schmuggelnde Kriegskrüppel, singende Reinigungsfachkräfte, auf den Hund gekommene Sodateska, folternde Polizisten, denuziatorische Stubenmädchen machen neben den aristokratischen Revolutionsverlierern das Personal dieser Schreckensbilder.

Nur die Titelfigur Marija tritt im Stück nicht auf, ist nur durch einen Brief präsent, wird aus der Ferne begehrt und ihr rettendes Eintreffen beschworen. Das hat zwei Gründe, einen wirklichen und einen wahren: Babel plante eine dramatische Trilogie, zu der dies Stück der Auftakt sein sollte, eine Exposition: Erst in den beiden folgenden sollte die revolutionäre Lichtgestalt im Mittelpunkt der Handlung stehen (nichts davon ist erhalten, falls es Entwürfe und Ausarbeitungen gab, wurden sie vom NKWD konfisziert). Zum anderen aber: der rettende Bote kommt ja nie zu den Elenden.

Eine Art Historienstück

Andrea Breth inszeniert das Drama als eine Art Historienstück, hält sich meist eng an Text und Regieanweisungen des Autors, verpackt die Darsteller in historisierenden Kostümen. Auch die Szenerien und Requisiten auf der, von Raimund Voigt eingerichteten Drehbühne, die Diwans, der Behelfsofen, der Sekretär, das Plätteisen usw. simulieren das Petrograd der zwanziger Jahre. Das kann man machen. Eine „historisch genaue“ Inszenierung sei notwendig, so Breth, sonst verstehe man das Stück nicht. Das glaube ich nicht. Und diese Distanz, die Breth zwischen Gegenwart und Text legt, macht den Abend mitunter etwas beiläufig, fast ein wenig plüschig, trotz aller Gewalt, die sich da auf der Bühne ausagiert, trotz der unheilvollen, mit Gewehrsalven durchzogenen Geräuschmusik, die Wolfgang Mitterer für die Szenenwechsel beisteuert.

Es gibt aber noch eine zweite Distanzierung, die zwischen Inszenierung und Text: Jene Szenen, in denen Babel die neue Ordnung als Hoffnung nehmen will, kann sie nicht mehr Ernst nehmen. Als im fünften Bild Katerina einen Brief Marijas vorliest, lacht sie dieses Sendschreiben des revolutionären Optimismus hinweg. Und das letzte Bild, als nach dem Tod Mukownins die jetzt lichtdurchflutete, renovierte Wohnung des Generals vom Arbeiter Safonow und seiner schwangeren Frau Jelena bezogen wird, das ist bei Babel schon noch das Versprechen besserer Zeiten: In Düsseldorf ist Safonow ein übles Arschloch, das seiner Frau erstmal eins aufs Maul gibt.

Die stärkste und jetzt gänzlich undistanzierte Szene ist die kürzeste des Stücks, im sechsten Bild wird die zerschundene Ljudmila auf einer kafkaesken Polizeistation einem brutalen Verhör unterzogen, der Polizeiinspektor rammt immer wieder den Kopf der Generalstochter, die ihre Identität verleugnet, auf die Schreibtischplatte, eine Aussage zu erzwingen. Das hat eine unmittelbare Bedrohlichkeit, die ganz auf der Höhe Babels ist.

Und was ist jetzt nach dem Aufstand? Nichts, nur Elend, Entgleisung. „Ich möchte keine Revolution in diesem Land erleben; ich möchte uns nicht erleben in einer solchen Notlage“, sagt Breth in einem Zeit-Interview. Da bin ich wieder ganz bei ihr – so wie das Düsseldorfer Premierenpublikum, das sich mit lebhaftem Beifall sehr zufrieden zeigt.

Isaak Babel: Marija. R: Andrea Breth. D: Peter Jecklin, Marie Burchard, Imogen Kogge, Klaus Schreiber u. a. Düsseldorf, Schauspielhaus. P: 7. Januar 2012. 2h o.P.