Stephen Greenblatt, The Swerve / Die Wende
Der Buchjäger
Der amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt erzählt vom Florentiner Humanisten Poggio Bracciolini, von dessen Wiederentdeckung des lukrezschen Lehrgedichts De rerum natura im Jahr 1417 und von der Wirkung, die die radikalen Verse des römischen Epikureers in der frühen Neuzeit entfalten.
Ein Bisschen Name der Rose ist da schon mit bei, wenn im Winter 1417 Poggio Bracciolini, der vormalige Sekretarius des Heiligen Vaters, durch die Wälder Süddeutschlands reitet und Einlass in Klosterbibliotheken begehrt. Er ist auf der Suche nach alten Handschriften, die Werke von antiken Dichtern und Denkern über das Mittelalter gerettet haben. Was er unter anderem findet, musste aber den Hütern der christlichen Weltordnung weitaus gefährlicher werden als es Aristoteles‘ Buch über die Komödie je vermocht hätte.
De rerum natura
Titus Lucretius Carus schrieb sein lateinisches Lehrgedicht Über die Natur irgendwann Mitte des letzten vorchristlichen Jahrhunderts: Knapp achttausend Verse, die die Theorien des griechischen Philosophen Epikur für die Römer – und die Nachwelt – festhielten. Das Universum bestehe aus unzähligen kleinen Teilchen, die in steter Bewegung durch das Nichts, instabile Verbindungen eingehen. Nur das Nichts und diese Teilchen seien ewig, alles was sie bilden sei vergänglich: Die Seele so sterblich wie der Rest des menschlichen Körpers, ein Leben nach dem Tode gebe es ebenso wenig, wie eine Einmischung der Götter ins menschliche Leben. Prädestination, der göttliche Plan, die göttliche Schöpfung, alles Unsinn. Gefährlicher Unsinn zumal. Religionen seien grausame Wahnvorstellungen, ein Haupthindernis auf dem Weg zum Ziel des menschlichen Lebens: die Vermehrung des Glücks und die Verminderung des Leids.
Starker Tobak gewiss auch für Poggio. Geboren 1380 in Terranuova, einem kleinen Kaff bei Florenz, das heute ihm zu Ehren den Beinamen Bracciolini trägt, erlernt er in Florenz das Notariatsgeschäft, geht nach Rom und macht Karriere in der Bürokratie am päpstlichen Hof. Am Ende seiner Laufbahn hatte er nicht weniger als sieben Päpsten als Sekretarius gedient. Neben diesem Brotberuf macht er sich einen Namen als humanistischer Gelehrter, übersetzt griechische Literatur ins Lateinische, versucht sich als Essayist, Satiriker und Geschichtsschreiber – und macht sich verdient um die Wiederentdeckung und -erschließung lang verschollen geglaubter, antiker Texte. Er stirbt 1459 hochgeehrt in Florenz.
Die Wende
Stephen Greenblatt lehrt Geisteswissenschaften an der Harvard University. Anfang der achtziger Jahre entwickelte er die literaturwissenschaftliche Methode des New Historicism, die Literatur als kulturhistorisches Phänomen im jeweiligen geschichtlichen Kontext verortet, mit Hang zur erzählenden Wissenschaft, mitunter auch zur Spekulation. Mit seiner Shakespeare-Biographie Will in the World landete er vor einigen Jahren einen Bestseller.
The Swerve erzählt jetzt sehr anschaulich und lehrreich nicht nur die Biographie Poggios, sondern auch von der Kultur des italienischen Humanismus, den Intrigen und Eifelsüchteleien in der römischen Kurie, den materiellen und ideologischen Bedingungen, unter denen die Schriftkultur vor Erfindung des Buchdrucks stand.
Und Greenblatt berichtet von der Wirkung, die Lukrez‘ Lehrgedicht in der frühen Neuzeit entfaltet u.a. auf Machiavelli, Giordano Bruno und Michel de Montaigne. Sicher könne ein Gedicht für sich genommen nicht verantwortlich sein für die kulturelle Wende am Ursprung des neuzeitlichen Lebens und Denkens, schreibt Greenblatt, aber „dieses besondere antike Buch, plötzlich wieder entdeckt, machte einen Unterschied“. Seine Wiederentdeckung sei nicht nur die Erfüllung der lebenslangen Leidenschaft eines brillanten Buchjägers gewesen: „Dieser Buchjäger wurde, ohne es zu beabsichtigen oder es auch nur zu bemerken, dadurch ein Geburtshelfer der Neuzeit“.
The Swerve wurde 2011 mit dem amerikanischen National Book Award und 2012 mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet. Eine deutsche Übersetzung bringt der Siedler Verlag im April 2012 heraus, unter dem Titel Die Wende. Wie die Renaissance begann.
Stephen Greenblatt: The swerve. How the world became modern. New York: W. W. Norton, 2011.