Kulturraum NRW


Robert Seethaler: Das Feld. Roman

„Keine Stille. Nirgendwo.“

Der jüngste Roman des österreichischen Schriftstellers Robert Seethaler entwirft ein multiperspektivisches Porträt des Lebens und Sterbens in einer fiktiven Kleinstadt, erzählt von ihren Toten.

Robert Seethaler, Das Feld. Foto: jvf
Robert Seethaler, Das Feld. Foto: jvf.

Paulstadt ist ein Provinzkaff. Die jungen Leute sprechen von der „totesten Stadt der Welt“. Im Stadt­werbe­prospekt wird dagegen die einzige Geschäfts­straße als „pulsierende, immer durchströmte Lebensader“ annonciert.

Der „Paulstädter Bote“ weiß über die Jahr­zehnte hinweg von den großen Katastrophen im Ort zu berichten: Der schon immer etwas seltsame Pfarrer Hoberg brennt die eigene Kirche nieder, das Glasdach des neu gebauten Kultur­zentrums bricht ein und erschlägt drei Einwohner der Stadt.

Wichtiger sind aber die kleinen Kata­strophen und Glücke: Die verfehlten und halbwegs gelungenen Lebens­entwürfe, die Liebes­versuche der Kleinstadt­menschen, manchmal nur eine Begegnung – und naturgemäß die Todesfälle.

Da, wo ganz früher die Brache eines Viehbauern lag, ist jetzt der Paulstädter Friedhof. Fast jeden Tag kommt der alte Harry hier her und sitzt auf einer morschen Bank unter einer krummen Birke, und er denkt über die Toten nach und „wie es wäre, wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegen­heit bekäme, gehört zu werden“.

Paulstadt und Washington

Symbolbild Friedhof. Cimetière du Père-Lachaise. Foto: jvf
Symbolbild Friedhof. Cimetière du Père-Lachaise. Foto: jvf.

Tote treten als Erzähler in der Literatur der Moderne nicht ganz selten auf. Besonders in der latein­amerikanischen Literatur findet man spätestens seit den Memórias Póstumas de Brás Cubas (1880) des Großmeisters der brasilianischen Literatur, Machado de Assis, solche Erzähler­figuren, die sich aus dem Jenseits zu Wort melden.

Und der amerikanische Autor George Saunders hat 2017 mit Lincoln in the Bardo eine sehr turbulente Stimmen­vielfalt auf dem Oak Hill Cemetery in Washington versammelt und damit einen Welterfolg eingefahren (inklusive des wichtigen Man Booker Prize in England). Seethaler selbst nennt Edgar Lee Masters’ Spoon River Anthology (1915) als Vorbild.

Sehr viel sortierter jedenfalls als im Washingtoner Bardo von Saunders geht es auf Seethalers Paulstädter Friedhof zu. Die insgesamt 29 toten Erzähler haben jeweils ein Kapitel für sich. Das ist wie wenn man über einen Friedhof spaziert und jedem Grabstein eine Geschichte abzulauschen versucht.

Verhaltene Vielstimmigkeit

Eher selten nur gelingt es Seethaler, aus der – in den Gräbern separierten – Viel­stimmigkeit unmittelbare erzählerische Dynamik zu gewinnen. So etwa wenn die Erinnerungen von Martha und Robert Avenieu an ihre Ehehölle in aller Widersprüch­lichkeit direkt gegeneinander gestellt sind. Die Prosa­miniaturen und Kurz­erzählungen, die manchmal ganz unsentimental anrührend sind, ergeben durch ihre, sich über­schneidenden Bezüge zu den Menschen, Orten und Ereignissen Paulstadts aber ein sehr lebendiges, mosaikartiges und multi­perspektivisches Porträt einer Kleinstadt.

Die kürzeste dieser Prosa­miniaturen umfasst nur ein Wort: „Idioten.“ So befindet die verstorbene Tabakwaren­händlerin Sophie Breyer mit lakonischem Punkt. Vielleicht in Reaktion auf die Eheleute Avenieu, vielleicht auch einfach so. Die meisten Wort­meldungen sind dagegen um die zehn Druckseiten lang.

Erzähl­technisch bildet Seethaler die Viel­stimmigkeit durch unterschiedliche Erzählmodi und Sprech­haltungen ab. Der Bügermeister hält eine Rede, was sonst. Ein Bernard Silbermann führt ein Zwiegespräch mit seiner Witwe, die sein Grab besucht (aus dem man lernen kann, dass auch im Tod die Eifersucht nicht endet). Das ertrunkene Kind erzählt von seinem Sterben in einem inneren Monolog. Ein Franz Straubein protokolliert nüchtern und knapp seine Hinterlassen­schaften. Stilistisch setzt sich aber – und das ist schade – fast durchgängig ein gewisser, etwas betulicher Seethaler-Sound durch.

Jenseits von Paulstadt

Und was lernt man jetzt über das Jenseits von Paulstadt, außer dass jeder für sich selber liegt und spricht? Ruhe jedenfalls findet man keine, es gibt „keine Stille. Nirgendwo. Im Gegenteil, alles ist voller Geräusche und Stimmen. Es kratzt und nagt und schabt. Und es sind nicht nur die Tiere. Sogar die Wurzeln machen Lärm.“ Ansonsten gilt, etwas enttäuschend, eine strenge Zensur: „Jetzt weiß ich, wie es ist. Aber ich erzähle nichts. Es ist verboten, vom Tod zu erzählen. Im Tod liegt die Wahrheit, doch man darf sie nicht sagen.“

Letztendlich bleibt es Harry (der als eine Art Charon den Leser an den Paulstädter Friedhof bringt) übrig zu konstatieren:

Als Lebender über den Tod nachdenken. Als Toter vom Leben reden. Was soll das? Die einen verstehen vom anderen nichts. Es gibt Ahnungen. Und es gibt Erinnerungen. Beide können täuschen.

So ist das wohl.

Robert Seethaler

Der österreichische Schriftsteller, Drehbuchautor und Schauspieler Robert Seethaler, geboren 1966 in Wien, hat mit seinem 2014 erschienenen Roman Ein ganzes Leben internationale Aufmerksamkeit eingesammelt. Es war 2016 auf der Shortlist des Man Booker International Prize und im Jahr darauf shortlisted für den International Dublin Literary Award.

Das Feld ist sein sechster Roman und erschienen bei Hanser Berlin. Im Label „tacheles! / Roof Music“ gibt es eine Hörbuch­fassung, von Seethaler selbst gelesen. Die Textgestalt der Lesung weicht an vielen Stellen leicht von der Druckfassung ab.

Robert Seethaler: Das Feld. Roman. München: Hanser Berlin, 2018. 240 S.