Georg Trakls 100. Todestag – Der Erste Weltkrieg in der Literatur
„Und es klagt die dunkle Stimme über dem Meer“
Am 3. November 1914 stirbt der begnadetste deutschsprachige Dichter der Generation Erster Weltkrieg im Militärspital zu Krakau. Eine Erinnerung an die letzten Tage des Georg Trakl.
Das Sterberegister der Stadt Krakau verzeichnet für Dienstag, den 3. November 1914, den Abgang des 27-jährigen Medikamentenakzessisten Georg Trakl (fälschlich als Frankl eingetragen). Um neun Uhr abends sei er im Garnisonsspital 15 einer Herzschwäche erlegen. Trakls Krankenakte ist in Sachen Todesursache weniger feinfühlig: „Suicid durch Cocainintoxication“, heißt es da. Die Beisetzung ist zunächst für den 5. November vorgesehen, erfolgt aber erst einen Tag später auf dem Rakowitzer Friedhof in Krakau, mit sechs anderen, „ohne jede Zeremonie, ohne geistliche oder militärische Assistenz“. Sein Bursche ist der einzige Trauernde vor Ort.
Else Lasker-Schüler notiert später:
Georg Trakl erlag im Krieg von eigener Hand gefällt. So einsam war es in der Welt. Ich hatt ihn lieb.
Im August 1914
Drei Monate zuvor, am 5. August 1914, meldet sich Trakl im Zuge der allgemeinen Mobilmachung der österreichischen Armee freiwillig zur „aktiven Dienstleistung“. Er wird dem k. u. k. (d. i. österreich-ungarischen) Feldspital 7/14 zugewiesen, als Medikamentenakzessist, also Feldapotheker. Trakl hat eine dreijährige Lehre als Apotheker hinter sich (1905-08), ein zweijähriges Studium der Pharmazie (1908-10) und den Dienst als einjährig Freiwilliger bei der k. u. k. Sanitätsabteilung Nr. 2 in Wien (1910/11). In der Nacht vom 24. auf den 25. August besteigt Trakl im Innsbrucker Hauptbahnhof einen der Viehwagons, der Soldaten in den Krieg verfrachtet.
An diesem Tag werden in den Innsbrucker Zeitungen die „großen Siege der Deutschen“ beim Vormarsch durch Belgien gefeiert, wird vom „Zusammenbruch der französischen Ostarmee“ berichtet und der „Jubel in Wien“ angesichts der „gleichzeitig von verschiedenen Kriegsschauplätzen eingetroffenen Siegesmeldungen“ verzeichnet. Auch die Leistungen der österreichischen Armee seien „über jedes Lob erhaben“. Keine Grenzen mehr kennt die veröffentlichte Begeisterung nachdem ab 24. August Nachrichten über den Sieg der k. u. k. Truppen bei Kraśnik an der galizischen Front eintreffen. In den Gewerbeanzeigen inserieren Buchhandlungen Karten der Kiegsschauplätze, 3 Kronen 50 Heller das Stück, inkl. 12 Steckfähnchen zur Markierung der Frontverläufe.
Ich glaube nicht, dass sich Trakl von der Kriegsbegeisterung in diesen Augusttagen hat mitreißen lassen. Ein Freund kündigt ihm den Umgang auf wegen seiner kritischen Haltung gegenüber den Deutschen. Ein Gedicht aus dieser Zeit ist erhalten, auch das kündet nicht wirklich von Kriegsbesoffenheit:
Im Osten
Den wilden Orgeln des Wintersturms
Gleicht des Volkes finstrer Zorn,
Die purpurne Woge der Schlacht,
Entlaubter Sterne.
Mit zerbrochnen Brauen, silbernen Armen
Winkt sterbenden Soldaten die Nacht.
Im Schatten der herbstlichen Esche
Seufzen die Geister der Erschlagenen.
Dornige Wildnis umgürtet die Stadt.
Von blutenden Stufen jagt der Mond
Die erschrockenen Frauen.
Wilde Wölfe brachen durchs Tor.
Trakl nimmt in seinem Innsbrucker Stammlokal Abschied von den Freuden, im Café Maximilian an der Maria-Theresien-Straße. Es ist ein sehr hübscher Spätsommertag, wolkenlos, um neun Uhr abends hat es noch 16 Grad, es ist beinahe windstill. Ein paar Freunde begleiten Trakl gegen Mitternacht zum Innsbrucker Hauptbahnhof, mit dabei sein Freund und Förderer Ludwig von Ficker. Der hat in seiner Literaturzeitschrift Der Brenner seit 1912 die Gedichte Trakls veröffentlicht. Und er hat vor einigen Wochen, im Juli, eine Spende über 20.000 Kronen des Philosophen und Millionenerbes Ludwig Wittgenstein an Trakl vermittelt. Damit könnte man geraume Zeit sorgenfrei leben, selbst bei den Unsummen, die Trakl für Alkohol und andere Drogen verbraucht.
Jemand hat Trakl eine Nelke an die Mütze gesteckt, die „bei jedem Abschiedsnicken fast gespenstisch“ mitnickt. Heiter und aufgeräumt sei Trakl gewesen, wird Ficker später berichten. Dazu will aber nicht recht ein Billet passen, das Trakl Ficker im Bahnhof überreicht. Darauf steht:
Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert. Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne.
Der Aufmarsch
Der Zustand der k. u. k. Armee ist desolat – ganz anders als es die Zeitungen glauben machen wollen. Schlecht ausgerüstete und schlecht ausgebildete Soldaten, Offiziere abgefüllt mit Standesdünkel, Konflikte zwischen den verschiedenen Nationalitäten des Vielvölkerheeres, eine Armee gänzlich überfordert vom Zweifrontenkrieg gegen Serbien im Süden und gegen Russland im Norden. Schon der Aufmarsch an der galizischen Front gegen die zaristische Armee ist eine logistische Katastrophe. Der österreichische Generalstab verfolgt einen cleveren Plan der gestaffelten Mobilisierung von A-, B- und C-Kräften, die je nach Lage an den Kriegsschauplätzen flexibel in Stellung gebracht werden sollen. In der Praxis führt das zu einem heillosen Chaos. Ich lese, dass sich mehrere k. u. k. Bahnbeamte aus Verzweiflung über das tödliche Durcheinander erschossen haben sollen, weiß aber nicht, ob das stimmt.
Georg Trakl und das Feldspital 7/14 machen Station zunächst in Salzburg, dann in Wien. In Salzburg kann er mit seinem Bruder sprechen, der ihm von der Veröffentlichung von Trakls zweitem Gedichtband berichtet. Ein Irrtum, der Verlag hat wegen des Kriegsausbruchs die Publikation zurück gestellt. Zu Lebzeiten Trakls ist nur ein schmaler Band mit rund 50 Gedichten erschienen, 1913 im Kurt Wolff Verlag, unter dem schlichten Titel Gedichte.
Anfang September schreibt Trakl an Ficker, „heute geht es nach Galizien“, bislang sei die Fahrt „außerordentlich schön“ gewesen, und einige Tage später an die „Liebe Mama“: „Es geht mir gut. Seit einer Woche reisen wir kreuz und quer in Galizien herum und haben bis jetzt noch nichts zu tun gehabt.“ Galizien ist seit den Polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts, also der Annexion Polens durch die benachbarten Großmächte, österreichisches Kronland.
Grodek
Am 3. September erobern russische Truppen die Hauptstadt Galiziens, Lemberg, das heutige Львів (Lwiw) in der Ukraine. Beim Versuch, den weiteren Vormarsch der russischen Armee zu verhindern, wird Trakls Sanitätseinheit einige Tage später bei Gródek (ukr. Городок, Horodok) das erste Mal eingesetzt.
In einer Scheune werden neunzig Schwerverwundete abgeladen. Trakl, der Apotheker, soll sie versorgen, zwei Tage lang. Es fehlt an Medikamenten, es fehlt ein Arzt. Noch Wochen später hat Trakl, „das Stöhnen der Gepeinigten im Ohr und ihre Bitten, ihrer Qual ein Ende zu machen.“ Ein Soldat mit Blasenschuss erträgt die Schmerzen nicht mehr, erschießt sich. An der Wand der Scheune „kleben blutige Gehirnpartikel“. Trakl muss hinaus, lehnt „mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen an der Bretterwand der Scheune“. Er merkt nicht, dass seine Mütze den Händen entglitten ist, er ist kaum noch ansprechbar, keucht: „Was kann ich tun? Wie soll ich helfen? Es ist unerträglich.“
So berichtet später ein Augenzeuge, der Magister Rawski-Conroy. Der verspricht Trakl, einen Arzt herbei zu schaffen, das gelingt aber nicht.
Auf dem Platz vor der Scheune lässt ein „anderes Bild des Grauens“ Trakl erstarren, erzählt er später seinem Freund Ficker:
Eine Gruppe unheimlich regungslos beisammen stehender Bäume, an deren jedem ein Gehenkter baumelte. Ruthenen, justifizierte Ortsansässige […]. Tief habe er sich den Anblick eingeprägt: der Menschheit ganzer Jammer, hier habe er einen angefaßt! Nie könne er das vergessen […].
Man schätzt, dass in den ersten Kriegsmonaten 30.000 Ruthenen, also Ukrainer, von österreich-ungarischen Armeeangehörigen ermordet werden, unter dem Vorwand der Spionage und der Kollaboration mit dem russischen Feind.
Am Abend des 11. September trifft der Befehl zum Rückzug ein. Ein Rückzug in Panik und Chaos, auf vom Herbstregen zum Morast aufgeweichten Straßen, Verwundete, Flüchtlinge, versprengte Einheiten. Auch diesen Rückzug kann Trakl nicht vergessen, „nichts nämlich sei so schrecklich als ein Rückzug in Verwirrung“:
Und eines Abends nun – erzählte Trakl weiter – irgendwo, noch auf dem Rückzug, sei es geschehen. Da sei er beim Nachtmahl, im Kreis der Kameraden, plötzlich aufgestanden und mit der angsterpreßten Erklärung, er könne nicht mehr weiterleben, man möge entschuldigen, aber er müsse sich erschießen, hinausgestürzt; worauf ihm Kameraden nacheilten und ihm, dem Kraft und Wille und Bewußtsein schwanden, die Pistole aus der Hand nahmen. Ein peinlicher Vorfall, wie er einsehe, dieser Ausbruch von Verzweiflung […].
In den folgenden Tagen wechseln depressive und euphorische Zustände. „Ich war einige Tage recht krank, ich glaube vor unsäglicher Trauer“, schreibt er nach Hause. Trakl hält sich leidlich dienstfähig, der Alkohol hilft, besser noch das Kokain, „sehr viel Cocain“. Einem Augenzeugen erscheint Trakl „etwas aufgedunsen und unstet. Die Stimme heiser.“ Die Kameraden ziehen ihn auf „mit seinen Gedichterln“,
da sei er ja manchmal am Tisch aufgesprungen und hab nicht reden können, nur mit den Fäusten schwenken, […] doch er sei halt dermaßen spinnert gewesen, der Trakl Schorschl, daß man ihn einfach hab hochnehmen müssen und dabei ein Kerl wie ein Bär, und ein kreuzguter Mensch […].
Zu den Gedichterln, die er in diesen Tagen schreibt, gehört Grodek, eines der bewegendsten Stücke deutschsprachiger Kriegslyrik:
Grodek
Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.
Doch stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt,
Das vergossne Blut sich, mondne Kühle;
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,
Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.
O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre
Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
Die ungebornen Enkel.
Unter Beobachtung
Am 6. Oktober wird Trakl ins k. u. k. Reservespital Nr. 1 einbestellt, das im Karmeliterkloster in Wadowice aufgeschlagen ist. Er macht sich auf den Weg, denkt, er solle dort im pharmazeutischen Dienst eingesetzt werden. Als er am nächsten Tag eintrifft, wird er als Patient aufgenommen und schon für den folgenden Tag weiter nach Krakau überwiesen, ins Garnisonsspital 15, „zur Beobachtung des Geisteszustandes“. Trakl versucht in Richtung Front zu fliehen, wird aber im Zug nach Rzeszów eingeholt. Die folgenden vier Wochen, bis zu seinem Tod, verbleibt Trakl in stationärer Behandlung.
Gedenktafel an der Mauer des Krakauer Spitals.
Der körperliche Befund ist weitgehend unauffällig: „Mittelgroß, mittelkräftig, gutgenährt. Pupillen stark erweitert, rechte breiter als die linke, reagieren etwas träge auf Licht und Akkomodation, leichter Tremor der Finger und Zunge, Herzaktion etwas beschleunigt, sonst ohne Befund.“ Als auffällig gilt sein Geisteszustand:
Trakl weißt seit der Abreise von Innsbruck am 26/VIII abwechselnd katatone wie Erregungszustände auf. […] Bei jedem Etappenkommando suchte er um Versetzung in die Front als Infanterist an. Nebenbei sei bemerkt, daß er in Zivil seinen Beruf nicht ausübt, sondern „dichtet“.
Bei der Anamnese ist Trakl auf sehr unkluge Weise mitteilsam:
Vater vor 5 J. an Herzwassersucht im Alter von 74 J. gestorben. Mutter lebt nervenkrank – Opiumesserin. 5 Geschwister. Die jüngste Schwester leidet an Hysterie. Als Kind versuchte OB. sich selbst zu töten. Zum ersten Mal als 5jähriges Kind in’s Wasser gesprungen. Das letzte Mal im Frühjahr l. J. – Sonst „vollkommen gesund“. [….] Seit Jahren schon leidet er zeitweise an schweren psychischen Depressionen mit Angstzuständen, dann fängt er an stark zu trinken, um sich von dieser Angst zu befreien. Seit seiner Kindheit schon hat er zeitweise Gesichtshallucinationen, es kommt ihm vor wie wenn hinter seinem Rücken ein Mann mit gezogenem Messer steht. Von 12-24 Jahren hat er keine solche Erscheinungen gehabt, jetzt seit 3 Jahren leidet er wieder an diesen Gesichtstäuschungen außerdem hört er sehr oft Glockenläuten.
Das Krankenzimmer ist eine Zelle in der Psychiatrischen Klinik, eine schwarzgestrichene Tür mit Guckloch, ein „schmaler, hoher Raum“ mit zwei Betten, „ein hochgelegenes, kreuzweis starkvergittertes Fenster“. Das Bett neben Trakls ist mit einem Leutnant des k.u.k. Böhmischen Dragoner-Regiments Nr. 14 belegt, delirium tremens, mit cholerischen Anfällen und großem Mitteilungsbedürfnis. Auf dem Boden zwischen Fensterwand und Eisenbett kann Trakls Bursche, Mathias Roth, ein Bergarbeiter aus Hallstatt, auf etwas Holzwolle und Zeltblatt übernachten. Die Zelle wird vom Tabakrauch vernebelt.
An Ludwig von Ficker schreibt Trakl am 10. Oktober:
Meine Gesundheit ist wohl etwas angegriffen und ich verfalle recht oft in eine unsägliche Traurigkeit. Hoffentlich sind diese Tage der Niedergeschlagenheit bald vorüber.
Behandlungsversuche scheint es nicht zu geben. Die Krankenakte verzeichnet sporadisch die Ergebnisse der Beobachtung:
10/X – Verhält sich ziemlich ruhig, nachts gewöhnlich schlaflos, schreibt verschiedene Gedichte.
16/X – Zeitweise drängt er stark auf die Entlassung, fühlt sich ganz gesund, will in die Front gehen.
Die Klage
Am 24. Oktober trifft Ficker in Krakau ein, will für zwei Tage nach dem Rechten schauen und am besten Trakl zur Genesung mit nach Innsbruck nehmen. Das lehnen die Ärzte ab, sie halten eine weitere stationäre Beobachtung für ratsam, raunen etwas von „Genie und Wahnsinn“, haben wohl auch Gedichte von ihm angesehen.
Trakl erzählt Ficker von seiner Angst, er könne der Militärgerichtsbarkeit übereignet werden: „Wie denken Sie? Ich fürchte nämlich, wegen jenes Vorfalls vor ein Kriegsgericht gestellt und hingerichtet zu werden. Verzagtheit, wissen Sie: Äußerung der Mutlosigkeit vor dem Feind – ich muß darauf gefaßt sein“. Ficker versucht ihm diese „Wahnidee“ auszureden. (So wahnhaft ist diese Idee wohl nicht. Vielleicht nicht der Suizid-, aber der Fluchtversuch auf dem Weg von Wadowice nach Krakau könnte einem Militärgericht durchaus justiziabel erscheinen).
Trakl liest Ficker seine letzten Gedichte vor, „blutwenig“ habe er im Feld geschrieben, Grodek und Klage:
Klage
Schlaf und Tod, die düstern Adler
Umrauschen nachtlang dieses Haupt:
Des Menschen goldnes Bildnis
Verschlänge die eisige Woge
Der Ewigkeit. An schaurigen Riffen
Zerschellt der purpurne Leib
Und es klagt die dunkle Stimme
Über dem Meer.
Schwester stürmischer Schwermut
Sieh ein ängstlicher Kahn versinkt
Unter Sternen,
Dem schweigenden Antlitz der Nacht.
Und er liest aus einem Reclam-Bändchen Gedichte des Johann Christian Günther vor, der 1723 gestorben ist, mit 27 Jahren wie Trakl betont, „ich kannte ihn nicht, aber er ist es wert, daß man ihn kennt, gerade heute in Deutschland kennt“. Die letzten Zeilen aus An sein Vaterland:
Hier fliegt dein Staub von meinen Füßen,
Ich mag von dir nichts mehr genießen,
Sogar nicht diesen Mund voll Luft.
Die Krankenakte vermerkt für den Tag nach der Abreise des Freundes:
26/X – Status unverändert. Im ganzen verhält er sich ruhig. Hat eine Angina überstanden.
Exitus letalis
An Ludwig Wittgenstein schreibt er eine Karte mit der Bitte ihn zu besuchen. Und an Ficker:
Seit ihrem Besuch im Spital ist mir doppelt traurig zu Mute. Ich fühle mich fast schon jenseits der Welt.
Über die folgenden Tage ist nichts überliefert. Am Abend des 2. November schickt er seinen Burschen fort, sagt ihm, „Bringen Sie mir Morgen um 7½ einen Schwarzen“. Der letzte Eintrag der Krankenakte:
4/XI – Vorgestern abends ganz munter, gestern in der Frühe in tiefem bewußtlosen Zustande, Pupillen erweitert, reaktionslos. Reagiert nicht auf Nadelstiche, tiefes soporöses Athmen. Puls verlangsamt, gespannt (Suicid durch Cocainintoxication!) Trotz Excitationsmitteln hat sich sein Zustand nicht gebessert, um 9 abds exitus letalis
Auf Nachfrage der Angehörigen rechtfertigt sich das Spital, „das Medikament hat er wahrscheinlich von der Feldapotheke, wo er früher tätig war, mitgebracht und so aufbewahrt, daß trotz sorgfältiger Untersuchung bei ihm nichts gefunden wurde“.
Der Rakowitzer Friedhof, der Hauptfriedhof Krakaus, nordöstlich der Altstadt, ist kaum 20 Gehminuten vom Garnisonsspital entfernt. Wittgenstein, ebenfalls in Galizien als Freiwilliger eingesetzt, trifft zu spät in Krakau ein, drei Tage nach Trakls Tod, kann aber später die genaue Lage des Grabes recherchieren: „Exhibit Nummer 3570“, „Gruppe XXIII. Reihe 13 Grab N° 45“. Ludwig von Ficker lässt 1925 die Reste des Dichters nach Österreich überführen und in Mühlau bei Innsbruck bestatten.
Gräber von Angehörigen der k.u.k Armee aus dem Herbst 1914. Krakau, Alte Militarsektion des Rakowitzer Fiedhofs.
- Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Walther Killy u. Hans Szklenar. 2 Bde. Salzburg: Otto Müller Verlag, 1969 [darin in Bd. 2 die Krankenakte u. weitere Dokumente zu den letzten Tagen Georg Trakls].
- Erinnerungen an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe. Salzburg: Otto Müller Verlag, (3. erw. Aufl.) 1966 [darin u.a. der Bericht Ludwig von Fickers über seinen Besuch im Garnisonsspital zu Krakau].
- Hans Weichselbaum: Georg Trakl. Eine Biographie mit Bildern, Texten und Dokumenten. Salzburg: Otto Müller Verlag, 1994.
- Georg Trakl 1887-1914. Ausstellung zum hundertsten Geburstag. Katalog der Österreichischen Nationalbiliothek. Hg. v. Marianne Jobst-Rieder. Wien: 1987.
- Ernst Piper: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Berlin: Propyläen, 2013.
- Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München: C. H. Beck, 2014.
- Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918. Berlin: Rowohlt, 2013.
- Alexander Waugh: Das Haus Wittgenstein. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Familie. Frankfurt a. M.: 2009 [Orig: The House of Wittgenstein. A Family at War. London, 2008. Ü: Susanne Röckel]
- Innsbrucker Nachrichten / Allgemeiner Tiroler Anzeiger. Zeitungen, Innsbruck, diverse Ausgaben August 1914. ANNO Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften. Österreichische Nationalbibliothek. [Aus mir nicht erfindlichen Gründen gelingt es deutschen Bibliotheken nicht, ein auch nur annähernd vergleichbar gutes Angebot von Digitalisaten historischer Zeitungen ins Netz zu stellen wie es die Österreichische Nationalbibliothek seit Jahren schon anbietet. Meine Anerkennung an die ÖNB.]