Venedig, Canaletto und seine Rivalen in der Londoner National Gallery
Venezianische Ansichtssachen
Die Nationalgalerie in London zeigt noch bis Mitte Januar 2011 über fünfzig Venedig-Veduten von Canaletto und seinen Zeitgenossen und macht mit Gemälden eines eher langweiligen Genres eine sehr spannende Einübung ins vergleichende Kunstgucken möglich.
Die Malerei des venezianischen vedutismo („Ansichtenmalerei“) entsteht Anfang des 18. Jahrhunderts: Reisende auf „Grand Tour“ durch Italien, zumal englische Aristokraten auf Bildungsreise, schaffen einen Markt für feinmalerische, idealisierte Ansichten der stets gleichen Motive, vornehmlich natürlich Ansichten der Piazza San Marco mit dem Dogenpalast oder des Canal Grande – Erinnerungs- und Repräsentationsstücke für den heimischen Salon.
Der kleine Kanal
In fünf Abschnitten zeigt die Londoner Schau, die 2011 auch in Washington zu sehen sein wird, die Entwicklung des bis heute berühmtesten der Vedutisten: Giovanni Antonio Canal, genannt Canaletto („kleiner Canal“), 1697 in Venedig geboren, von seinem Vater zum Bühnenmaler ausgebildet, wendet sich Anfang der 1720er Jahre dem vedutismo zu und etabliert sich rasch als dessen Marktführer.
In einem ersten Raum, der Arbeiten des jungen Canaletto im Kontext seiner frühen Konkurrenten (Gaspare Vanvitelli, Luca Carlevarijs und Johan Richter) zeigt, sind gleich auch die, für sich genommen, interessantesten Bilder der Ausstellung zu sehen: realistische Ansichten venezianischer Szenen, in denen es wenig ansichtskartentauglich zugeht, Genreszenen wie der Hinterhof einer Steinmetzwerkstatt (Campo San Vidal und Santa Maria della Carità, 1725). Das lässt Canaletto aber bald sein, der Markt verlangt repräsentativere Veduten.
Konkurrenzen
In den 1730er Jahren erwächst dem nunmehr etablierten und zunehmend markttauglich ausgerichteten Canaletto sehr ernste Konkurrenz mit den dramatischen Ansichten des frühverstorbenen Michele Marieschi (1710-1743). Marieschi, ursprünglich Theaterdekorateur wie der Meister selbst, versteht es, mit überraschenden Perspektiven und lebhaften Lichteffekten Canaletto herauszufordern.
In den 1740er Jahren dann kommt die Konkurrenz aus der eigenen Familie. Canalettos Neffe Bernardo Bellotto (1722-1780) lernt das Vedutengeschäft bei seinem Onkel, emanzipiert sich sehr rasch von seinem Meister und ersetzt dessen warme Sommerabendfarben durch die Illusion eines klärend-kalten Herbstlichts.
Zuletzt bringt der ganz wunderbare Francesco Guardi (1712-1793) den vedutismo zu Ende und löst die Stadtlandschaft in seinen fast impressionistischen, atmosphärischen Studien auf. Unterdessen erschweren die napoleonischen Kriege die „Grand Tour“, der Markt für die Ansichtenmalerei bricht ein und einige Jahre später schließlich, 1797, verliert die venezianische Republik ihre Selbständigkeit und die Vedutenmalerei Venedigs ist als eigenständige Gattung Geschichte. Canaletto hat es da schon einige Zeit hinter sich, er stirbt 1768, ein Vierteljahrhundert vor Guardi.
Fluchtpunkte
Durchbrochen wird das Prinzip der Ausstellung, in grob chronologischer Folge die Werke Canalettos mit möglichst motivgleichen Arbeiten seiner Zeitgenossen zu konfrontieren, durch einen Querschnitt durch das pompöse Subgenre der Festtags- und Zeremonialansichten: figurenreiche Gemälde vor Repräsentationsarchitektur, Schiffsprozessionen am Himmelfahrtstag, Regatten auf dem Canal Grande u.a.
Der Reiz der Londoner Ausstellung liegt vor allem in der Möglichkeit des vergleichenden Sehens von motivgleichen Gemälden: Die unterschiedliche Inszenierung des Lichts, des Wassers, der Wolkenformationen, die leichten Verschiebungen in der Perspektive (bis hin zu Darstellungen mit mehreren Fluchtpunkten, wie wenn man in der Szenerie steht und den Blick wendet), die kleinen Korrekturen an Proportionen und Asymmetrien der Stadtlandschaften und schließlich die Variationen in Figuration und Zeichnung der menschlichen Staffage.
Ein sehr tauglicher Katalog ist für preiswerte £19,99 als Softcover-Museumsausgabe erhältlich (auch in deutscher Übersetzung).
Venice. Canaletto and his Rivals. K: Charles Beddington. London, National Gallery. 13. Oktober 2010 – 16. Januar 2011. Washington, National Gallery of Art. 20 Februar – 30. Mai 2011.