Kulturraum NRW


Kris Martin Ausstellung im Kunstmuseum Bonn

Idiot an Faltblattanzeigetafel

Unter dem Titel 'Every Day of the Weak' zeigt das Kunstmuseum Bonn noch bis Mitte April 2012 rund vierzig Objekte und Serien des belgischen Künstlers Kris Martin. Es ist seine erste umfassende Einzelausstellung in Europa.

Insgesamt sechs Räume hat das Bonner Museum jetzt frei geräumt für die Ausstellung, die späterhin auch im Aargau (Sommer 2012) und in Hannover (Winter 2012/13) zu sehen sein wird. Der 1972 in Westflandern geborene Objekt- und Konzeptkünstler hat in den letzten Jahren im Kunstbetrieb erhebliche Aufmerksamkeit für sein sehr vielgestaltiges Werk eingesammelt. Das dürfte daran liegen, dass er große Themen (Zeit, Vergänglichkeit, Tod) in leicht zugänglicher und sympathisch unprätentiöser Kunst mit einigem Lausbubencharme aufbereitet.

Der Klöppel fehlt

Eher überschaubar sind dabei die Strategien der Verfremdung, mit denen Martin vorgefundenen oder neu gefertigten Objekten ungewohnte Bedeutungsspielräume eröffnet. Da werden Objekte dysfunktional gemacht, nicht nur durch die Verschaffung ins Museum, sondern auch dadurch, dass sie ihres zentralen Zeichenvorrats beraubt sind:

Vor dem Eingang zum Kunstmuseum läutet zur vollen Stunde eine Einmetervierzig durchmessende Kirchenglocke nicht, der Klöppel ist entfernt: For Whom, 2012 (wem trotzdem die Stunde schlägt, mag Trost finden in Zertifikaten, ordnungsgemäß mit Ort, Datum und Unterschrift gezeichnet, die ein Leben nach dem Tod versprechen und zu einer Plakatwand zusammen gefügt sind: Life after Death, 2012). Oder von den schwarzen Faltblättern der großen dreiteiligen Anzeigetafel, wie man sie aus Bahnhöfen oder Flughäfen kennt, sind alle Buchstaben und Ziffern entfernt. Der ratternde Wechsel der Anzeige hat zum Ergebnis nur die immer gleiche, blinde Leere: Trinity I, 2008.

Mönchsschädel und Gipfelkreuz

In seinen photographischen Arbeiten mobilisiert Martin gerne die verfremdende Perspektive der Makroaufnahme. Besonders spannend ist die zwölfteilige Serie Spatium, 2009: karge Landschaften, gezeichnet von ausgetrockneten Flussläufen, Kiesinseln dazwischen. Glaubt man den Angaben des Künstlers, sind das Makroaufnahmen der Innendecke eines Mönchsschädels aus dem 14. Jahrhundert. Tröstlich, dass das Gehirn wenigstens solcherweise Spuren hinterlässt.

Die Irritation, die aus verschobenen Größenverhältnissen gewonnen wird, macht auch die mächtige Rauminstallation Summit, 2009 zu einem Erlebnis: neun unbehauene Natursteine, zwischen einem halben und über zwei Meter hoch, sind jeweils mit einem zentimeterkleinen Gipfelkreuz aus schwarzem Papier versehen und machen uns zu Riesen in einer Hochgebirgs­landschaft.

Ich bin gar kein Idiot

Besonders sympathisch ist mir eine Serie von Selbstportraits: Idiot. Eintausendfünfhundert Seiten einer Abschrift der englischen Übersetzung von Dostostojewskis „Der Idiot“, bei der der Name des Idioten Fürst Myschkin durch des Künstlers Familiennamen ersetzt ist (Idiot, 2005), wird ergänzt unter anderem von einer Münzprägung mit dem Nennwert „1 Idiot“, beglaubigt durch das Portrait Martins auf dem Avers (Idiot II, 2006). Während eines Strandurlaubs zusammen gesuchte Steine, deren Musterung als Buchstaben zu deuten sind, machen das Dementi: I Am not an Idiot, 2010.

Zur Ausstellung erscheint (etwas verspätet am 15. Februar) ein 190 Seiten starker, zweisprachig deutsch/englischer Katalog im Distanz Verlag. Das Ding liegt mir bislang nur als PDF vor, aber die Abbildungen scheinen OK zu sein und die drei Essays sind sehr instruktiv.

Kris Martin. Every Day of the Weak. K: Volker Adolphs. Bonn, Kunstmuseum. 2. Februar – 22. April 2012.