James Ensor Ausstellungen in Brüssel
Die fantastischen Legionen
Noch bis Anfang Juni 2024 sind im Brüsseler Bozar und in der Königlichen Bibliothek parallel zwei Ausstellungen mit Arbeiten von James Ensor zu sehen, die zentrale Themen seines Werks und die Beziehung des Ostender Malers zu Brüssel in den Blick nehmen.
James Ensor, Pierrot und Skelette, 1905. Öl auf Leinwand. Sammlung KBC Bank NV, Brüssel. Foto: jvf.
Der 75. Todestag von James Ensor führt 2024 in Belgien zu erheblichen Ausstellungsaktivitäten. Der Schwerpunkt liegt in der ersten Jahreshälfte auf Ostende, wo Ensor 1860 geboren wurde, im Wesentlichen sein Leben verbracht hat und am 19. November 1949 gestorben ist. Das Ostender Mu.ZEE etwa widmet sich noch bis 14. April mit Rose, Rose, Rose, à mes yeux! dem Stillleben bei Ensor und in der belgischen Malerei von 1830-1930. Und das dortige Ensor-Haus zeigt seine Selbstporträts (21. März bis 16. Juni 2024).
Später im Jahr verlagert sich das Geschehen nach Antwerpen, wo das Königliche Museum der Schönen Künste (KMSKA), das die weltweit größte Ensor-Sammlung beherbergt, mit Ensors kühnste Träume dessen impressionistische und postimpressionistische Malerei fokussiert. Das Museum Plantin-Moretus springt bei und kümmert sich unterdessen um die grafischen Arbeiten Ensors (Ensors Suche nach dem Licht). Die Antwerpener Ausstellungen starten am 28. September 2024.
Nunmehr mischt sich aber auch die belgische Hauptstadt ein. In Brüssel zeigt die Königliche Bibliothek James Ensor – Inspired by Brussels (bis 2. Juni 2024) – und das Palais des Beaux-Arts (Bozar) hat James Ensor – Maestro (bis 23. Juni 2024).
James Ensor, Masken beobachten eine Schildkröte, 1894. Öl auf Leinwand, auf Tafel montiert. Ensor Foundation, Oostende. Foto: jvf.
„Inspired by Brussels“
Die Bibliothek (KBR) auf dem Mont des Arts hat eigene Bestände und die der Königlichen Museen in Brüssel zusammengeschmissen, um anhand von mehr als 75 Gemälden, Zeichnungen und Druckgrafiken die frühen Jahre in der Karriere Ensors zu dokumentieren. Die Ausstellung ist deutlich besser als ihr reichlich bescheuerter Marketingname, „Inspired by Brussels“, befürchten lässt.
Im Herbst 1877 verlässt der noch 17-jährige James Ensor das Elternhaus in Ostende und schreibt sich zum Studium an der Königlichen Akademie der Künste in Brüssel ein. Die akademische Ausbildung ist von durchwachsenem Erfolg. Der junge Ensor brilliert im Zeichnen von antiken Skulpturen. Malerei ist, nach Meinung des Lehrkörpers, nicht so seine Sache. Die Ausstellung zeigt einige der Schularbeiten.
Nach drei Jahren schmeißt Ensor das Studium hin, will sich lieber an der Avantgarde als an der Akademie orientieren, geht zurück nach Ostende. Die Verbindung nach Brüssel reißt indes in den Folgejahren nicht ab. Hier hat er ein Netzwerk von Künstlerfreunden, hier wird er Mitbegründer der Künstlergruppe „Les XX“ (die Zwanzig), die ab 1883 unabhängige Ausstellungen organisiert, auf denen Ensor reüssiert und mit seinen Werken provoziert.
James Ensor, Der Lampist, 1880. Öl auf Leinwand, 151.5 x 91 cm. / Die verärgerten Masken, 1883. Öl auf Leinwand, 135 x 112 cm. RMFAB. Fotos: Sailko, Quellen: Wikimedia Commons / Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY 3.0 Deed, Ausschnitt, Rahmung entfernt.
Zunächst experimentiert Ensor mit einem an Gustave Courbet geschultem Realismus, die Ausstellung im KBR hat als starkes Beispiel Der Lampist aus 1880. Bald schon aber führt der junge Maler in seine Bildsprache das ein, was zu seinem Markenkern werden und ihm das feststehende Epitheton „Maler der Masken“ einhandeln sollte. Die KBR hat das wohl erste Maskenbild Ensors vor Ort, Die verärgerten Masken von 1883, das man wohl autobiographisch deuten muss, als Szene im Elternhause Ensor, mit dem alkoholabhängigen Vater.
Les XX im Palais Charles de Lorraine
Der Hauptteil der Ausstellung der KBR führt innen hinüber in die prunkvollen Räumlichkeiten des Palais Karls von Lothringen. Just hier war zu Ensors Zeiten das Museum für Moderne Kunst untergebracht, wo ab 1887 „Les XX“ ihre Ausstellungen zeigten.
Zu den zwanzig Gründungsmitglieder, neben James Ensor etwa auch Fernand Khnopff, stießen später Künstler wie Auguste Rodin, Henry Van de Velde und Paul Signac. Die Ausstellungen der „vingtistes“ zeigten, neben eigenen, auch Arbeiten junger und noch nicht etablierter Maler wie Henri de Toulouse-Lautrec, Paul Gauguin, Vincent van Gogh und von Vorbildern wie Paul Cézanne und Claude Monet. Natürlich wäre es reizvoll gewesen, Ensor zu sehen im Kontext der damals ausgestellten Werke der Kolleg:innen (auch Berthe Morisot wäre dabei).
James Ensor, Satan und die fantastischen Legionen, die den Gekreuzigten quälen, 1886. Kohle und Graphit auf Papier, 61 x 76 cm. RMFAB. Foto: jvf.
Aber auch so kann man sich vorstellen, dass Ensor seinerzeit immer wieder für einen Skandal gut war, nicht nur durch die Maskenbilder. 1887 etwa zeigte der Salon der Zwanzig sechs seiner großformatigen Zeichnungen aus einer Werkserie Visionen – Christus’ Heiligenschein. Immerhin zwei davon sind im KBR jetzt zu sehen, darunter Satan und die fantastischen Legionen, die den Gekreuzigten quälen (1886), das seinerzeit das katholische Belgien verstört hat. Überhaupt lohnen alleine schon die aus konservatorischen Gründen selten zu sehenden Zeichnungen den Besuch der Ausstellung.
„Maestro“
Der Brüsselbezug der Schau in der KBR leidet etwas darunter, dass ein Hauptwerk (wenn nicht das Hauptwerk) Ensors vor Ort fehlt: Das monumentale Wimmelbild Der Einzug Christi in Brüssel (1888/89) wurde 1987 ans Getty Museum in Los Angeles verkauft und kann heute nicht mehr auf Reisen gehen. Man behilft sich mit einer fotografische Reproduktion, hat aber immerhin eine Radierung gleichen Titels von 1898 dabei – naturgemäß nicht so eindrucksvoll wie das Gemälde.
Den Kolleg:innen drüben im Bozar, die Treppen am Kunstberg hoch und 150 m die Rue Ravenstein hinunter, geht es da nicht besser. Hier muss eine 2008 hergestellte Tapisserie im Vestibül des Sonderausstellungsbereichs ihre Vorlage, eben den Einzug Christi, vertreten. Auch sonst mangelt es der Schau James Ensor – Maestro ein wenig an Hauptwerken.
James Ensor, Herr und Frau Rousseau mit Sophie Yoteko sprechend, 1892. Öl auf Tafel. Privatsammlung. Foto: Bozar.
Wenn man sich darauf eingestellt hat, dass die im Bozar ausgestellten 30 Gemälde, 80 Arbeiten auf Papier und 40 Dokumente keine umfassende Retrospektive ermöglichen, sondern als Querschnitt durchs Werk wesentliche Themen des Meisters offenlegen, sieht man aber eine sehr spannende Ausstellung.
Unglücklich ist zwar das Entrée, in dem in langer Reihe meist kleinformatige Arbeiten hängen, mehrheitlich aus dem Frühwerk. Kurz ist man versucht, die Skepsis der Akademielehrer seinerzeit in Brüssel zu teilen. Das gibt sich jedoch im weiteren Verlauf, wenn sich die Schau in drei Sektionen der „Fantasie und Musik“, der „Fantasie und Fantastik“ und den „Christusdarstellungen“ im Werk Ensors zuwendet.
Ensor, die Musik und die Bühne
Ensor ist seit seiner Kindheit ein Musikenthusiast, spielt Flöte und Klavier, und er komponiert später diverse Stücke auf seinem Harmonium, die 1911 zu einem Ballett, La Gamme d’amour, zusammengefügt werden. Ausgiebig entwirft er Kostüme, Bühnenbilder, Plakate dafür.
James Ensor, La Gamme d’amour, 1921. Öl auf Leinwand. Sammlung Bonnefanten / Plakatentwurf, 1932. Fotos: jvf.
Die Schau zeigt weitere Werke, die jenseits des unmittelbaren Bezugs auf sein Ballett, Musik und performative Künste zum Gegenstand nehmen. Und sie deutet die Figurenarrangements und auch das Motiv der Masken in ihrer szenischen und theatralen Dimension aus.
Die szenische Uraufführung erlebt La Gamme d’amour übrigens 1924 in der Kgl. Flämischen Oper in Antwerpen. Im zentralen Salon der Ausstellung kann man einen Klavierauszug des Balletts anhören. Nun ja, „gefällig“ wird man die Musik nennen können oder mit Ensor: „Ich mag sie fein, zart und charmant“.
Agnostische Christusdeutung
Den Abschluss der Ausstellung im Bozar machen Zeichnungen, Drucke und Gemälde, die sich mit religiösen Sujets und vornehmlich der Figur des Christus auseinandersetzen. Der Agnostiker Ensor sieht in Christus eine Identifikationsfigur von „unentrinnbarer Bedeutung“.
Nicht immer sind die Arbeiten in dieser Sektion von gleicher Dringlichkeit wie die Darstellung des Gekreuzigten in der Ausstellung drüben in der KBR. Sehr hübsch ist aber und – wie viele andere Werke in beiden Schauen – Ausweis, dass Ensor ein begnadeter Satiriker gewesen ist: Eine achtteilige Serie von kolorierten Radierungen Die (sieben) Todsünden (1904).
James Ensor, Die (sieben) Todsünden: Völlerei, 1904. Acht Radierungen, koloriert mit Wasserfarben. Sammlung KBC Bank NV, Brüssel. Foto: jvf.
Kataloge
Ausstellungskataloge im engeren Sinne gibt es zu beiden Schauen nicht, aber zwei Begleitbücher.
Parallel zur Ausstellung in der KBR ist im Mercatorfonds Verlag in flämischer, französischer und englischer Sprache ein Katalog der Ensor-Sammlung der Königlichen Museen in Brüssel und der KBR erschienen: Ensor & Brussels umfasst 216 Seiten und kostet 35€. Die Abbildungen, gerade der Zeichnungen, sind leider häufig viel zu klein geraten. Das Ding enthält aber einen sehr lesbaren biographischen Essay über Ensor und Brüssel von Daan van Heesch, dem Kurator der Schau.
Parallel zur Ausstellung im Bozar hat dessen Kurator, Xavier Tricot, in den Éditions Lannoo eine reich bebilderte Monografie zu Motiven und Sujets im Werk von James Ensor vorgelegt: James Ensor. Maestro. Mise en scène et spectacle dans l’œuvre d’Ensor hat 192 Seiten und kostet in französischer oder flämischer Sprache 39,99 €.
James Ensor – Maestro. K: Xavier Tricot. Brüssel, Bozar, 29. Februar – 23. Juni 2024 / James Ensor – Inspired by Brussels. K: Daan van Heesch. Brüssel, KBR, 22. Februar – 2. Juni 2024.