Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel eröffnet
„Das gemeinsame Gedächtnis“
Im Brüsseler Leopoldpark ist seit Anfang Mai 2017 das „Haus der Europäischen Geschichte“ geöffnet. Das vom Europäischen Parlament finanzierte, neue Museum informiert über die Geschichte Europas mit Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert.
Hans-Gert Pöttering hatte in seiner Antrittsrede als Präsident des Europäischen Parlaments 2007 die Einrichtung eines „Hauses der Europäischen Geschichte“ vorgeschlagen:
Es soll kein langweiliges, trockenes Museum werden, sondern ein Ort, der unsere Erinnerung an die europäische Geschichte und das europäische Einigungswerk gemeinsam pflegt und zugleich offen ist für die weitere Gestaltung der Identität Europas durch alle jetzigen und künftigen Bürger der Europäischen Union.
Zehn Jahre hat es gedauert bis jetzt dieses Museum eröffnet werden konnte, im Brüsseler Leopoldpark, gleich hinter dem Europäischen Parlament. Als Spielstätte dient ein 1935 vom philantrophischen Kodakgründer George Eastman als Zahnklinik in den Park gesetztes Gebäude. Seit 1985 wird das Ding bereits von EU-Institutionen genutzt.
Der 2013 begonnene Um- und Ausbau mit einem großzügigen, lichten Glasaufbau, entworfen von einer französisch-belgisch-deutschen Architektengruppe (Chaix & Morel / TPF / JSWD), der Aufbau der Sammlung, die Einrichtung der Ausstellung, all das soll bislang nur rund 55 Mio. Euro gekostet haben, was verglichen mit anderen Museumsgründungen sehr preiswert wäre.
Die Dauerausstellung
Etwa 4000 m² verteilt auf fünf Stockwerke stehen für die ständige Ausstellung bereit. Dazu kommen 800 m² im Erdgeschoss und 1. Stock für Wechselausstellungen. Das ist in etwa so viel Platz wie das Haus der Geschichte in Bonn zur Verfügung hat (dessen Präsident, Hans-Walter Hütter, auch im wissenschaftlichen Beirat des neuen Brüsseler Museums sitzt).
Haus der Europäischen Geschichte, Eröffnung. Rechte: © European Union 2017 – Source : EP
Den Auftakt der Dauerausstellung machen Exponate zur griechischen Mythologie: Die Sache mit Europe und Zeus. Es folgt ein Exkurs zum europäischen Raum mit historischen Karten bis hin zu einer chinesischen Weltkarte (in der Europa naturgemäß nach links oben marginalisiert ist) und der sehr hübschen australischen McArthur’s Universal Corrective Map of the World, die den Süden nach oben und den Osten nach links packt (und in der Europa folgerichtig nach unten rechts marginalisiert ist – im Netz findet man Abbildungen).
Den vorläufigen Schlusspunkt setzen die Nobelmedaille, Nobelteller und -urkunde, die die Europäische Union eingesammelt hat, als sie 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde – und Exponate zur Brexitkampagne: ein „Vote Leave“ T-Shirt und eine Rolle mit „I’m in“-Aufklebern u.a.
Dazwischen sortiert sich die Darstellung der europäischen Geschichte. Nicht um die Geschichte jedes europäischen Landes gehe es, sondern um die Frage, „wie aus der gemeinsamen Geschichte ein kulturelles Gedächtnis aller Europäer erwachsen ist“, liest man im Kurzführer zur Dauerausstellung.
Klugerweise haben die Ausstellungsmacher versucht, durch Beschränkung auf die Zeit ab der Französischen Revolution und durch Schwerpunktsetzung auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts – mit den beiden Weltkriegen, den totalitären Regimen und dem Holocaust – die unüberschaubare Stoffmenge handhabbar zu machen.
Über eine Fülle von herausragenden Einzelexponaten verfügt die Daueraustellung nicht. Mitunter helfen Reproduktionen weiter, immer aber eine spektakuläre Szenographie und eine vorbildliche multimediale Aufbereitung.
„Das gemeinsame Gedächtnis“
Als zentrales gestalterisches Element zieht sich ein metallenes Geflecht aus Buchstabenbändern durch das Gebäude und züngelt Zitate als Reflexionsanschub in die einzelnen Etagen.
Im obersten Stock etwa wird Benjamins „Geschichte ist eine Form des Eingedenkens“ zitiert, „To understand the integration of Europe, you have to understand the desintegration of Europe“ wirft Jay Winter ein, „L’esprit critique n’a-t-il pas été un des outils essentiels des Européens“ gibt Jacques Le Goff zu bedenken und schließlich beobachtet aus der Schweiz Adolf Muschg: „Was Europa zusammenhält und was es trennt, ist das gemeinsame Gedächtnis“.
Haus der Europäischen Geschichte, Eröffnung, Hans-Gert Pöttering und Antonio Tajani. Rechte: © European Union 2017 – Source : EP
Das Zitat stammt aus Muschgs Essay „Kerneuropa“ (nachzulesen bei der NZZ). Dieser Essay sei wegweisend für die theoretischen Grundlage der Dauerausstellung gewesen, hat Andrea Mork, die Chefkuratorin des HdEG vor einiger Zeit in einem Interview erklärt. Muschgs Satz geht noch weiter:
Was Europa zusammenhält und was es trennt, ist im Kern eines: das gemeinsame Gedächtnis, und die Schritt für Schritt erworbene Gewohnheit, sich von fatalen Gewohnheiten zu entfernen.
Muschg hat das 2003 geschrieben. Mittlerweile wissen wir, dass die Entfernung von fatalen Gewohnheiten nicht zur unentwöhnbaren Gewohnheit geworden ist.
Umso wichtiger ist das Unterfangen des Museums, die europäische Integration als – in historischer Perspektive ja ungeheuer erfolgreiche – Antwort auf das Desaster und die Verbrechen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erklären und damit vielleicht etwas Verständnis zu wecken, welches Risiko eine neue Desintegration darstellen würde.
Am Eröffnungstag waren auffallend viel junge Leute im Haus unterwegs, vielleicht gibt es ja noch Hoffnung.
Vom Feminismus zum Linksfaschismus und die blockfreie Montanunion
Allerdings: Von der Französischen Revolution bis zum Brexit-Votum, das sind grob gerechnet immer noch 227 Jahre. Bei aller Schwerpunktsetzung kann es nicht gelingen, das für den ganzen Kontinent in einer Ausstellung mit der notwendigen Differenzierheit aufzubereiten.
Die Verknappung und perspektivische Verkürzung hat mitunter sehr seltsame Effekte. Nehmen wir als Beispiel die „sozialen Bewegungen“ im Westen der 1970er und 80er Jahre. Dafür ist nur eine Vitrine Platz, weil gleich nebenan schon die Solidarność und der Mauerfall warten.
Haus der Europäischen Geschichte, Eröffnung. Rechte: © European Union 2017 – Source : EP
Die Vitrine enthält ein historisches Längsschnittmodell eines Unterleibs, anhand dessen über „Die Gefahren der Abtreibung“ aufgeklärt wurde, eine monströse Abtreibungszange, eine Packung Anovlar, ein Exemplar von Simone de Beauvoirs Le Deuxième Sexe und ein Exemplar von Pauls VI. Enzyklika Humanae vitae, das Präparat einer ölverklebten Möwe, ein Tableau von zwölf gelben Atomkraft-Nein-Danke-Buttons in zwölf verschiedenen Sprachen, ein Exemplar von The Limits to Growth, ein Molli, eine Knarre, ein Exemplar von Emilio R. Papas Il processo alle Brigate rosse und eine Gerichtszeichnung aus dem Stammheim-Prozess, wenn ich nicht irre. Reproduktionen von Plakaten, Fahndungsaufrufen und Zeitungstitelseiten sind oberhalb der Vitrine angebracht. Auf der Rückseite der Vitrine sieht man Demoschilder und – transparente sowie eine Nana von Niki de Saint Phalle.
Wollte man böse sein, könnte man daraus folgern, dass der Feminismus, der eine Abtreibungsbewegung ist, ergänzt um die Umweltschutzbewegung, zum Terrorismus der Linksfaschisten geführt hat. Vermutlich entspricht das recht genau dem Geschichtsbild der ein oder anderen gegenwärtigen Regierung in Osteuropa.
Ein anderes Beispiel, das zeigt, wie – gut gemachte – museale Szenographie irritierende Deutungen nahe legen kann: Der kalte Krieg. Stellwände, die einen eisernen Vorhang vorstellen, bilden einen Gang. Links Propaganda-Plakate der USA (und eines von Coca Cola), rechts Propaganda-Plakate aus dem Ostblock, auf kleinen Monitoren Bilder der Stellvertreterkriege.
In der Mitte des Gangs sind europablaue Säulen mit gelbem Sternenkranz gestellt und in darin eingelassenen Kleinvitrinen Exponate zur Frühphase der Europäischen Einigung versammelt, von der europäischen Bewegung der unmittelbaren Nachkriegszeit über die Montanunion bis hin zu den Römischen Verträgen von 1957.
Vorsichtig formuliert: Ich bin nicht restlos überzeugt, dass Montanunion und EWG wirklich als zwischen den eisernen Vorhang geklemmte, also blockfreie Zusammenschlüsse zur Völkerverständigung angemessen zu deuten sind.
Aber das sind das eher randständige Probleme einer insgesamt beeindruckenden Ausstellung.
Die erste Wechselausstellung
Mit dem etwas sperrigen Titel Interaktionen – Handel, Kriege und Kreation im Laufe der Jahrhunderte ist die erste Wechselausstellung versehen. Sie ist bis zum 31. Mai 2018 im Erdgeschoss und im 1. Stock zugänglich und soll „Schlüsselmomente und Geschichten von Begegnungen und Austausch in der Europäischen Geschichte“ darstellen. Thematisch macht das einen etwas unfokussierten bis wirren Eindruck, aber die Aufbereitung mit vielen spielerischen und interaktiven Elementen ist einzigartig.
Haus der Europäischen Geschichte. D: Taja Vovk van Gaal. Brüssel, Leopoldpark, Rue Belliard 135.