Kulturraum NRW


Die Frühjahrsausstellungen in Paris 2023

Paris au printemps

Germaine Richier und Thomas Demand, Giovanni Bellini, Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat, Picasso, Manet und Degas. Das Programm der Pariser Museen im Frühjahr 2023 ist außergewöhnlich stark.

Paris, Symbolbild Museen. Foto: jvf

Germaine Richier

In der Galerie 2, ganz oben im Centre Pompidou, ist bis 12. Juni 2023 eine beglückend umfassende Retrospektive auf das faszinierende Werk von Germaine Richier (1902-1959) zu sehen.

Rund 200 Werke (Groß- und Klein­skulpturen, Zeichnungen, Reliefs) dokumentieren die gesamte Karriere der wichtigsten fran­zösischen Bild­hauerin aus der Mitte des 20. Jahr­hunderts, angefangen von frühen Arbeiten, die noch ganz von ihrem Lehrer Antoine Bourdelle und dem Vorbild Rodins geprägt sind, über die gebrochenen Menschen­figuren sowie Chimären von Mensch und Insekt ab den 1940er Jahren bis hin zu gefassten Skulpturen der 1950er Jahre.

Neben den Monumental­bronzen L’Orage (Der Sturmmann, 1947/48) und L’Ouragane (Die Orkanfrau, 1948/49) sind es wohl vor allem ihre Insekten und Chimären – wie La Sauterelle (Die Heu­schrecke, in drei­facher Skalierung, 1944-56), La Mante (Die Gottes­anbeterin, 1946) oder La Chauve-Souris (Die Fleder­maus, 1946) – die bis heute nichts von ihrer ebenso irritierenden wie ergreifenden Kraft verloren haben.

Sehr wirkungsvoll inszeniert die Ausstellung Richiers Christ d’Assy (1950) in einem kappellen­artigen, abge­dunkelten Komparti­ment: Der expressionistisch-gebrochene Schmerzens­mann ist hier ganz eins mit dem Kreuz – ich kenne keine bewegendere Jesus­figur. 1951 skandali­sierten konser­vative Christen die Aufstellung von Richiers (für die Église Notre-Dame de Toute Grâce du Plateau d’Assy geschaffe) Kreuzfigur: „On ne se moque pas de Dieu!“. Auch diesen „Skandal“ dokumentiert die Aus­stellung im Centre Pompidou.

Nicht nur bei schönem Wetter darf man keines­falls versäumen, einen Spazier­gang durch den Tuilerien­garten anzuschließen, wo Richiers wunderbare, fünf­teilige Bronze­gruppe L’Échiquier, grand (1959) auf­gestellt ist (eine bemalte Gips­fassung der Gruppe ist in der Restro­spektive zu sehen).

Wer die Schau im Centre Pompidou jetzt im Frühjahr verpasst, muss in der zweiten Jahres­hälfte halt nach Süden, ins Langue­doc, nach Mont­pellier, wo das Musée Fabre die Aus­stellung von Mitte Juli bis Anfang November 2023 zeigt. Ist ja auch schön da.

Thomas Demand – Le bégaiement de l’histoire

Jeu de Paume in Paris, Außenansicht. Foto: jvf

Sehr hübsch gestaltet ist die Wander­ausstellung auf Welt­tournee, Thomas Demand – Das Stottern der Geschichte, im Jeu de Paume (Tuilerien­garten). Die Schau zeigt mehr als 60, meist groß­formatige foto­grafische Arbeiten und zwei Videos des 1964 in München geborenen Künstlers (Studium u.a. an der Kunst­akademie Düssel­dorf).

Demand ist berühmt geworden durch seine Methode, Schau­plätze historischer Ereignisse in Original­größe aus Pappe nachzubauen und diese Rekon­struktionen foto­grafisch zu dokumentieren. Er problematisiert dabei in abgründiger Viel­schichtig­keit die mediale Vermit­tlung von Zeit­geschichte und bild­basierte Prozesse kollektiven Erinnerns.

Zu sehen gibt es Arbeiten von der Mitte der 1990er Jahre (Riefenstahl-Archiv, 1995) bis hin zu jüngsten Werken, darunter eine fünf­teilige Serie über den Raum der Transit­zone des Flug­hafens Moskau-Scheremet­jewo, in dem Eward Snowden mehr als einen Monat lebte, bevor ihm die Einreise nach Russland erlaubt wurde (Refuge I-V, 2021).

Die Ausstellung gastiert noch bis 23. Mai 2023 im Jeu de Paume und reist danach weiter ins Jerusa­lemer Israel Museum und ins MoFA Housten.

Giovanni Bellini – Influences croisées

Giovanni Bellini, Die Trunkenheit Noahs, um 1515. Foto: jvf

Ich zögere etwas, die Bellini-Schau im Musée Jacque­mart André (bis 17. Juli 2023) zu empfehlen. Nicht, dass diese Ausstellung schlecht beschickt wäre: Die Berliner Gemälde­galerie und einige italie­nische Museen haben durchaus das ein oder andere Meister­werk ent­liehen (viele Haupt­werke fehlen aller­dings).

Das Problem ist auch nicht das Konzept der Ausstellung: Bellinis Werken werden Arbeiten seines Schwagers Andrea Mantegna, weiterer italienischer Maler wie Antonello da Messina und Cima da Cone­gliano, aber auch von Hans Memling gegenüber­gestellt, um die „sich kreuzenden“ Einflüsse der italie­nischen und nord­europäischen Malerei auf den vene­zianischen Früh­renaissance­meister aufzuzeigen.

Giovanni Bellini, Der himmlische Vater, um 1505/10. Foto: jvf

Das Problem dieser Ausstellung sind vielmehr die viel zu kleinen Räumlich­keiten im Sonder­ausstellungs­bereich des Jacque­mart André, die nicht erlauben, die zum Teil groß­formatigen Werke zur Geltung kommen zu lassen. Zudem sind die Lauf­wege durch die Ausstellung so kata­strophal schlecht angelegt, dass man bei erwart­bar großem Besucher:innen-Andrang starke Nerven braucht.

Wer sich davon nicht abschrecken lässt, kann hier gerade im Spätwerk Bellinis einige Entdeckungen machen (und den nächsten Italien­urlaub entsprechend planen).

Arts et préhistoire / Picasso et la préhistoire

Vénus de Laussel, um 29000 v. Chr., Arts et préhistoire, Musée de l'homme, Paris. Foto: jvf

Das Musée de l’Homme am Trocadéro schließt sich mit Picasso und die Urgeschichte (bis 12. Juni 2023) dem Jubliäums­reigen von Aus­stellungen aus Anlass des 50. Todes­tags von Pablo Picasso an.

Die Kabinett­ausstellung im Ober­geschoss des anthro­pologischen Museums zeigt Zeich­nungen, Gemälde und Skulpturen des berühmtesten Künstlers des 20. Jahr­hunderts und versucht anhand einiger Exponate urgeschicht­licher Kunst, Picassos Auseinander­setzung mit den „ersten Künstler:innen“ nachzu­zeichnen.

So richtig Sinn macht ein Besuch aber nur im Zusammen­hang mit der Ausstellung Künste und Urgeschichte in den Räumen nebenan, die anhand von spektaku­lären Objekten (u.a. der „Venus von Lespugue“ und der „Venus von Laussel“) sowie hübschen Videos einen faszinierenden Über­blick zum Kenntnis­stand in Sachen urgeschicht­licher Kunst vermittelt. Diese Schau ist aber nur bis 22. Mai 2023 zu sehen.

Vormerkungen