Stücke 2014 – Die Mülheimer Theatertage
Und dann
Wolfram Höll gewinnt mit „Und dann“ den Mülheimer Dramatikerpreis 2014. Den Publikumspreis sammelt Rimini Protokoll für „Qualitätskontrolle“ ein.
Wolfram Höll: Und dann. Schauspiel Leipzig. Foto: © Rolf Arnold.
Vom 17. Mai bis 7. Juni 2014 wurden in Mülheim an der Ruhr die 39. Deutschen Dramatikermeisterschaften ausgetragen. Sieben, in der Session 2013/14 an deutschsprachigen Bühnen uraufgeführte Stücke waren nominiert für den Preis der Jury (mit 15.000 Euro dotiert) und den Publikumspreis (gänzlich undotiert).
Die fünfköpfige Jury aus Theatermachern und Kritikern hat in öffentlicher Sitzung getagt und entschieden. Das Ergebnis geht in Ordnung: Der deutsche Dramatikermeister 2014 ist Wolfram Höll mit seinem Stück Und dann (uraufgeführt Anfang Oktober 2013 am Schauspiel Leipzig in der Regie von Claudia Bauer). Das sei, befand die Jury, ein ebenso überraschendes wie bewegendes Heimat- und Milieustück, das in kunstvoller Art und Weise, in unglaublicher Sprachqualität und mit hoher Musikalität eine konkrete Geschichte über das System DDR (bzw. aus Nachwendeland) erzähle.
Der Publikumspreis der „Stücke 2014“ geht unterdessen an Helgard Haug und Daniel Wetzel von Rimini-Protokoll für Qualitätskontrolle.
Kulturraum.NRW muss sich nicht auf zwei Preise beschränken, sondern vergibt gleich sieben Auszeichnungen.
Die Sonderpreise des Kulturraum.NRW
- Das abgedrehteste Stück: Matthias Schweiger, Am Beispiel der Butter. Schauspiel Leipzig, R: Cilli Drexel.
Ferdinand Schmalz: Am Beispiel der Butter. Schauspiel Leipzig. Foto: © Rolf Arnold.Im Prinzip ist die Gegenwartsgesellschaft eine Molkerei. „Deine Heimat, Deine Milch“ so steht über der abgeschrammelten Dorf-Restauration, in der die geschäftsführende Stielaugenjenny nicht von Kanonenbooten träumt, sondern dem mittleren Molkereimanagement und dem Exekutivbediensteten bei der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung hilfreich ist. Die wird gefährdet vom Futterer Adi, der den Autoritäten gegenüber zu Patzigkeiten neigt und seiner Karina gerne Joghurt ums Maul schmiert. Das kann nur böse enden, im dreifach variierten Blutbad.
Matthias Schweiger, *1985 in Graz, Studium Philosophie und Theaterwissenschaften an der Uni Wien, Regieassistenzen in Wien und Düsseldorf, hat für das, unter dem Pseudonym Ferdinand Schmalz veröffentlichte Stück 2013 bereits den Retzhofer Dramapreis mitgenommen, war im gleichen Jahr Bezirksschreiber im Alsergrund.
- Das belangloseste Stück: René Pollesch, Gasoline Bill. Münchener Kammerspiele, R: René Pollesch.
Eine kurzweilige Revue mit absurden Tanzeinlagen, einer albernen Clownsnummer, viel Bühnenaktionismus, skurrilen Mono- und Dialogen über toxische Subjekte, die Unmöglichkeit des Mitfühlens und das Versagen des Mitleids. Die Suche nach Erlösung und Entlastung, die zwei Paare in Wildwest-Kostümen in wechselnden Konstellationen und in Vereinzelung umtreibt, wird zu nichts führen. Auch das Theater hilft da nicht weiter. So wie dieses Stück, das zur Laufzeit prächtig amüsiert, mich danach aber sehr gelangweilt nach Hause fahren lässt. Pollesche Dutzendware.
René Pollesch, *1962 im hessischen Friedberg, hat seit den frühen 90er Jahren acht Handvoll Stücke auf die Bühne gebracht, zweimal hat der den Mülheimer Dramatikerpreis eingesammelt (2001 und 2006).
- Das kapitalismuskritischste Stück: Philipp Löhle, Du (Normen). Nationaltheater Mannheim, R: Katrin Lindner.
Von der Phylogenese zur Ontogenese, vom Urschlamm zum Arschloch. Dabei ist der Unternehmer Normen mit einigem Lausbubencharme unterwegs durch ein rasantes Biopic, macht mit der Verschiebung von Medikamententests sein erstes Geld und mit in Sweatshops gefertigten Billigklamotten ein Vermögen („Das ist keine Kinderarbeit. Nicht nach indischem Recht“). Kollateralschäden müssen da hingenommen werden. Das Ende ist etwas verrutscht (eine Entführung, ein Kindstod), funktioniert jedenfalls in dieser Inszenierung nicht besonders. Ich hoffe, das Stück wird demnächst in der Rheinprovinz in die Spielpläne aufgenommen werden, mit etwas beherzterem Zugriff als bei den Mannheimern.
Philipp Löhle, *1978 ins Ravensburg, Preise bei den Stückemärkten in Berlin und Heidelberg, Hausautor in Berlin, Mannheim, Mainz und derzeit in Bern. Zweimal waren Stücke von Löhle schon für die Dramatikermeisterschaft nominiert, 2007 und 2011, das letztere Mal mit einem Publikumspreis für Das Ding.
- Die beste Inszenierung und wahrscheinlich auch das beste Stück: Wolfram Höll, Und dann. Schauspiel Leipzig, R: Claudia Bauer.
In poetisch verdichteter Sprache, manisch kreisend um Kindheitserinnerungsfetzen an die Zeit vor und nach der Wende, erzählt das Stück aus Kindsperspektive vom Plattenbauleben, von den drei Findlingen vor dem Haus, die „Verlierlinge“ sind, vom Vater, der was arbeitet, über das man nicht redet und dann nicht mehr arbeitet, von den Ausflügen in die Stadt, über die „Panzerparadenlangenstraße“, wo jetzt bald neue Autos fahren. Von den Deutschrussen, die überall eingezogen sind, immer Vater-Mutter-Kind. Von der eigenen Mutter, die nicht mehr da ist, nur noch auf Schmalfilmfilmchen. Und von dem Verlust, der nicht zu verstehen ist mit dem „Kopfkissenkopf“ und vom Schmerz und von der Angst, die da sind. Die Leipziger Uraufführung setzt den schwierigen Text als Fieberphantasie mit Figuren in Buritomasken in sehr wirkungsmächtige, atmosphärisch dichte Bilder.
Wolfram Höll, *1986 in Leipzig, lebt im schweizerischen Biel, schreibt Stücke und arbeitet als Hörspielregisseur beim Schweizer Radio. Und dann ist bereits mit dem Publikumspreis des Heidelberger Stückemarkts, dem Hörspielpreis des Berliner Stückemarkts und dem Literaturpreis des Kantons Bern ausgezeichnet worden.
- Das lustigste Stück: Rebekka Kricheldorf, Alltag & Ekstase. Deutsches Theater Berlin, R: Daniela Löffner.
- Das beste Stück Dokumentartheater: Helgard Haug & Daniel Wetzel / Rimini Protokoll, Qualitätskontrolle. Schauspiel Stuttgart, R: Rimini Protokoll.
Maria-Cristina Hallwachs, verunglückt mit 18 Jahren, das Abitur gerade in der Tasche („Das ganze Leben läge dann vor einem, sagt man“), Genickbruch, ist seit dem vom Hals abwärts gelähmt. Sie erzählt über ihr Leben, über die Ethikkommision im Krankenhaus, die nach dem Unfall über ihr Weiterleben befindet, über die Morde der Nazis an Kranken und Behinderten. Und sie spielt Fußball, Memory und Schiffeversenken. Ein bewegender, intensiver und sehr lebensfroher Abend.
Helgard Haug und Daniel Wetzel (beide *1969) machen seit Mitte der 90er Jahre dokumentarisches Theater, seit 2002 unter dem Label Rimini-Protokoll meist mit „Experten des Alltags“ auf der Bühne. 2007 Mülheimer Dramatiker- und Publikumspreis (für Karl Marx: Das Kapital, Erster Band), Faust-Theaterpreis, Europäischer Theater Preis, Silberner Löwe der Theaterbiennale Venedig für das Gesamtwerk.
- Das formal interessanteste Stück: Laura de Weck, Archiv des Unvollständigen. Oldenburgisches Staatstheater, R: Thom Luz.