Mülheimer Theatertage: Stücke 2013
„Wo sind meine Stimmbänder“
Der mit 15.000 Euro ausgestattete Mülheimer Dramatikerpreis geht heuer an Katja Brunner für ihr Stück „Von den Beinen zu kurz“. Den Publikumspreis gewinnt, völlig zu Recht, Marianna Salzmann mit „Muttersprache Mameloschn“.
Katja Brunner – Von den Beinen zu Kurz | Schauspiel Hannover. Foto/Rechte: Katrin Ribbe.
Unter den nominierten Stücken des Jahrgangs 2012/2013 waren je eines von den Altmeisterinnen Elfriede Jelinek, die den Dramatikerpreis bereits vier Mal gewonnen hat (2011, 2009, 2004, 2002), und Franz Xaver Kroetz, der 1976 die erste Siegerurkunde aus Mülheim mit nach Hause nehmen durfte. Hinzu kamen Stücke der beiden etablierten Bühnenschriftsteller Moritz Rinke und Felicia Zeller sowie von den Jungdramatikerinnen Katja Brunner, Azar Mortazavi, Marianna Salzmann und Nis-Momme Stockmann.
Die fünfköpfige Jury kam ihrem Auftrag, daraus das beste neue Stück des Berichtsszeitraums 2012/13 auszuwählen, in öffentlicher Sitzung nach, direkt im Anschluss an die letzte Aufführung am 29. Mai. Die Diskussion der Jury wurde im Livestream übertragen, die Stücke nicht.
Die Stücke
- Katja Brunner: Von den Beinen zu kurz. (Schauspiel Hannover, R: Heike Marianne Götze)
Katja Brunner – Von den Beinen zu Kurz | Schauspiel Hannover. Foto/Rechte: Katrin Ribbe.Die spannendste Inszenierung auf den Theatertagen – und eines der spannendsten Stücke. Katja Brunners Mutmaßungen über einen Missbrauch – das, so scheint es, Modethema der Gegenwartsdramatik – ist sehr clever konstruiert und formal beeindruckend gemacht: Vier Figuren mutmaßen, erzählen, rekonstruieren einen Missbrauchsfall, multiperspektivisch und sehr non-pc. Eher misslich ist aber die sehr bemühte, raunende Sprache des Stücks, ganz unnötig.
Katja Brunner, geboren 1991 in Zürich, hat – wenn ich recht sehe – mit Von den Beinen zu kurz ihr erstes Stück auf deutschen Bühnen untergebracht (UA durch das Theater Winkelwiese). Ein Vorläufer mit dem sehr hübschen Titel die hölle ist auch nur eine sauna ist noch zur Uraufführung frei, dessen sollten sich jemand annehmen.
- Elfriede Jelinek: FaustIn and out. (Schauspielhaus Zürich, R: Dušan David Pařízek)
außer Konkurrenz
- Franz Xaver Kroetz: Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind. (Residenztheater München, R: Anne Lenk)
Franz Xaver Kroetz – Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind | Residenztheater München. Foto/Rechte: Thomas Dashuber.Auch Franz Xaver Kroetz nimmt sich des Themas Missbrauch an (so ist das wohl angemessen formuliert) und lässt die Täter erzählen, sich entschuldigen, die Einverständniserklärung ihres Opfers phantasieren. Das Stück, das auf einen Saarbrücker Missbrauchsfall zurück geht, liegt seit 2004 gedruckt vor, wurde aber erst in diesem Jahr uraufgeführt – und ist aus gutem Grund so lange liegen geblieben.
Der Erkenntnisgewinn, den dieses Drama offeriert, ist streng limitiert: Dass Päderasten wohl nicht selten einen Hang zum Selbstmitleid mit vermindertem Unrechtsbewußtsein kombinieren, ahnte ich auch schon ohne das Stück von Kroetz. Und als Empörung generierendes Betroffenheitstheater taugt das auch nicht (und selbst wenn, wäre das Stück überzählig). Da rettet auch diese Inszenierung mit dem geschätzten Manfred Zapatka (u.a. großartig im „KDD“) als Kinderschänder Kurt nicht über die langen 1½ Stunden. Weiß der Geier, warum die Auswahlkommision dieses Stück nach Mülheim eingeladen hat. (Disclosure: Ich hege seit jeher ein solides Vorurteil gegen die Dramatik von Herrn Kroetz, andere mögen mehr mit ihm und diesem Stück anfangen können.)
- Azar Mortazavi: Ich wünsch mir eins. (Theater Osnabrück, R: Annette Pullen)
nicht gesehen (Job blöd).
- Moritz Rinke: Wir lieben und wissen nichts. (Konzert Theater Bern, R: Oliver Reese)
Moritz Rinke – Wir lieben und wissen nichts | Konzert Theater Bern. Fotos/Rechte: Annette Boutellier.Rinkes Doppelpaarkomödie leidet in Mülheim unter zwei sehr misslichen Umständen: der Spielstätte (die Studiobühne im Ringlokschuppen) hat eine katastrophale Akustik – ganze Partien des Textes sind schlicht unhörbar – und unter der etwas lahmen Einrichtung des Konzert Theaters Bern. Andererseits: Beim Lesen des Stücks habe ich mir vor Lachen die Hose eingeweicht. Eine großartige, präzise rhythmisierte Komödie. Und der von vielen Kritikern mobilisierte Vergleich mit den Komödien Yasmina Rezas ist ebenso nachvollziehbar wie eine Beleidigung für das Können Rinkes.
Moritz Rinke, geboren 1967 ins Worpswede, gehört zu den erfolgreichsten Gegenwartsautoren auf deutschen Bühnen, als Journalist mit zwei Axel-Springer-Preisen zugeschüttet, Torjäger der deutschen Autorennationalmannschaft (32 Tore in 37 Spielen), schreibt seit 1995 fürs Theater, hat dabei zuletzt 7 Jahre Pause gemacht, um seinen Roman Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel zu schreiben. Wir lieben und wissen nichts ist ab April 2014 u.a. am Theater Trier zu sehen.
- Marianna Salzmann: Muttersprache Mameloschn. (Deutsches Theater Berlin, R: Brit Bartkowiak)
Drei Frauen, drei Generationen, eine Abrechnung. In Marianna Salzmanns Komödie um eine Familie mit jüdischem Hintergrund im heutigen Deutschland ringen die realsozialistische Großmutter, die hysterisch-entideologisierte Tochter und die, nach New York verziehende, lesbische Enkelin um ihren Standort. Sehr witzig, warmherzig und handwerklich gut gebaut. Das Stück war ein klarer Kandidat für den Publikumspreis.
Marianna Salzmann, geboren 1985 in Wolgograd, lebt in Berlin, scheint etwas hyperproduktiv zu sein, hat in den vergangen zwei Jahren so um die zehn Stücke an deutschen Bühnen untergebracht, ist Mitherausgeberin des Kultur- und Gesellschaftsmagazins freitext und ab diesem Jahr als Hausautorin am Maxim Gorki zu Berlin unterwegs. In der Rheinprovinz ist im Frühjahr 2013 ihre Bearbeitung von Horváths Kasimir und Karoline am Düsseldorfer Schauspielhaus zu sehen.
- Nis-Momme Stockmann: Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir. (Schauspiel Hannover, R: Lars-Ole Walburg)
Nis-Momme Stockmann – Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir | Schauspiel Hannover. Foto/Rechte: Katrin Ribbe.Es hat ein Problem mit den sehr bequemen roten Kunstledersesseln im Theatersaal der Stadthalle zu Mülheim: Sind sie warm gesessen und was kuschelig gepupst, schläft man schnell ein. So erging es mir jedenfalls, noch vor der ersten Pause. Daran könnte aber auch dieses Stück Schuld sein. Nis-Momme Stockmann hat im gerechten Zorn Klischees in Sachen des jetzt ganz späten Spätkapitalismus zu einer absurden bis surrealen Erzählung von einem Aussteiger aus dem Bankermilieu verbaut. Bebildertes, narratives Theater, das in der revueartigen, 4½-stündigen Inszenierung von Lars-Ole Walburg vielleicht etwas gesinnungskuschelig rüberkommt. (Disclosure: schlaf- und dann heimfahrtbedingt habe ich große Teile des Stücks nicht gesehen.)
Nis-Momme Stockmann, geboren 1981 auf Föhr, studierte szenisches Schreiben in Berlin, war von 2009 bis 2012 als Hausautor am Schauspiel Frankfurt, berichtete 2012 auf Einladung des Goethe-Instituts aus der Sperrzone Fukushima. In der Rheinprovinz ist in der nächsten Session u.a. sein erstes Stück (2009) Der Mann der die Welt aß im Aachener Mörgens zu sehen.
- Felicia Zeller: X-Freunde. (Schauspiel Frankfurt, R: Bettina Bruinier)
Felicia Zeller – X-Freunde | Schauspiel Frankfurt. Foto/Rechte: Birgit Hupfeld.Felicia Zeller stellt in ihrem Dreipersonenstück Verlierer der Selbstausbeutungsmaschinerie mittelschichtiger Kreativitätsproduktion auf der Bühne aus: Der in die Arbeitslosigkeit ausgesonderte Event-Gastronom, der daueralkoholisierte, schaffenskriselnde Künstler, die dagegen unterbrechungsfrei schaffende Marketingtussi („Ich bin erfolgreich und ich zahle den Preis dafür“). Zellers dauerbrabbelnde Figuren sind nicht durchgängig stimmig konstruiert, aber deren vergeblichen Versuche im individualisierten Leistungsbewerb sind ebenso lustig wie bitter anzuschauen. Möglicherweise ein Kandidat für den Publikumspreis.
Felicia Zeller, geboren 1970 in Stuttgart, schreibt seit Anfang der neunziger Jahre fürs Theater, macht Kurzfilme und Prosa. 2008 hat sie bereits den Publikumspreis bei den Mülheimer Theatertagen für Kaspar Häuser Meer eingesammelt.