Dalbavies Oper „Charlotte Salomon“ am Theater Bielefeld
Leben? oder Theater?
Mizgin Bilmen bringt mit einer klugen und stringenten Inszenierung die deutsche Erstaufführung von Marc-André Dalbavies Oper „Charlotte Salomon“ über die Bühne des Theater Bielefeld.
Charlotte Salomon, Theater Bielefeld. Daniel Pataky, Jana Schulz, Hasti Molavian. Foto: © Bettina Stöß.
Südfrankreich, im August 1940. Charlotte Salomon, vor den Nazis aus Berlin zu den Großeltern an die Côte d’Azur geflohen, beginnt ihr Leben zu malen. Da ist sie gerade 23 Jahre alt. Vielschichtige Tableaus, die manchmal ein wenig an Chagall erinnern, manchmal an diverse Expressionisten, skizzenhafte Szenerien, zum Teil reine Textseiten. Binnen 18 Monaten kommen mehr als 1300 Gouachen zusammen. Knapp 800 davon wählt sie später aus: Eine autobiographische graphic novel, Leben? oder Theater? Ein Singespiel.
Das Kunstprojekt ist auch eine therapeutische Maßnahme der Selbstvergewisserung oder zuallerst Selbstfindung. Traumata, die es zu verarbeiten gibt, hat es bitter genug: Neben Verfolgung, Flucht und Exil, die Suizide von Mutter, Großmutter und den anderen aus der Familie mütterlicherseits; die Liebe zum zwanzig Jahre älteren Alfred Wolfsohn, eine Elektra-Geschichte, Wolfsohn war Gesangstrainer (und möglicherweise auch Liebhaber) ihrer Stiefmutter, der Sängerin Paula Lindberg; die Zweifel am eigenen künstlerischen Vermögen – nach knapp zwei Jahren hatte sie 1937 das Studium an der Berliner Kunsthochschule wegen antisemitischer Diskriminierung abbrechen müssen.
Charlotte Salomon, Leben? oder Theater? Lizenz: PD-Art. Quelle: Joods Historisch Museum
Schaut man sich die Gouachen heute mit einiger kaltherziger Nüchternheit an, kann man Zweifel an der malerischen Qualität der einzelnen Blätter haben. Das Werk insgesamt gehört aber zweifelsfrei zu den wichtigsten – und anrührendsten – autobiographischen Zeugnissen des 20. Jahrhunderts. Anfang Oktober 1943 wird die junge Künstlerin nach Auschwitz deportiert und dort vermutlich sofort nach ihrer Ankunft ermordet.
Das Singespiel
Das „Singespiel“, das der Untertitel von Salomons Autobiographie verheißt, machen die musikalischen Verweise, die den Gouachen beigefügt sind: Ein Soundtrack aus altem, klassischem und romantischem Lied (Bach, Händel, Mendelssohn, Schubert, Schumann), Oper und sehr viel Operette (Bizet, Abraham, Benatzky, Kálmán, Léhar, Raymond) bis hin zu Holländers Ich bin die fesche Lola – und auch dem „Horst-Wessel-Lied“.
Salomon schreibt in der Einleitung zu ihrer Arbeit:
Die Entstehung der vorliegenden Blätter ist sich folgendermaßen vorzustellen: Der Mensch sitzt am Meer. Er malt. Eine Melodie kommt ihm plötzlich in den Sinn. Indem er sie zu summen beginnt, bemerkt er, daß die Melodie genau auf das, was er zu Papier bringen will, paßt. Ein Text formt sich bei ihm, und nun beginnt er die Melodie mit dem von ihm gebildeten Text zu unzähligen Malen mit lauter Stimme so lange zu singen, bis das Blatt fertig scheint.
Charlotte Salomon, Theater Bielefeld. Jana Schulz. Foto: © Bettina Stöß.
Dieses Singespiel zu veropern, liegt ebenso nahe wie es schwer zu machen ist. Der französische Komponist Marc-André Dalbavie hat das vor einigen Jahren unternommen. Es ist seine zweite Oper (nach Gesualdo, 2010), uraufgeführt im Sommer 2014 auf den Salzburger Festspielen, inszeniert seinerzeit von Luc Bondy.
Dalbavie übernimmt dabei einen (kleinen) Teil von Salomons Soundtrack unverfremdet oder integriert ihn in seine Partitur, Bizets Ja, die Liebe hat bunte Flügel, Webers Jungfernkranz, Silchers Morgen muss ich fort von hier, die genannte Nazihymne usw. Eingefügt sind diese Erinnerungsstücke in Dalbavies umwerfend schöne Klangflächen, die in der „musique spectrale“ fundiert sein mögen, für mein Laiengehör aber irgendwo zwischen angeschrägter Spätromantik und Impressionismus landen.
Die Bielefelder Inszenierung
Charlotte Salomon, Theater Bielefeld. Marc Coles, In Kwon Choi, Paata Tsivtsivadze, Bogdan-Dumitru Sandu, Lianghua Gong. Foto: © Bettina Stöß.
Die Inszenierung der deutschen Erstaufführung jetzt am Theater Bielefeld veranwortet Mizgin Bilmen als Regisseurin. Die Drehbühne ist von einem kühl-metallenen Aufbau beherrscht, Treppen und Plattformen, auf denen sich das Personal mitunter etwas statisch arrangiert (Bühne: Cleo Niemeyer). Als einziges Großrequisit geht ein Flügel etwas bedeutungsschwer in die Knie. Kostüm und Maske (Alexander Djurkov Hotter) sind von sehr cleverer Stringenz, sie stellen die Figuren als gemalte oder gezeichnete Gestalten auf das Spielfeld.
Charlotte Salomon, Theater Bielefeld. Jana Schulz, Hasti Molavian. Foto: © Bettina Stöß.Letzteres wiederum setzt das Konzept der Librettistin Barbara Honigmann konsequent um. Die setzt auf eine Dopplung der malenden und erzählenden Charlotte und deren gemalten und erzählten Welt, samt alter ego: Charlotte Salomon, deren Sprechrolle von Jana Schulz ungeheuer packend auf die Bühne gebracht wird, Charlotte Kann (so der, von Salomon gewählte Name für ihren Avatar), von Hasti Molavian begnadet gesungen. Ein Handzettel bittet vor der Premiere um Verständnis, dass Molavians Stimme krankheitsbedingt indisponiert sei – keine Ahnung, wie das gesund besser hätte klingen sollen.
Videoprojektionen (Malte Jehmlich) greifen das Bildmaterial Salomons zurückhaltend auf, zum Glück ohne das Bühnengeschehen zur Illustration der Malerei zu degradieren.
Und doch, bei aller klug durchdachten und gut gemachten Regie in Bielefeld: Diese Oper setzt sehr auf eine erzählerische Präsentation von Salomons graphic novel. Eine wirksame dramatische Struktur hat sie über weite Strecken nicht, darüber kann auch Dalbavies Musik nicht flächendeckend hinweg helfen.
Das Premierenpublikum im annähernd vollbesetzten Bielefelder Stadttheater applaudiert allerdings sehr enthusiastisch. Weitere Aufführungen sind geplant für den 19. und 29. Januar, den 8. und 18. Februar sowie den 31. März 2017.
Charlotte Salomon online
Eine vernünftige Druckausgabe von Salomons Werk ist – soweit ich sehe – derzeit nicht lieferbar. Antiquarische Ausgaben kosten zwischen 200 und 300 Euro (und ich weiß nicht, ob die etwas taugen). Zum Glück hat das Joods Historisch Museum in Amsterdam, unter dessen Obhut Salomons Nachlass genommen ist, das Ding ins Netz gestellt – in einer umsichtig aufbereiteten, mit (ausbaufähigen) Kommentaren und Musikbeispielen versehenen Fassung: Leben? oder Theater?. Ich kann nur sehr wärmstens empfehlen, sich da mal durchzuklicken.
Vom Joodse Omroep, dem Jüdischen Rundfunk, gibts online beim Nederlandse Publieke Omroep die sehr emotionale, aber gleichermaßen bewegende wie informative Dokumentation von Frans Weisz zu Charlotte Salomons Leben und Werk (2012): Leven? of Theater? (und man muss nicht des Niederländischen mächtig sein, um das mit Gewinn zu gucken).
Marc-André Dalbavie: Charlotte Salomon. Oper in zwei Akten mit einem Vorspiel und einem Nachwort. Libr: Barbara Honigmann. R: Mizgin Bilmen. ML: Alexander Kalajdzic. D: Jana Schulz, Hasti Molavian, Nohad Becker, Daniel Pataky u.a. Bielefeld, Stadttheater: DE, 14. Januar 2017, 2½h m. 1 P.