Skulptur Projekte 2017 in Münster
Über Wasser und nach der Apokalypse
Noch bis 1. Oktober 2017 zeigen die 5. „Skulptur Projekte“ in Münster 35 neue Arbeiten in Sachen Gegenwartskunst. Die seit 1977 alle zehn Jahre in der westfälischen Metropole veranstaltete Schau steht zu Unrecht ein wenig im Schatten der documenta in Kassel/Athen und der Biennale in Venedig.
35 Künstler und Duos waren unter der künstlerischen Leitung von Kasper König heuer eingeladen, ortsspezifische Arbeiten zu den Münsteraner Skulptur Projekten beizutragen. Mit dabei sind eine ganze Reihe großer Namen des internationalen Kunstbetriebs: Thomas Schütte, Hito Steyerl, Gregor Schneider, Cosima von Bonin, Pierre Huyghe, Ayşe Erkmen, Jeremy Deller oder Cerith Wyn Evans etwa.
Längst nicht nur Skulpturen sind in Münster zu sehen; die Projekte umfassen auch Installationen, Multimediagedöns, Sound- und andere Environments, Interventionen, Performances, Workshop- und Dokumentationsprojekte. Genauso wenig wie auf ein Format, lassen sich die Werke auf eine thematische Vorgabe einnorden.
Zwar thematisieren viele Arbeiten Fragen des öffentlichen und privaten Raums und – naturgemäß anders als bei den letzten Projekten vor zehn Jahren – sind häufig Aspekte der Digitalisierung von einiger Bedeutung, aber hier steht jedes Werk zunächst für sich, im Dialog mit dem städtischen Raum und den Kunstverbrauchern freilich.
Die beiden spektakulärsten Arbeiten dieser 5. Auflage sind dabei sicher die zwei großformatigen Interventionen bzw. Environments von Ayşe Erkmen und von Pierre Huyghe.
Ayşe Erkmens On Water
Ayşe Erkmen (*1949 in Istanbul) lässt in ihrer Intervention On Water die Münsteraner über das Wasser ihres Stadthafens laufen. 64 Meter lang und 6,40 Meter breit ist der Steg, der Nord- und Südkai verbindet. Auf einem Gitterrost, das ca. 20 cm unter der Wasserfläche liegt und von Seecontainern getragen wird, schlendert man nassen Fußes durch das Hafenbecken. Rettungsschwimmer achten darauf, dass niemand verloren geht.
Ayşe Erkmen, On Water, © Skulptur Projekte 2017, Foto: Henning Rogge.
Natürlich gab es gerade im letzten Jahr schon einige Kunstaktionen aus der Übers-Wasser-Laufen-Abteilung. Aber verglichen mit Christos Floating Piers über den Lago d’Iseo hat Erkmens Projekt einen angenehm bodenständigeren Charakter (wegen der, auf den Hafenbeckengrund abgesenkten Seecontainer, ist das Wort hier nicht verfehlt). Und den Vorzug des Partizipatorischen hat es gegenüber Maurizio Cattelans Performance Ohne Titel. Der hatte letztes Jahr die Schweizer Sportikone Edith Wolf-Hunkeler auf einem schwimmenden Rollstuhl über den Zürisee zur Manifesta 11 geschickt.
Pierre Huyghes After ALife Ahead
Vermutlich etwas weniger Freizeitwert für die ganze Familie versprechend, aber umso komplexer ist der Beitrag von Pierre Huyghe (*1962 in Paris). Der hat in der aufgelassenen Eissporthalle im Münsteraner Norden seine postapokalyptische Landschaft After ALife Ahead eingerichtet.
Pierre Huyghe, After ALife Ahead, Skulptur Projekte 2017, Betonboden der Eishalle; Sand, Ton, Grundwasser; Bakterien, Algen, Bienen, Pfaue; Aquarium, schwarzes schaltbares Glas, Weberkegel (Conus Textile); Genetischer Algorithmus; Augmented Reality; Automatisierte Dachkonstruktion; Regen; Ammoniak;Logikspiel. Foto: Ola Rindal.
Einige Bruchstücke der Betonplatte, die vormals die Eisfläche getragen hat, sind als Plateau stehen oder liegen geblieben, der Rest ist weggebrochen und gibt ein trümmerhügeliges Biotop frei: Betonreste, Geröll, Stein, Sand, Schlamm, Pfützen. Darin etwas Unkraut, Insekten (u.a. die bei Huyghe unvermeidlichen Bienen) – angeblich soll es auch Pfauen haben, die müssen aber unpässlich gewesen sein als ich da war.
In der Mitte der Halle, auf dem Plateau, das die Überreste des Mittelkreises verwahrt, ist ein halbtransparenter, schwarzer Glaskubus abgestellt, eine Miniaturbiosphäre, vielleicht einen knappen Kubikmeter groß. Darin erkennt man schemenhaft zackenförmige Bruchstücke (die einige kunsthistorisch Beflissene an Friedrichs Kreidefelsen erinnern), ein paar Exemplare GloFish schwimmen herum.
Irgendwo soll ein Krebszellencluster wachsen. Der Zustand des Gebäudes (zumindest einer Deckenöffnung der Halle) und die Transparenz des Kubus sollen vom Zustand der Zellkulturen abhängig sein. So in etwa. Eine App kann man sich herunterladen, die gibt genaueren Aufschluss über die technisch-biologischen Feedbackschleifen des Projekts.
Michael Deans Tender Tender
Weniger spektakulär, aber keineswegs weniger spannend: Michael Dean (*1977 in Newcastle upon Tyne) bespielt mit seiner Installation Tender Tender den Lichthof im LWL-Museum. Dean war 2016 shortlisted für den Turner Prize, den wichtigsten britischen Kunstpreis, und seine Münsteraner Installation greift die menschengroßen, glyphenartigen Skulpturen auf, mit denen er den Preis knapp verpasst hat.
Michael Dean, Tender Tender, © Skulptur Projekte 2017, Foto: Henning Rogge.
Seine ziemlich witzige, filigrane und vielgestaltige Großinstallation kann man sich zu einem Liebesroman auflösen, wenn man will. Werbeaufschriften auf Einkaufsplastiktüten und achtvoll verstreute Typoskripte permutieren die Zeichenkette „ILOVEYOU“ bis zur angemessenen Sinnlosigkeit. Die Tüten enthalten nicht wenig Müll, Tatortabsperrbänder sagen „Tender Tender”, „Fucksake“, „Sorry“. „Bye Bye“ steht auf zerknüllten, roten Getränkedosen zu lesen. Ansammlungen von geballten Fäusten und zum Meineid gekreuzte Finger sind zu finden.
Hito Steyerls HellYeahWeFuckDie
Hito Steyerl (*1966 in München) hat ihre Multimediainstallation HellYeahWeFuckDie im Foyer der LBS West zwischen Promenade und der hübsch benamten Himmelreichallee untergestellt. Sie erinnert an den Ingenieur al-Dschazarī, der im 12. Jhd. „sinnreiche mechanische Vorrichtungen“, Automata, entworfen und beschrieben hat (u.a. Uhren, Brunnenwerke, Vermessungsgeräte).
Hito Steyerl, HellYeahWeFuckDie, © Skulptur Projekte 2017, Foto: Henning Rogge.
Sie verbindet das mit Bildern des heute zerstörten Diyarbakır, wo al-Dschazarī seinerzeit gewirkt hat, stellt Fragen nach der motorischen Resilienz von Robotern und ob diese nur als Kriegsgerätschaften tauglich sind oder Menschen in menschengemachten Katastrophen auch helfen werden. Mehrkanal- und Einkanalvideo, skulpturale Elemente, Leuchtschriftobjekte und architektonische Strukturen sind Mittel dieser sehr faszinierenden Installation.
Und sonst
Für den Zugang zu Gregor Schneiders N. Schmidt, Pferdegasse 19, 48143 Münster, Deutschland am LWL-Museum muss man mit erheblichen Wartezeiten rechnen, da nur je zwei Besucher gleichzeitig zugelassen werden – gut investierte Zeit. Umstandslos adoptiert haben die Münsteraner zudem Nicole Eisenmans burleskes Figurenensemble Sketch for a Fountain an der nördlichen Promenade.
Nicole Eisenman, Sketch for a fountain, © Skulptur Projekte 2017, Foto: Henning Rogge.
Nicht verpassen sollte man Hervé Youmbis Les masques célèstes, die in die Bäume auf dem stillgelegten Überwasserfriedhof gehängt sind, und Aram Bartholls hübsche Versuchsanordnungen zur thermoelektrischen Energieumwandlung an verschiedenen Standorten in der Stadt: 12 V / 5 V / 3V.
Praktisches, Finanzierung und der Katalog der Skultpur Projekte
Die Skulptur Projekte Münster finden seit 1977 alle zehn Jahre statt (parallel zu jeder zweiten documenta). Alle Spielorte der Skulptur Projekte sind kostenlos zugänglich. Der Gesamtetat der Ausstellung wird mit 7,7 Mio. Euro angegeben, im Wesentlichen aus öffentlicher Hand, gut investiertes Geld.
Der Katalog zur Ausstellung ist für spottpreiswerte 15€ zu haben (im Buchhandel für 18€), ist zweisprachig Deutsch/Englisch und umfasst 474 Seiten. Das Papier ist von Zeitungsqualität, was natürlich die Abbildungen wenig glänzen lässt, aber die Fotos zeigen die fertigen Arbeiten vor Ort; das ist bemerkenswert für einen Katalog, der zur Eröffnung vorliegt – die meisten vergleichbaren Ausstellungen (auch die documenta oder die Biennale in Venedig) kriegen das nicht hin. Jedes Werk wird mit Erläuterungen vorgestellt, die ok sind.
Die meisten Beiträge zu den Skulptur Projekten sind in der Altstadt oder nahe der Promenade gut zu Fuß zu erreichen, für einige Außenstellen ist ein Fahrrad sicher hilfreich. Will man alle Arbeiten sehen, tut man gut daran, mindestens zwei Tage für den Besuch einzuplanen (die Veranstalter empfehlen drei Tage). Unverzichtbar ist dabei die Karte der Skulptur Projekte, die für 3€ zu haben ist.
Die Karte verzeichnet auch die 38 Arbeiten, die von früheren Auflagen der Skulptur Projekte erhalten geblieben und dauerhaft im öffentlichen Raum der Stadt zu sehen sind („Öffentliche Sammlung“). Will man die beim Besuch mitnehmen, dürfen es auch noch einzwei Tage mehr sein.
Skulptur Projekte Münster. KL: Kasper König, K: Britta Peters und Marianne Wagner. Münster, 10. Juni – 1. Oktober 2017