Paul Pfeiffers Installation The Saints im Hamburger Bahnhof
Deplatzierter Spielmacher
Der amerikanische Video-, Foto- und Objektkünstler Paul Pfeiffer dekonstruiert sehr hübsch das Endspiel der Fußball-WM 1966. Seine mehrteilige Installation ist noch bis Ende März 2010 im Berliner Museum für Gegenwart / Hamburger Bahnhof zu sehen.
Videoinstallationen zum Thema Fußball, vorausgesetzt sie sind künstlerisch einigermaßen auf Ballhöhe, sind für mich eine plausible Rechtfertigung für die ansonsten etwas fragwürdige Gattung Videokunst. Vor zwei Jahren auf der Documenta 12 in Kassel jedenfalls gehörte Harun Farockis Deep Play zu den kurzweiligsten Exponaten: auf zwölf Monitoren das WM-Finale 2006, verschiedene Kameraperspektiven des Spiels synchron zu taktischen Analysen als 3D-Grafik, Laufwegdiagrammen, Aufnahmen von Überwachungskameras, Pressroomviews etc. Ich glaube, es gab Leute, die sich das Ding auf der Documenta in Spielzeitlänge angeguckt haben.
Die Mutter aller Endspiele
Paul Pfeiffer, Jahrgang 1966, ist dagegen eher im Wortsinne analytisch unterwegs, wenn er sich der Mutter aller Endspiele annimmt, also England gegen Deutschland im Londoner Wembley-Stadium, das die deutsche Elf ja im Prinzip gewonnen hat, aber darum geht es Pfeiffer naturgemäß nicht.
In einem Vorraum trifft man zunächst auf ein großformatiges (586 x 472 x 240 cm), abstraktes Modell eines Stadions aus Mehrschichtbirkenfurnier: der Schnitt eines Zuschauerovals, ganz in weiß, begrenzt von zwei Spiegelglaswänden. Nutzt man das beigestellte Podest, um über die Rand der Ränge zu schauen, ergänzen die Spiegel das Teiloval zum Stadionrund und der Betrachter sieht sich selbst als Riese reflektiert. Von nebenan hört man derweil den Sound der Zuschauermassen.
Der Soundtrack der Zehntausende
Dieser Sound dröhnt aus zwölf Lautsprechern, die an die Wände eines großen, leeren Raums montiert sind, einer Ausstellungshalle, beinahe 500 qm, in der man, eben noch als Riese, jetzt recht klein und alleine unterwegs ist im Klang der Zehntausende. Die skandieren England, England, das titelgebende When the Saints Go Marchin In, Applaus, Pfiffe, Raunen, der Soundtrack eines Fußballspiels halt.
An der rückwärtigen Wand hängt wie verloren – so verloren, wie der Besucher in der Klangkulisse – ein nicht mal handtellergroßer LCD-Monitor: Szenen des Spiels in Halbtotale, auf denen nur ein Spieler der englischen Mannschaft zu sehen ist, kein Ball, keine Mitspieler, keine Gegner. Mitunter sieht man Schlieren, die die Retouche hinterlassen hat. Der Spieler, ich weiß nicht, wer es ist, könnte Charlton sein, läuft so sinnfrei in der Tiefe des Raumes hin und her, fängt plötzlich an zu spurten, bricht ab, winkt ab, orientiert sich neu, isoliert von allem, das seinem Tun Grund geben würde. Ich fühle mich ihm sehr verwandt.
Pfeiffer experimentiert seit langem mit der Methode, historisches Bild- und Filmmaterial durch Retouche ihres Inhalts zu berauben. 2004 war in der Rheinprovinz, im Düsseldorfer K21, im Rahmen einer Pfeiffer-Ausstellung etwa bereits eine Installation mit boxerbefreiten Kämpfen Muhammad Alis zu sehen.
Philippinisches Reenactment
Jenseits dieser Wand liegt ein Raum im Halbdunkel mit zwei Videoprojektionen, die die Deplatzierung des Spiels weiter treiben. Rechts, schwarzweiß, Originalaufnahmen aus 1966: Zuschauer, die ins Stadion strömen, die Hymnen, das Spiel. Für den Film links daneben, in Farbe, hat Pfeiffer, selbst aufgewachsen auf den Philippinen, hunderte Filipinos engagiert (inklusive Blaskapelle für die Hymnen), die mit großem Hallo die seinerzeitigen Zuschauer in einem Kino in Manila nachspielen. Ist jetzt der Soundtrack, der auch in diesen Raum hinüberdröhnt, das Original oder die philippinische Rekonstruktion? Wer weiß. Tore sind manchmal auch keine Tore.
Paul Pfeiffer: The Saints. Berlin, Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart. 10.10.09 – 28.03.10.