Kulturraum NRW


Die Manifesta 15 in Barcelona Metropolitana – 2. Teil

Heilung und Fürsorge

Noch bis 24. November 2024 kann man mit der 15. „Europäischen Nomadischen Biennale“ die Metropolregion Barcelona erkunden. Der 2. Teil einer Inaugenscheinnahme.

Kloster Sant Cugat, Sant Cugat del Vallès. Foto © Manifesta 15 Barcelona Metropolitana / Helena Roig
Kloster Sant Cugat, Sant Cugat del Vallès. Foto © Manifesta 15 Barcelona Metropolitana / Helena Roig.

Man kann ja gar nicht daran vorbei­schauen, dass die Welt der Heilung und die Menschen vermehrter Für­sorge bedürfen. „Cure and Care“ ist das Label des dritten Themen­clusters der Manifesta 15, dessen Spiel­stätten sich über vier Städte nörd­lich von Barce­lona verteilen.

Das mächtige Benediktiner­kloster von Sant Cugat del Vallès beher­bergt als Haupt­standort des Clusters im Kreuz­gang und Kreuzgang­hof skulp­turale und tex­tile Arbeiten, darunter eine ebenso motiv­reiche wie monumen­tale, fast zehn Meter breite Tapis­serie der nieder­ländischen Künst­lerin Fanja Bouts (*1997), die in einer satirischen Karto­grafie von den Kata­strophen der Gegen­wart und der Zukunft erzählt.

Spannender noch ist ein Raum im Ober­geschoss des Monestir de Sant Cugat mit u.a. Judy Chicagos (*1939), mittler­weile für die femi­nistische Kunst ikonisch gewordenen Foto­arbeit Immolation IV (1972) und einem starken Wasser­farben-Tripty­chon von Marianna Simnett (*1986): Banquet (2022).

Banquet, 2022 © Marianna Simnett. Foto © Mani­festa 15 Barce­lona Metro­politana / Cecília Coca
Banquet, 2022 © Marianna Simnett. Foto © Mani­festa 15 Barce­lona Metro­politana / Cecília Coca.

Von der amerikanischen Film­künstlerin Wu Tsang (*1982) ist ein Kurz­video vor Ort (Girl Talk, 2015), aber da nimmt man besser ihre sehr faszinierende, jüngste Video­arbeit mit: La gran mentira de la muerte (2024), die (aller­dings nur bis 3. November 2024) in der Kapelle des Museu d’Art Contempo­rani de Barce­lona (MACBA) zu sehen, wenn­gleich nicht Teil der Mani­festa ist.

Am Bischofssitz von Ègara

Als Spielstätte mindestens ebenso eindrucks­voll wie das Kloster von Sant Cugat ist die Seu d’Ègara in der 14 km weiter nord­östlich gelegenen Groß­stadt Terrassa.

Am ehemaligen Sitz der Bischöfe von Ègara (heute nurmehr Titular­bistum) mit seinem Komplex von drei Kirchen ist u.a. in der kleinen Begräbnis­kapelle Sant Miquel ein hin­reißendes Ensemble von plastischen Arbeiten insze­niert.

Von der senagalesischen Bild­hauerin Seyni Awa Camara (*1945) sind drei, je ein Meter hohe Ton­skulp­turen (2010-2017) in die Fenster­nischen der Apsis gestellt. Die sur­realen, traum- und auch albtraum­artig ver­dichtend von Mutter­schaft erzählen­den Arbeiten sollen, so behauptet eine Erklär­tafel der Mani­festa, „die Welt der Geister“ mit Camaras „Visionen einer freud­vollen, geheilten, lebens­bejahenden Zukunft“ in Ver­bindung setzen. Nun ja.

Installations­ansicht, 2024 © Seyni Awa Camara / Isaziso, 1996/2024 © Buhle­bezwe Siwani. Fotos © Mani­festa 15 Barce­lona Metropo­litana / Cecília Coca
Installations­ansicht, 2024 © Seyni Awa Camara / Isaziso, 1996/2024 © Buhle­bezwe Siwani. Fotos © Mani­festa 15 Barce­lona Metropo­litana / Cecília Coca.

Gleich nebenan, im Haupt­raum der­selben Kapelle, hat die süd­afrika­nische Künst­lerin Buhle­bezwe Siwani (*1987) eine auto­biographische, matri­lineare Familien­aufstellung über fünf Genera­tionen hinweg instal­liert. Die anrührende Figuren­gruppe ist in der grünen „Sunlight“-Universal­seife modelliert, von der die Künst­lerin sagt, sie sei im Haus­halt ihrer Kind­heit all­gegen­wärtig gewesen.

De Andrade in Sabadell

Für die beste Video­arbeit dieser Mani­festa muss man sich von Terrassa aus in die, kaum 10 km ent­fernte Nachbar­stadt Sabadell aufmachen, genauer in die jetzt museali­sierte Kraft­zentrale einer ehe­maligen Textil­fabrik (Vapor Buxeda Vell) im „katala­nischen Man­chester“ des 19. Jahr­hunderts.

Dort läuft u.a. Jonathas de Andrades Olho da Rua (2022). Der brasi­lianische Multimedia­künstler (*1982) hat – in Anlehnung an Augusto Boals Methode des „Theaters der Unter­drückten“ – 100 obdach­lose Laien­darsteller:innen gefilmt, die in Recife ein Fest der Straße und des offenen Worts inszenieren.

Olho da Rua (Out Loud), 2022 © Jonathas de Andrade. Foto © Mani­festa 15 Barce­lona Metropo­litana / Cecília Coca
Olho da Rua (Out Loud), 2022 © Jonathas de Andrade. Foto © Mani­festa 15 Barce­lona Metropo­litana / Cecília Coca.

Granollers

Etwas zeitraubend, aber keines­falls verzicht­bar ist schließ­lich die Fahrt nach Granollers, eine ansons­ten nicht sonder­lich ansehn­liche, industrie­geprägte Mittel­stadt etwa 30 km nordwest­lich von Barce­lona.

Im Kabinett des Naturkunde­museums (Museu de Ciències Naturals) hat die in Barce­lona lebende Bild­hauerin Eva Chettle (*1987) zwölf ihrer Chimeras (2012-2023) zwischen die natur­kundlichen Exponate geschmug­gelt.

Sehr hübsche bis skurrile, filigran gearbeitete, kleine bis mittel­große Präparate sind das von erfundenen oder noch nicht gefundenen Spezies, geformt aus Tier­knochen und -zähnen, Muscheln, aller­lei anderen organischen Materia­lien, aber auch Eisen.

Installationsansicht, 2024 (Pérez, 2023) © Eva Chettle. Foto © Mani­festa 15 Barce­lona Metropo­litana / Helena Roig
Installationsansicht, 2024 (Pérez, 2023) © Eva Chettle. Foto © Mani­festa 15 Barce­lona Metropo­litana / Helena Roig.

Im Garten des Naturkunde­museums läuft ein weiterer Film von Jonathas de Andrade, aber ich will lieber hin­weisen auf eine Sound­installation des fran­zösischen Klang­künstlers Félix Blume (*1984) an anderer Stelle.

In der berühm­testen Sehens­würdigkeit der Stadt, der Porxada, einer offenen Markt­halle aus der Renais­sance, lässt Blume aus 500 Klein­lautsprechern das Summen von Bienen auf die Besucher:innen herab­schallen und macht sie zum Mit­glied des Schwarms.

Blumes Essaim (2021-2024) mag man nicht nur als im­mersive Ein­übung in ein vernünf­tiges Zusammen­leben mit den zunehmend bedrohten Insekten nehmen, sondern auch als Erinnerung an ein brutales Bombarde­ment der Stadt 1938 durch Luft­verbände des faschis­tischen Italiens im Spanischen Bürger­krieg (nur des Sounds wegen, ansonsten sind die Bienen natur­gemäß gänz­lich jeder Schuld unver­dächtig).

Aber, abschließend, ganz was anderes: Das Kraftwerk­haus der ehe­maligen Textil- und heutigen Kultur­fabrik Roca Umbert bespielt die in Kata­lonien lebende Künst­lerin und „creative coder“ Alba G. Corral (*1977) mit einer zwölf­minütigen Multimedia­show.

Les Petites Coses (The Small Things), 2024 © Alba G. Corral. Foto © Mani­festa 15 Barce­lona Metropo­litana / Cecília Coca
Les Petites Coses (The Small Things), 2024 © Alba G. Corral. Foto © Mani­festa 15 Barce­lona Metropo­litana / Cecília Coca.

Les Petites Coses (2024) sei inspiriert von „der Resi­lienz werk­tätiger Frauen“ und reflek­tiere auf „die kleinen und doch wesent­lichen Details, die oft unbe­merkt bleiben, und, in vielen Fällen, das Öko­system der Für­sorge tragen“, heißt es in den – wie öfter mal – etwas blumigen Erläu­terungen der Mani­festa.

Egal, Corrals computer­animierte Projek­tionen – diffun­dierende Farb­flächen, abstrakte visuelle Motive, feuerwerks­artige Erup­tionen, bis hin zu bio­morphen Bildern – hat gerade im Setting des Kraft­werk­hauses mit seinem Steampunk-Charme eine sehr ein­nehmende Wirkung.

Und in Barcelona selbst?

In Barcelona selbst beschränkt sich die Mani­festa auf einen Ausstellungs­ort in der Neu­stadt (Eixample). Im ehe­maligen Verlags­haus Gustavo Gili liegt der Fokus auf Recherche- und Dokumentations­projekten, die sich mit der jüngeren Geschichte sowie der Gegen­wart der Stadt und des Landes ausein­ander­setzen.

Alternative Schulkonzepte und radikale Päda­gogik im Kata­lonien des 20. Jahr­hunderts, ästhe­tische und poli­tische Praxis des Wider­stands im Barce­lona des 19. bis 21. Jahr­hunderts sowie die Geschichte von BPoC-Communities in der kata­lanischen Metro­pole sind die Themen dieser umfang­reichen Archiv­präsentationen.

Escola de Passats, Installations­ansicht 2024 © Germán Labrador Méndez. Foto © Mani­festa 15 Barce­lona Metropo­litana / Ivan Erofeev
Escola de Passats, Installations­ansicht 2024 © Germán Labrador Méndez. Foto © Mani­festa 15 Barce­lona Metropo­litana / Ivan Erofeev.

Man muss etwas Geduld und sehr viel Inter­esse an der Region mit­bringen, idealer­weise auch ein biss­chen Kennt­nis des Kata­lanischen, um sich als aus­wärtige:r Besucher:in hier einen mehr als nur ober­flächlichen Ein­druck zu ver­schaffen.

Manifesta 15 (und 16)

Das Ziel der Manifesta ist es, vornehm­lich ein regionales Publi­kum anzu­sprechen. Rund 200.000 Be­sucher:innen sollen es werden – zu 80% aus Barce­lona und Umgebung, 20% inter­nationale Be­sucher:innen, so der Plan. Von den mehr als 90 aus­stellenden Künst­ler:innen sind zwei Fünf­tel aus der Region.

In zwei Jahren, 2026, gastiert die Mani­festa (16) im Ruhr­gebiet und will dabei „die Aus­wirkungen der globalen Logis­tik, neuen Handels­wege, digi­talen Ökono­mien und ver­änderten Arbeits­bedingungen“ in den Blick nehmen.

Praktische Hinweise

Das Guidebook der Manifesta 15 rät Besuch­er:innen, die nur „ein paar Tage“ vor Ort sind, „dring­lich“ zum Miet­wagen, um so viele Veranstaltungs­orte wie mög­lich besuchen zu können. Das ist Quatsch.

Die allermeisten Spielstätten der Manifesta im Groß­raum Barce­lona sind mit der Metro oder den Rodalies-Regional­zügen gut bis sehr gut und recht schnell zu erreichen. Die Metro funktio­niert hervor­ragend, Rodalies nicht immer. Aber der Ver­gleich mit der Zuverlässig­keit des ÖPNV in NRW fällt sehr ein­deutig zugunsten Kata­loniens aus. Nur das Zonen­system für die Tickets ist etwas kompli­ziert, natur­gemäß deut­lich kompli­zierter als das Deutsch­land-Ticket, da ist eine Nach­frage vor Ort immer hilf­reich.

Manifesta 15: Werbefahnen an Lampen­mast auf der Strand­promenade von Bada­lona. Foto: jvf
Manifesta 15: Werbefahnen an Lampen­mast auf der Strand­promenade von Bada­lona. Foto: jvf.

Etwas schwierig allerdings ist die Anfahrt zur Casa Gomis. Hier ist viel­leicht das Taxi die bessere Alter­native zu etwas unübersicht­lichen Bus­verbindungen, zumal für den Besuch der doch beengten Räum­lich­keiten in der Casa ein Time­slot vorab gebucht werden muss (dessen Ein­haltung kann mit einer Bus­anfahrt spannend werden).

Den Besuch in Granollers sollte man auf einen Tag mit gutem Wetter legen, da hier einiges draußen statt­findet. Obacht!, das Wetter oben in Granollers kann deut­lich ungemüt­licher sein als das Wetter unten in Barce­lona.

Auf den Karten und im Guide­book der Mani­festa ist für die Platja del Coco in Bada­lona eine weitere Sound­installation von Félix Blume ausge­wiesen, die es – zumindest in der Eröffnungs­woche – nicht gab (der Spazier­gang an der Strand­promenade von Bada­lona war aber trotz­dem nett).

Eine gewisse planerische Heraus­forderung für den Besuch der Manifesta 15 sind die Öffnungs­zeiten der meisten Neben­spielstätten, die wochen­tags nur von 16-20 Uhr geöffnet sind. Ins­gesamt rate ich, keines­falls weniger als drei Tage für den Besuch einzu­planen (mit zwei Wochenend­tagen), und auch das wird kaum reichen, um sich alle Spiel­stätten in Ruhe anzuschauen (egal ob mit Miet­wagen oder ÖPNV).

Hat man nur einen Vor­mittag oder Nach­mittag Zeit, ist Les Tres Xemeneies in Sant Adrìa de Besòs die beste Wahl. Das äußerst spar­same Eintritts­geld von 15 € für die Mani­festa (für alle Spiel­orte über die gesamte Lauf­zeit gültig) lohnt sich unein­geschränkt selbst nur für diese eine Spiel­stätte.

Manifesta 15 Barcelona Metropolitana, 2024. European Nomadic Biennial. 8. September bis 24. November 2024.