Kulturraum NRW


Die Manifesta 15 in Barcelona Metropolitana – 1. Teil

Zukünfte und Konflikte

Noch bis 24. November 2024 kann man mit der 15. „Europäischen Nomadischen Biennale“ die Metropolregion Barcelona erkunden. Der 1. Teil einer Inaugenscheinnahme.

Eine Spielstätte der Manifesta 15: Sant Adrià de Besòs, Tres Xemeneies. © Manifesta 15 Barcelona / Eva Carasol
Eine Spielstätte der Manifesta 15: Sant Adrià de Besòs, Tres Xemeneies. © Manifesta 15 Barcelona / Eva Carasol.

Es ist eine Manifesta der langen Wege. Deut­lich mehr als 200 km wäre man schon unter­wegs, wollte man alle 15 Loca­tions in den 11 Städten im Groß­raum Barce­lona mit­nehmen, die die „nomadische“ Bien­nale mit Kunst bespielt.

Zwar versteht sich die – seit 1996 durch Europa reisende Manifesta – seit langem nicht mehr als Biennale für Gegenwarts­kunst, sondern viel­mehr als „inter­disziplinäre Platt­form des koopera­tiven schöpferischen Handelns, die künst­lerische Kreativi­tät und soziales Engage­ment für den sozialen, urbanen und kultu­rellen Wandel in sich ver­eint“ – so heißt es im Policy Plan der Mani­festa von 2021.

Aber zu sehen gibt es für den aus­wärtigen Besucher immer­hin Arbeiten von mehr als 90 Künst­ler:innen und Kollek­tiven. Was also gilt es nicht zu ver­passen?

In der Kraftzentrale

Vielleicht fängt man am besten in den Über­resten des brutalis­tischen Wärme­kraft­werks in Sant Adrìa de Besòs an. Das 2011 still­gelegte Werk, wegen seiner drei gewal­tigen – rund 200 Meter hohen – Schorn­steine Les Tres Xemeneies genannt, macht die Spiel­fläche für einige monumentale Arbeiten dieser Manifesta.

Draußen hat der nieder­ländische Architekt und Künstler Niels Albers (*1983) eine 67 Meter große, begeh­bare Holz­konstruktion abgestellt: Wings (X-205) (2024) steht für den Flügel­schlag der titel­gebenden 205 Zugvögel­arten, auf deren Migrations­route Barce­lona liegt.

Urchins, 2024 © CHOI+SHINE Architects. Foto © Manifesta 15 Barcelona Metropolitana / Ivan Erofeev
Urchins, 2024 © CHOI+SHINE Architects. Foto © Manifesta 15 Barcelona Metropolitana / Ivan Erofeev.

Nebenan, ebenfalls im Außen­bereich, hat das ameri­kanische Kunst- und Design­studio CHOI+SHINE ARCHITECTS zwei 9½ × 5½ m große, an See­igel erinnernde Stahl­skelette instal­liert und mit einer Epi­dermis aus Tauwerk­geflecht im Design von kata­lanischen Spitzen versehen: Urchins (2004).

Von noch größerer, eleganter Leicht­füßig­keit ist drinnen in der gigantischen Turbinen­halle des ehe­maligen Kraft­werks die wahr­schein­lich schönste Arbeit dieser Mani­festa, Asad Razas (*1974 in den USA, lebt in Berlin) Instal­lation Prehen­sion (2024). 22 große, weiß-transparente Stoff­bahnen sind das, die von der Hallen­decke hängen und vom ein­fallenden Meer­wind choreo­grafiert werden.

Prehension, 2024 © Asad Raza. Foto © Manifesta 15 Barcelona Metropolitana / Ivan Erofeev
Prehension, 2024 © Asad Raza. Foto © Manifesta 15 Barcelona Metropolitana / Ivan Erofeev.

Auf der eher düsteren Seite der Dinge unter­wegs ist der in Barcelona ansässige Multimedia­künstler Carlos Bunga (*1976 in Porto) mit seiner packenden Instal­lation La irrupción de lo impre­decible (2024).

Auf dem, mit gift­gelber Farbe über­zogenen Boden sind Äste, Stein­brocken und unbestimm­bare Arte­fakte verstreut. Über dieser post­apokalyptischen Szenerie hängen kokon­artige, große Objekte, die für einen Prozess der Meta­morphose stehen mögen, aber wenig Zu­versicht wecken, sondern die man eher als Schule einer etwas bedroh­lichen Unvorher­sehbarkeit nehmen kann.

Als Kontra­punkt dazu, im Sinne einer Mach­barkeit im Ein­klang und in Zusammen­arbeit mit der Natur, mag man gleich nebenan die bio­technische Kunst der in Amster­dam lebenden Diana Scherer (*1971) ver­stehen.

Ihre 14 × 3 m große, teppich­artige Skulptur Yield (2024) lässt Erde, Gras und Wurzel­werk zu Mustern wachsen, die an gespiegelte oder sich zu­gewandte Rück­grate erinnern.

Yield, 2024 © Diana Scherer / La irrupción de lo impredecible, 2024 © Carlos Bunga, Vegap, Barcelona 2024. Fotos © Manifesta 15 Barcelona Metropolitana / Ivan Erofeev
Yield, 2024 © Diana Scherer / La irrupción de lo impredecible, 2024 © Carlos Bunga, Vegap, Barcelona 2024. Fotos © Manifesta 15 Barcelona Metropolitana / Ivan Erofeev.

Zukunftsvorstellungen und das Gefängnis von Mataró

Der Standort Les Tres Xemeneies ist als Haupt­standort eines Themen­clusters „Zukunfts­vorstellungen“ (Imaginant futurs) aus­gewiesen – einer von drei Clustern, die nach dem kura­torischen Konzept der Manifesta 15 das Ausstellungs­geschehen thematisch und auch geo­grafisch struk­turieren sollen. Ob diese Struktu­rierung so richtig gelungen ist, will ich mal dahin­gestellt sein lassen.

Jedenfalls gehören zu diesem Themen­cluster noch weitere Loca­tions. Ich rate dazu, das M|A|C Presó, das vormalige Gefäng­nis von Mataró, nicht zu verpassen. Mataró liegt gut 20 km die Küste weiter hinauf, 25 Bahn­minuten von Sant Adrìa de Besòs entfernt.

Noch bis 1967 (also noch zu Zeiten des faschis­tischen Franco-Regimes in Spanien) wurde der nach Ideen des englischen Philo­sophen und Juristen Jeremy Bentham 1863 als Pan­optikum errich­tete Bau als Gefäng­nis genutzt, heute als Zentrum für Gegenwarts­kunst.

Das architektonische Modell des Pan­optikums, das es einem einzigen Auf­seher ermög­lichen sollte, alle Häft­linge gleich­zeitig zu über­wachen, ist später vom fran­zösischen Philo­sophen Michel Foucault als Symbol moderner „Disziplinar­gesellschaften“ aus­gedeutet worden.

A Century of European Architecture, 2024 © Domènec. Foto © Manifesta 15 Barcelona Metropolitana / Ivan Erofeev
A Century of European Architecture, 2024 © Domènec. Foto © Manifesta 15 Barcelona Metropolitana / Ivan Erofeev.

Diese Architektur nimmt der kata­lanische Künst­ler Domènec (*1962 ebenda in Matarò) zum Ausgangs­punkt für sein Recherche­projekt und eine umfas­sende Multimedia-Installation: A Century of European Archi­tecture (2024).

Unter der Leitfrage, ob das (Konzentrations-)Lager der bestimmende archi­tektonische Typus des 20. Jahr­hunderts sei, erkunden Modelle und Aluminium­prints von Grund­rissen sowie foto­grafisches Material Topo­graphien des Lagers, ange­fangen mit einem britischen POW-Camp des 1. Welt­kriegs über die Konzentrations­lager des Faschismus (u.a. Maut­hausen) bis hin zum Flüchtlings­lager in Moria. Dass diese Reihung eine Menge kontro­verser Fragen auf­macht, kann man nicht über­sehen.

Während die, in den ehe­maligen Zellen des Gefäng­nisses zu sehenden Video­arbeiten nicht wirk­lich über­zeugen können, hat Eva Fàbregas (*1988 in Barcelona) sehr faszi­nierende skulp­turale Inter­ventionen im ganzen Haus inszeniert. Ihre Exudates (2024) aus Latex, Poly­propylen und Luft tropfen von den Decken, aus den Rissen im Mauer­werk, aus Durch­brüchen und Fenstern des Baus.

Exudates, 2024 © Eva Fàbregas. Foto © Manifesta 15 Barcelona Metropolitana / Ivan Erofeev
Exudates, 2024 © Eva Fàbregas. Foto © Manifesta 15 Barcelona Metropolitana / Ivan Erofeev.

„Als Exsudat bezeichnet man in der Medizin (meist entzünd­lich bedingte) Ab­sonderungen“, weiß Wiki­pedia – und dass bei Wunden geronnenes Exsudat als Teil der Wund­heilung eine Kruste (Wund­schorf) bilde. Es wird noch dauern bis die Wunden, die der Gefängnis­bau gerissen hat, abge­heilt sind.

Mehr von Fàbregas’ Arbeiten, dort auf der eher eroti­schen Seite der Sinn­lich­keit, kann man übri­gens in einem eigenen Raum in Barce­lonas Museu d’Art Contempo­rani (MACBA) sehen.

Konflikte vermitteln: Die Casa Gomis

Eingeklemmt zwischen Flug­hafen und Mittel­meer, südlich von Barce­lona, liegt in El Prat de Llobre­gat Park und Villa der Casa Gomis: Die Haupt­spielstätte des Clusters „Konflikte ver­mitteln“ (Equilibrant conflictes).

Die Villa wurde zwischen 1957 und 1963 nach Plänen des Archi­tekten und Designers Antoni Bonet i Castel­lana im Stil des kata­lanischen Ratio­na­lis­mus für die Familie Gomis Ber­trand erbaut.

Casa Gomis, El Prat de Llobregat. Foto © Nomad Studio
Casa Gomis, El Prat de Llobregat. Foto © Nomad Studio.

Der Wochenend- und Ferien­sitz der Familie wurde in den späten Jahren der Franco-Diktatur aber auch ein wichtiger Treff­punkt von oppositio­nellen Intellektuellen und Künst­ler:innen. U.a. zwei Lithografien von Antoni Tàpies (1923-2012), der häufiger Gast im Haus war, erinnern daran: Grand A et rouge (1975).

Wenn man durch die lichten und berückend schönen, von Glas und Keramik umfassten Räumlich­keiten der Villa schlendert, vergisst man ganz den Lärm der bei­nahe im minüt­lichen Takt startenden Flug­zeuge – die Start­bahn ist kaum 500 m ent­fernt.

Die meist klein­formatige Kunst ist über­wiegend wie bei­läufig in die Wohn­räume ver­teilt – viele histori­sche Rück­griffe sind dabei – und ergänzt die Familien­sammlung, darunter z.B. im Ess­zimmer eine wunder­bare Textil­arbeit von Magda Bolumar Chertó (*1936): Xarpellera for La Ricarda (1966).

Besonders auffällig sind vier starke und skur­rile Kohle­zeichnungen, Es geht um die Frisur (2023), von der Schweizer Malerin und Grafikerin Annette Barcelo (*1943).

Es geht um die Frisur, 2023 © Annette Barcelo. Foto © Manifesta 15 Barcelona Metro­politana / Ivan Erofeev
Es geht um die Frisur, 2023 © Annette Barcelo. Foto © Manifesta 15 Barcelona Metro­politana / Ivan Erofeev.

Nebenan läuft ein Kurz­video des rumänischen Duos Anca Benera & Arnold Estefan (*1977 / *1978). In No Shelter From the Storm (2015) wandern die Künst­ler:innen durch eine zer­störte Wald­landschaft in den Kar­paten, Pete Seegers „Where Have All the Flowers Gone?“ pfeifend. Und draußen im Garten hat Elmo Vermijs (*1982 in Tilburg) ein Parlia­ment of Trees (2022-24) errichtet, das erkundet, wie die Natur durch An­erkennung als Rechts­subjekt ge­schützt werden kann.

Unterdessen sind die Anlagen der Casa Gomis und das angren­zende Bio­top unmittel­bar von Erweiterungs­plänen des Flug­hafens Barcelona-El Prat bedroht. Spanische Zeitungen melden jüngst, dass der neue Minister­präsident Kata­loniens, der Sozia­list Salvador Illa, seit Anfang August 2024 im Amt, dem Aus­bau des Flug­hafens nun­mehr Priorität einräume.

Manifesta 15 Barcelona Metropolitana, 2024. European Nomadic Biennial. 8. September bis 24. November 2024.