Kulturraum NRW


Ai Weiwei pflanzt Sunflower Seeds in der Londoner Tate Modern

Am Sonnenblumenkernschalenstrand

Das ist eine ganz wunderbare Verbindung aus sozialer Skulptur, spaßbringender Intervention und politischem Kunstwerk: Der chinesische Konzeptkünstler Ai Weiwei füllt das hintere Drittel der Turbinenhalle in der Londoner Tate Modern mit einem Teppich aus Porzellanimitaten von Sonnenblumenkernschalen.

Das dürfte etwa ein halbes Fußballfeld groß sein, etwas weniger vielleicht. Achtneun Zentimeter hoch sind die kleinen Porzellandingens aufgeschüttet, die halt aussehen wie ungeöffnete Sonnenblumenkernschalen. Geht man darüber, knirscht es wie an einem Kieselstrand und genauso wie am Strand graben sich Kinder ein, bis nur noch ihre Köpfe heraus ragen. Menschen legen sich hin, ruhen aus, gucken, oder setzen sich und essen ein Sandwich, andere gehen spazieren, gucken, machen Fotos, nehmen eine Handvoll der Dingens auf und lassen sie durch die Finger rieseln (Fotos gibt es auf der Website der Tate Gallery).

Es heißt, dass das mehr als einhundert Millionen Imitate sind, gefertigt und handbemalt in der, für ihre Porzellanproduktion berühmten, südchinesischen Stadt Jingdezhen. Made in China also: ein Film zeigt anbei die Produktion der Teile und erklärt auch, dass die Sonnenblume ein gängiges Motiv in der Ikonographie des maoistischen Personenkults war: der Große Vorsitzende als strahlende Sonne, sein Volk als Heer der Sonnenblumen, die sich ihm in Liebe zuneigen.

Also was jetzt? Gehe ich auf diesem Feld über die Opfer der Kulturrevolution und des „Großen Sprungs nach Vorne“ hinweg und trete dabei noch die Tradition der chinesische Porzellanmanufaktur mit Füßen? Und bin ich als einer von den Vielen, die in den nächsten Monaten über das Feld gehen werden, nicht anders als einer dieser Dingens: ein handbemaltes Unikat zwar, das indes in den Millionen verschwindet, ununterscheidbar? Und ein Imitat obendrein?

Die Installation wird begleitet von einem Gesprächsangebot: in mehreren Verrichtungsboxen kann man per Video Fragen stellen oder Antworten geben, die auf der Website der Tate Gallery veröffentlicht werden und auf die Ai Weiwei im Wochenrhythmus zu reagieren verspricht.

Ai Weiwei ist der elfte Künstler, der im Rahmen der Unilever Series seit 2000 – seit der Eröffnung der Tate Modern Gallery – mit einem Auftragswerk in der Turbinenhalle unterwegs ist. Die Sunflower Seeds sind dort noch bis Anfang Mai 2011 zu sehen und zu begehen.

Update: Wie Tate Modern am Freitag (18. Oktober 2010) verlauten ließ, ist das Feld derzeit nicht mehr begehbar:

Although porcelain is very robust, we have been advised that the interaction of visitors with the sculpture can cause dust which could be damaging to health following repeated inhalation over a long period of time. In consequence, Tate, in consultation with the artist, has decided not to allow members of the public to walk across the sculpture.

Das nimmt dem Feld natürlich die Dimension einer sozialen Skulptur und den Spaßfaktor.

The Unilever Series: Ai Weiwei. London, Tate Modern, Turbine Hall, 12. Oktober 2010 – 2. Mai 2011.