Anselm Kiefer und Van Gogh – Ausstellung in Amsterdam
„Sag mir, wo die Blumen sind“
Noch bis Anfang Juni 2025 zeigen das Van Gogh Museum und das Stedelijk Museum in Amsterdam Anselm Kiefer in den Fußstapfen von Vincent van Gogh: Das ist beeindruckend bis überwältigend.

Anselm Kiefer, Sag mir wo die Blumen sind (Detail), 2024, Emulsion, Öl, Acryl, Schellack, Blattgold, Elektrolyse-Sediment, Ton, getrocknete Blumen, Stroh, Textilien, Stahl, Holzkohle und Collage aus Leinwand auf Leinwand. Copyright: Anselm Kiefer. Foto: Atelier Anselm Kiefer.
Im Sommer 1963 wird der Rastatter Gymnasiast Anselm Kiefer (*1945 in Donaueschingen) für ein Reisestipendium der Conference of Internationally-minded Schools (CIS) ausgewählt. Das geförderte Projekt: Eine Reise auf den Spuren Vincent van Goghs, von dessen Geburtsort, Zundert in den Niederlanden, bis nach Südfrankreich.
Die Fördersumme beträgt ausgesprochen schmale 250 DM (das wären heute kaum mehr als 600 Euro). Der Achtzehnjährige ist deshalb auf der vierwöchigen Tour per Anhalter unterwegs – damals lässt sich das mit dem reformpädagogischen Impetus des Stipendiengebers noch vereinbaren.
Malen mit trotziger Entschlossenheit
Mehr als 300 Zeichnungen fertigt Kiefer seinerzeit als Teil der Reisedokumentation an. Dreizehn davon hat das Van Gogh Museum jetzt vor Ort, Portraits, Landschaften. Sie lassen nicht wirklich die spätere Künstlerkarriere vorausahnen. Kiefer sagt im Rückblick über van Gogh, der sei als Maler nicht begnadet gewesen, habe aber allen Widrigkeiten getrotzt und niemals aufgegeben:
Diese trotzige Entschlossenheit, das Unmögliche nicht nur zu versuchen, sondern zu erzwingen, war es, was mich zu dem Künstler hinzog und bis heute anzieht.

Anselm Kiefer, Untitled / Untitled (1963), Zeichenkohle auf Papier / Graphit und Kugelschreiber auf Papier, 34.50 x 22.50 cm / 17 x 22 cm. Sammlung des Künstlers, courtesy White Cube, © Anselm Kiefer. Foto: Georges Poncet.
Für die Dokumentation seiner Reise sammelt Kiefer als erster deutscher Schüler den Jean-Walter-Preis der CIS-Stiftung ein. Der SWR berichtet damals über den ausgezeichneten Abiturienten. Der Beitrag ist in der Ausstellung zu sehen und ist auch in der ARD Mediathek abrufbar.
Der Jugendliche, sehr ordentlich im hellen Pullover, gestärktem Hemdkragen und Krawatte, blickt etwas enerviert umher, während der Schuldirektor sich seines Erfolgsschülers in die Kamera brüstet. Wenn man will, kann man einige „trotzige Entschlossenheit“ in die Haltung und den Blick des jungen Anselm Kiefers hineinlesen (der im Beitrag nicht zu Wort kommt).
Versinke denn! Ich könnt’ auch sagen: steige! ’s ist einerlei
Ganz am Ende der Amsterdamer Schau gibt es nochmal ein Kindheitsbild. In der erstmals gezeigten Installation Steigend, steigend sinke nieder (2024, den an Goethes Faust II anspielenden Titel hat Kiefer auch für frühere Werke schon verwendet) hängt ein Geflecht von bleiernen Bildspuren von der Decke, bedruckt mit Fotoserien, Architekturfotos, Touristisches, Menschen.
In diesen chaotischen und unzugänglichen Erinnerungspalast sind – wenn ich recht gezählt habe – sieben Vitrinen eingelassen. Eine davon zeigt ein Foto des noch sehr jungen Anselm, eine Schlange davor, auf dem Vitrinenglas steht in etwas kindlicher Handschrift „Herakles“ geschrieben.

Anselm Kiefer, Steigend, steigend, sinke nieder, 2024. Mit Dank an den Künstler & White Cube. In: Anselm Kiefer – Sag mir wo die Blumen sind, Stedelijk Museum Amsterdam & Van Gogh Museum, 2025. Foto: Michael Floor.
Dazwischen erstreckt sich eine beeindruckende, in Teilen überwältigende Zusammenstellung von rund 25, meist monumentalen, gerne siebenacht Meter weiten Werken des jetzt achtzigjährigen Großmeisters der deutschen Nachkriegskunst – wenn man will: Die Arbeiten des Herakles-Kiefer, wobei ich da ein gerüttelt Maß an Selbstironie unterstellen mag.
Es ist das erste Mal, dass die zwei Häuser am Amsterdamer Museumsplein eine gemeinsame Ausstellung einrichten. Die Zusammenarbeit ist hier nicht nur hilfreich, weil so einige Vergleichstücke Van Goghs integriert werden können, sondern noch viel mehr, weil dadurch genug Platz für die Kieferschen Großformate zur Verfügung steht. Vielleicht gelingt es ja sogar, das sonst recht unterschiedliche Publikum der Häuser zusammenzuführen.
Landschaften
Der Schwerpunkt der Auswahl liegt dabei auf Arbeiten Kiefers aus den letzten zehn Jahren: Landschaften, die von mythologischen, literarischen und historischen Referenzen überschrieben sind und mit menschlichen Artefakten sowie natürlichen Materialien zu reliefartigen Gemälden vertieft sind. Ihre erzählerischen Untiefen sind kaum auslotbar.
Mit dabei Werke aus 2019, die unmittelbaren Bezug auf Gemälde Van Goghs nehmen: Die Krähen, die sehr schön Van Goghs Weizenfeld mit Krähen (1890) gegenübergestellt sind und De sterrennacht, deren Bezugspunkt, Die Sternennacht (1889), allerdings nicht den Weg aus dem MoMA in New York nach Amsterdam gefunden hat.

Vincent van Gogh, Weizenfeld mit Krähen, 1890, 50.5 cm x 103 cm, Öl auf Leinwand. Amsterdam, Van Gogh Museum (Vincent van Gogh Foundation) / Anselm Kiefer, Die Krähen, 2019. Emulsion, Öl, Acryl, Blattgold und Stroh auf Leinwand. 280 x 760 cm, Sammlung des Künstlers, courtesy White Cube. Foto: Georges Poncet.
In Ansätzen retrospektiven Charakter gewinnt die zweiteilige Schau dann drüben im Stedelijk Museum, wo u.a. Arbeiten aus den 1980er und frühen 1990er Jahren aus eigenen Beständen hinzukommen. Das Stedelijk hat bereits 1983 ein erstes Werk Kiefers aufgekauft (Innenraum, 1981) und später die Sammlung um fünf weitere großformatige Arbeiten ergänzt, die jetzt erstmals als Ensemble ausgestellt sind.
Sag mir wo die Blumen sind
Titelgebendes Schlüsselstück der Ausstellung ist aber Sag mir wo die Blumen sind (2024): Die Installation, mit der Kiefer das gesamte Obergeschoss des historischen Treppenhauses im Stedelijk bespielt, misst 6,60 m in der Höhe und – die fünf Leinwände zusammengerechnet – über 41 m in der Breite.
Ein Himmel aus Blattgold, in den gebrochenfarbige bis giftgrüne Explosionen hineinschlagen, gefallene Soldat:innen aus deren Wunden getrocknete Blütenblätter rieseln oder eine Pflanze wächst, auf die Grundfläche montierte weitere Leinwände zeigen menschliche (wohl weibliche) Figuren bei der Arbeit, andere vielleicht bei traumabedingten Zwangshandlungen (jedenfalls sollen Fotos von arbeitenden Frauen, die Kiefer in Indien gemacht hat, sowie Charcots historische Fotografien von Psychiatriepatient:innen als Vorlagen gedient haben).

Anselm Kiefer, Sag mir wo die Blumen sind, 2024. Mit Dank an den Künstler & White Cube. In: Anselm Kiefer – Sag mir wo die Blumen sind, Stedelijk Museum Amsterdam & Van Gogh Museum, 2025. Fotos: Peter Tijhuis.
An den Längsseiten sind in Bodennähe Uniformen wie Konfektionsware gehängt. Sie sind von dicken Farbschichten überzogen, manch Kindergröße ist dabei. Über sechs dieser Uniformen sind unregelmäßig geschnittene Scheiben gehängt, die antikisierende Flachreliefs von Köpfen zeigen: Heraklit, so heißt es, sei mit seiner Lehre von der Prozessualität der Welt mitbei.
Man muss diese Kiefersche Überwältigungsästhetik nicht mögen, unbeeindruckt kann sie wohl niemanden lassen.
Der Katalog und ein Nachspiel in London
Der Katalog zur Ausstellung ist bei Tijdsbeeld Publishing erschienen, ist in niederländischer und englischer Sprache erhältlich und kostet vor Ort sehr vernünftige 34,95 Euro. Auf 200 Seiten gibt es gute bis sehr gute Abbildungen, dazu Essays von Anselm Kiefer („In den Fußstapfen von Van Gogh“), dem Kunsthistoriker Simon Schama (über das Motiv der Sonnenblumen bei Van Gogh und Kiefer) und der Kunsthistorikerin Antje von Graevenitz (über Kiefer in den Niederlanden) sowie eine knappe Chronologie.
Die Royal Academy of Arts in London plant für den Sommer (28. Juni bis 26. Oktober 2025) eine Ausstellung unter dem Titel Kiefer / Van Gogh, die aber auf drei Räume in den kleineren „Gabrielle Jungels-Winkler Galleries“ beschränkt ist. Auf jeden Fall wird es besser sein, in Amsterdam vorbeizuschauen.
Anselm Kiefer – Sag mir wo die Blumen sind. K: Emilie Gordenker, Edwin Becker, Leontine Coelewij. Amsterdam, Van Gogh Museum / Stedelijk Museum, 7. März bis 9. Juni 2025.