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Westfalenromantik – Wandern in Westfalen

„Mehr geschmäht, als gepriesen“

Reiseberichte aus der Frühen Neuzeit erzählen schlimme Sachen von Westfalen. Romantisierende Versuche der Rehabilitierung scheitern. Der Baedeker von 1842 nimmt die Region gelangweilt zur Kenntnis.

Porta Westfalica. Stahlstich aus: Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking: Das malerische und romantische Westfalen. Barmen u. Leipzig: o. J. (1841/42). Digitalisat: archive.org
Porta Westfalica. Stahlstich aus: Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking: Das malerische und romantische Westfalen. Barmen u. Leipzig: o. J. (1841/42). Digitalisat: archive.org.

Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Rhein­romantik in voller Blüte steht und hilft, das Rheinland zum Touristen­paradies zu machen, steht die preußische Schwester­provinz Westfalen unter Reisenden in sehr geringem Ansehen.

Der Baedeker von 1842

Karl Baedeker veröffentlicht 1842 sein voluminöses Handbuch für Reisende durch Deutschland und den Oester­reichischen Kaiserstaat und befindet über das Rhein­land („Rhein­preußen“):

Kaum ein Land in der Welt sieht jährlich eine solche Menge von Reisenden, als die Ufer des Rheins. Der Rhein ist der heilige Strom der Deutschen [….]. [S. 323]

Solch Überschwang sucht man für Westfalen (oder gar die Ruhr, Lippe oder Ems) im Baedeker vergeblich. Die westfälische Provinz erscheint eher als eine Kette von Postkutschen­stationen auf dem Weg von Köln oder Düssel­dorf nach Berlin, Hannover und Bremen.

Wenig mehr als dreivier Sätze verliert das Reise­handbuch ausschließlich an Münster mit seinem Dom, der St. Lamberti-Kirche, dem „merkwürdigen und schönen gothischen“ Rathaus und den „schöne[n] Gartenanlagen“ hinter dem Schloss.

Der Fairness halber muss man aber zugestehen, dass seinerzeit Münster auch die einzige ernstzu­nehmende Stadt in der preußischen Provinz Westfalen war – mit 23.772 amtlich gezählten Einwohnern im Jahr 1843. Die heute größte Stadt Westfalens, Dortmund, kam damals auf gerade einmal 7.620 Ortsansässige.

Lambertikirche zu Münster. Stahlstich aus: Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking: Das malerische und romantische Westfalen. Barmen u. Leipzig: o. J. (1841/42). Digitalisat: archive.org
Lambertikirche zu Münster. Stahlstich aus: Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking: Das malerische und romantische Westfalen. Barmen u. Leipzig: o. J. (1841/42). Digitalisat: archive.org.

Zum Vergleich: Für die Rheinprovinz sind fürs selbe Jahr Cöln (83 Tausend), Aachen (47 Tausend), Elberfeld, Krefeld, Barmen, Düsseldorf, Coblenz, Trier, Bonn und Wesel als Großstädte nach damaligem preußischen Verständnis gelistet, also mit mehr als 15.000 Seelen.

Sehenswerthes in Westphalen

Limburg an der Lenne immerhin habe eine schöne Lage. Arnsberg sei eine „hübsche Stadt“, und auch auf die „alte, einst zum Hansebunde gehörige Stadt“ Soest „mit drei sehens­werthen alten Kirchen“ weist Baedeker hin. Als Attraktion gilt noch die „schöne gothische Domkirche“ in Minden, der Dom zu Paderborn und die „frühere Benedictiner­abtei Corvey […], von wo aus Vieles für die Gesittung des nördlichen Deutschlands geschah“.

Von landschaftlichen Schönheiten Westfalens weiß Baedeker noch weniger zu berichten. Lob findet die Gegend um Iserlohn, die „reich an malerischen Felspartien, Burgruinen, romantischen Thälern und Höhen“ sei. Einen besonderen Hinweis ist dem Baedeker „die berühmte Porta Westphalica“ wert, dem „Einschnitt in das Weser­gebirge, durch welche die Weser strömt“, eine Postkutschen­stunde vor Minden:

Die Aussicht von den Höhen der beiden Berge, des Jacobs­berges und des Wittekinds­berges, ist sehr ausgedehnt und belohnend. [S. 422]

Vom fragwürdigen Kaiser-Wilhelm-Denkmal auf dem Wittekinds­berg kann Baedeker noch nichts wissen, das wird erst 1896 eingeweiht.

Corvey und Hoexter. Stahlstich aus: Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking: Das malerische und romantische Westfalen. Barmen u. Leipzig: o. J. (1841/42). Digitalisat: archive.org
Corvey und Hoexter. Stahlstich aus: Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking: Das malerische und romantische Westfalen. Barmen u. Leipzig: o. J. (1841/42). Digitalisat: archive.org.

Frühneuzeitliche NoGo-Area

Lässt der Baedeker von 1842 etwas Enthusiasmus für das Reisen in Westfalen vermissen, so spricht er wenigstens keine Reise­warnung aus. Ganz anders Reiseberichte aus der frühen Neuzeit.

Eine sehr hübsche und ebenso amüsant wie lehrreich, zum Teil aber auch erschütternd zu lesende Zusammen­stellung historischer Reiseberichte findet man in Peter Wittkampfs Auswahl­bändchen Westfalen in alten Reiseberichten (2020).

Als Klassiker der Westfalenbeschimpfung gelten Bemerkungen des flämischen Philosophen Justus Lipsius (1547-1606) über das Essen (Pumpernickel, Speck und in Brühe von Schweinefett schwimmender, brauner Kohl!) und die Wirtshäuser und Herbergen (Ställe!) der Westfalen.

Ich will aber als Beispiel die Schilderungen des englischen Schriftstellers, Sprachlehrers und Gesandschafts­sekretärs Thomas Lediard (1685-1743) heranziehen, der 1738 The German Spy: Or, Familiar Letters from A Gentleman on his Travels thro‘ Germany To His Friend in England veröffentlicht. Ich zitiere nach der deutschen Übersetzung von 1764.

Schon vor der Einreise nach Westfalen habe ihn seine Mitfahrgelegenheit, ein junger, aber weltläufiger französischer Kaufmann, gewarnt:

ich mögte mich vorbereiten, Armuth und Elend in den häßlichsten Gestalten zu sehen, denn wir würden nun durch ein Land reisen, welches so vol davon wäre, als sonst irgend eines in Teutschland, ich meine Westphalen. [S. 4]

Lediard erzählt von Unterkunft und Speise – bei seiner ersten Über­nachtung in Westfalen – in einem nicht näher benannten „elenden Dorf“ auf dem Weg von Wesel nach Münster, „wo man hätte sagen mögen, daß das Elend aus jedem Fenster gukte, wenn ein einiges solches Ding, als ein Fenster ist, in dem ganzen Orte gewesen wäre.“

Mit einigem Befremden nimmt der englische Reisende die westfälischen Hallenhäuser mit ihrem mangelnden Rauchabzug und der Nähe von Nutztier und Mensch zur Kenntnis:

Diese Häuser, die niedrig und nur zusammengenagelt sind, bestehen allein aus einem nicht weitläuftigen ablangen Behältniß, welches sie statt der Küche, des Sprachzimmers [Parlour, jvf], der Schlafkammer und des Stalles gebrauchen. [S. 5]

Niederdeutsches Hallenhaus – Fotografie vor 1900 und Grundriss. Richard Andree: Braunschweiger Volkskunde. Braunschweig: Friedrich Vieweg u. Sohn, 1896. / Rudolf Meringer: Das deutsche Bauernhaus. Wien: Anthropologische Gesellschaft, 1892. Digitalisate: archive.org / archive.org
Niederdeutsches Hallenhaus – Fotografie vor 1900 und Grundriss. Richard Andree: Braunschweiger Volkskunde. Braunschweig: Friedrich Vieweg u. Sohn, 1896. / Rudolf Meringer: Das deutsche Bauernhaus. Wien: Anthropologische Gesellschaft, 1892. Digitalisate: archive.org / archive.org.

Dementsprechend sei auch die Herberge („noch dazu ein Posthaus“ – möglicherweise ist die Poststation auf Gut Buerbaum bei Schermbeck gemeint) „eine elende Viehhütte“, wo der Reisende auf Leute trifft, „die wenig mehr Menschliches an sich hatten, als ihre Gestalt.“

Als wir speiseten, und ich von einer Art Brod gehöret hatte, welches in diesem Lande die gemeinste Nahrung der Leute ist, und Pumpernickel genennet wird, so forderte ich ein Stücke davon. […] Ich hatte aber von dem Ansehen schon genug und verlangte es nicht zu kosten. Die Farbe ist dunkelbraun und fällt fast in das schwarze, auf den Schnitt aber siehet es aus, als wenn es aus sehr schmutzigen Materien zusammen gesetzet wäre. [S. 6]

Die Bettstatt habe aus mit einer Streugabel auf dem Leimenboden ausgebreitetem Stroh bestanden, ein Bund Stroh als Kopfkissen:

So musten wir uns niederlegen, auf der einen Seite wieder­kaueten die Kühe und auf der anderen grunzeten die Schweine. Eine Bucht vol schreyender Kinder, mit drey oder vier Weibs­leuten, lag zur rechten, und ihre Männer in Kornbrante­wein glücklich betrunken, einer schnarchend, der andere lärmend, der dritte kotzend, zur linken. Ein Gestank, der von den Aus­dünstungen so vielerley Thiere und aus anderen Neben­ursachen entstand, machte, daß wir nicht wusten, ob wir einen Blumen­strauch oder einen Nacht­stuhl rochen, und um den Possen vol zu machen, so bildete sich der schmutzige Bauer, der den lezten Auftrit machte, ein, der Wirth wäre mit der Streue zu freygebig gegen uns drey Personen gewesen und legte sich zu uns nieder.[S. 7f.]

Reiseführer und Reiseberichte, Titelblätter: Handbuch für Reisende / The German Spy / Bemerkungen auf einer Reise
Reiseführer und Reiseberichte, Titelblätter: Handbuch für Reisende / The German Spy / Bemerkungen auf einer Reise.

Nun, Reisende in fremden Ländern finden stets Anlass über Unterkunft und Verpflegung zu klagen und britische Reise­schriftsteller des 18. Jahrhunderts sind für ihre abschätzigen und bissigen Schilderungen der Fremde besonders notorisch. Und von seinen Aufenthalten in Münster, Soest, Paderborn, Bielefeld und Minden weiß Lediard nichts Vergleichbares zu erzählen. Allerdings sei diese Schilderung von seiner ersten Übernachtung in Westfalen durchaus geeignet, so Lediard, „einen Begrif von dem ganzen Lande“ zu geben.

Den Grund für Armut und Rückständig­keit will er übrigens in den geistlichen Territorial­herrschaften Westfalens ausmachen, wenngleich in konfessio­neller Abstufung:

Nur hat man dieses zu merken, daß Westphalen vielen Fürsten, theils Protestantischen theils Catholischen unterworfen ist, deren Gebiete sehr vermischet sind, indem wir in einem Tage, zu verschiedenen Zeiten, aus einem in das andere kamen; daß ferner sie alle in einem gewissen Grade elend sind, und daß die ersteren doch noch einigen Trost zu leben haben, dessen die letzteren durch die Betrügerey und Tyranney ihrer Pfaffen gänzlich beraubet sind […]. [S. 8f.]

In Verteidigung Westfalens

Bielefeld. Stahlstich aus: Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking: Das malerische und romantische Westfalen. Barmen u. Leipzig: o. J. (1841/42). Digitalisat: archive.org
Bielefeld. Stahlstich aus: Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking: Das malerische und romantische Westfalen. Barmen u. Leipzig: o. J. (1841/42). Digitalisat: archive.org.

Der Ruf Westfalens unter Reisenden ist in der frühen Neuzeit jedenfalls derart ruiniert, dass der Weimarer Dichterfürst Christoph Martin Wieland (1733-1813) sich in seinen Bemerkungen auf einer Reise durch Westfalen nach Bremen, im Sommer 1789 zu einer Verteidigung Westfalens gegen „die gemeine Sage“ genötigt sieht.

Das hat freilich auch ideologische Gründe: Wieland will Westfalen und Lippe als Heimat der heroischen Germanen aus Zeiten des Krieges gegen die römischen Besatzer in nationalistische Stellung gegen die französische Revolutionsarmee bringen.

Egal, im Hinblick auf die westfälischen Hallenhäuser und den Vorwurf mangelnder Reinlichkeit schreibt Wieland, der Augenschein berichtige „die Vorstellung, welche die gemeine Sage und die Einbildungskraft in gar zu häßliche Farben gekleidet hat“:

Freilich ist das Vieh auf den großen Hausdielen in vertraulicher Nachbarschaft mit den menschlichen Bewohnern, und der Rauch, den kein Schornstein entführt, zieht im Haus umher und räuchert Schinken, Speck und Menschen. Gleichwohl ist der Ruf der Unsauberheit größer als diese selbst; denn nur in den armseligsten Hütten findet man keine, oder sehr unreinliche Stuben, aber nicht selten trift man sie recht gut und mit blanken Geschirr verziert an. [S. 330f.]

Selbst dem übel beleumdeten Pumpernickel springt Wieland bei, das Brot sei „doch gewiß sehr schmackhaft und dem weit vorzuziehen, was an den Grenzen des Kreises, um Kleve und am Niederrhein herum, für schwarzes Brod mehr ausgegeben wird als es wirklich ist.“

Hardenstein an der Ruhr. Stahlstich aus: Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking: Das malerische und romantische Westfalen. Barmen u. Leipzig: o.J. (1841/42. Digitalisat: archive.org
Hardenstein an der Ruhr. Stahlstich aus: Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking: Das malerische und romantische Westfalen. Barmen u. Leipzig: o.J. (1841/42. Digitalisat: archive.org.

Ich vermute, dass es auch um den Pumpernickel geht, wenn 1783 der rechtschaffende Botaniker Jakob Friedrich Ehrhart (1742-1795) angesichts einer Menschenmenge bei Hörstel in der Nähe von Rheine „das gesunde und frische Aussehen dieser Leute, besonders der Frauenspersonen“ bemerkt, „welches vermuthlich den Grund in ihrer Lebensart hat“, und dann fortfährt:

Würden die Einwohner andrer Gegenden sich des gesunden und wohl­schmeckenden Brodes der Westphälinger bedienen, und nicht das beste des Getreides ihren Schweinen geben, würden sie, so wie diese Leute, anstatt der verkünstelten Speisen, mehr natürliche genießen, anstatt des ewigen Kaffe- und Brantweinsaufens, gleich diesen ein gutes Bier trinken, und fürnehmlich, sich von Jugend auf weniger an den Müßiggang, sondern schön an die Arbeit gewöhnen, so würde man vermuthlich unter ihnen auch weniger ungesunde und in ihren Jugendjahren schon abgelebte, sondern so gut wie hier, starke, gesunde, und bis in ihr Alter blühende Leute finden. [Sp. 200f.]

Die Sache mit dem Branntwein sieht Baedeker übrigens anders. Er empfiehlt ausdrücklich das Gasthaus bei Rieter in Gütersloh, „wo ausge­zeichneter west­phälischer Schinken, Pumper­nickel und ein besonders guter Wachholder­branntwein, Steinhäger genannt, zu haben“.

„Die ganze malpropre Romantik Westphalens“

Dass die Bemühungen Wielands und anderer in Sachen ideologiege­triebener Image­optimierung Westfalens vergleichsweise wenig Erfolg haben und sich an der sozialen Realität der Provinz brechen, zeigen die Reisebriefe eines „jungdeutschen“ (d.h., mit einiger Vereinfachung, entschieden demo­kratischen) Schrift­stellers und Journalisten: Ferdinand Gustav Kühne (1806-1888).

Kühne bringt 1838 seine zweibändige Sammlung Weibliche und männliche Charaktere heraus, die u.a. feuilletonistische Reiseessays in Briefform enthalten (Briefe an Dina). Für irgendwelche verharmlosende Romanti­sierung des bäuerlichen Elends, der „Schinken mit den Rauchhütten, der Pumpernickel und die ganze malpropre Romantik Westphalens“ bringt Kühne keinerlei Verständnis auf.

Ich gebe seine Schilderung eines Besuchs in einem bäuerlichen Hallenhaus ausführlich wieder, weil in dem oben angesprochenen Auswahl­bändchen von Peter Witt­kampf Kühnes Texte leider keine Aufnahme gefunden haben – und weil es ein ziemlich gutes Stück Sozial­reportage ist (mit deutlich mehr Empathie als bei unserem englischen Gewährs­mann Lediard):

Um die Armseligkeit des guten Westphalens recht klar mit allen fünf Sinnen aufzufangen, muß man eine Bauern­hütte besuchen. Es war ein Rauchnest der nobelsten Art, in das ich trat. Hof, Flur, Stube, Küche, Kammer – alles Ein Raum. Hinten lag eine Wöchnerin im Qualm der Finsterniß; das war nur zufällig. Aber ein Gewürm von Kindern kroch am Boden, der wie die Wände mit schwarzem Staube überzogen war. Hinter einer Planke gähnte Ochs und Schaf herüber in dies Menschen­leben, das nur durch zwei lockere Bretter vom Thier­reiche geschieden war.

Geräth­schaften für Haus und Feld, die am Boden zerstreut lagen, machten den Wandel in der dunklen Höhle lebens­gefährlich. Ich stand und horchte, sehen ließ sich wenig. Eine Gräue begrub Alles, Vieh und Menschen.

Die Kinder würgten steifen Brei, die Vierfüßer röchelten, der Wöchnerin war schlecht zu Muthe, mir noch mehr. Eine Zugluft hielt die Atmosphäre der Dampfhütte in Bewegung, sonst wäre Erstickung eine Kleinig­keit gewesen. Nicht vom Schorn­steine kam der Luftstoß, denn Feuer­essen hat man hier nicht, aus Industrie, man geht mit dem Rauche sehr speculativ um.

Der obere Flügel der großen Thür stand auf, dort drängte sich der Strom des Rauches hinaus und war froh über seine Befreiung. Über der Thür oben, wo sich der Qualm am meisten sammelt, hing es wie Kopf an Kopf gespenstisch, düster, grauenhaft, aber dick­schwartig und inhalts­schwer. Es waren die Schinken, die berühmten west­fälischen Schinken, die einzigen Wesen, die sich hier wohl befanden. So viel mußte zuvor geschehen, ehe es erfüllt wird, was gesagt wird von den Schinken: sie haben ihres Gleichen nicht! So viel Schranken zwischen Mensch und Thier müssen erst beseitigt werden, um die Schinken gedeihen zu lassen.

So viel Thränen mußten erst fließen, denn der Rauch hatte meine Augen schier zerfressen. Ach ja, der Mensch verliert was hier der Schinken gewinnt! – sagt ähnlich ein Dichter. Ich verstand ihn jetzt und ging.

Mein letzter nasser Blick war auf die Schinken gerichtet. Ich habe allen Respect vor der west­phälischen Romantik. [S. 258ff.]

„Das malerische und romantische Westphalen“

Die Vehmlinde / Das Hermannsdenkmal. Stahlstiche aus: Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking: Das malerische und romantische Westfalen. Barmen u. Leipzig: o.J. (1841/42). Digitalisat: archive.org / archive.org
Die Vehmlinde / Das Hermannsdenkmal. Stahlstiche aus: Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking: Das malerische und romantische Westfalen. Barmen u. Leipzig: o.J. (1841/42). Digitalisat: archive.org / archive.org.

Ferdinand Freiligrath (1810-1876) und Levin Schücking (1814-1883) bringen 1841/42 Das malerische und romantische Westphalen heraus, eine Art literarischer Wander­führer. Die wichtigste Schriftstellerin Westfalens, Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848), steuert zu dem Werk Texte bei, wird aber nicht als Co-Autorin genannt. Die hübschen, sehr bieder­meierlichen Stahl­stiche in diesem Artikel sind dem Band entnommen.

Ausdrücklich beziehen sich die Autoren auf Gustav Kühne und auf Justus Lipsius wenn sie von Westfalen als einem Land sprechen, „dessen Loos es seit Jahren gewesen ist, mehr gescholten und geschmäht, als gepriesen zu werden“.

Ganz wie Wieland setzen sie für eine Rehabilitierung auf den Germanen-Mythos:

Es ist uns das Land, das zu Tacitus Zeiten Bructerer und Sigambrer, Marser, Angrivarier und Cherusker inne hatten; das ganze, von den Legionen zertretene Gebiet im Nordwesten Deutschlands, das dem Historiker zu seinem Bilde von den Sitten und dem Culturzustande des alten Germaniens vorzugsweise die Umrisse lieferte. [S. 15]

Den Bewohnern Westfalens (und Lippes) weisen Freiligrath und Schücking als solcher Art Postgermanen Attribute zu wie rohe Kraft, schlichte ursprüngliche Weise, stämmig, ehrlich – und national; kurzum:

Es ist ein derber, urkräftiger Menschenschlag, die Westphalen. [S. 15]

Ob dieser seltsame westfälische Menschenschlag sich damals mit dieser Beschreibung getroffen sieht, lasse ich mal dahingestellt. Etwaige Realitäten westfälischer Verhältnisse und bäuerlichen Elends jedenfalls werden von Freilig­rath und Schücking mit einer gewissen Gnaden­losigkeit hinweg romantisiert. Westfalen erinnere

[…] in dem Eichengrün und der Welt­abgeschiedenheit seiner einzeln an Quell oder Bach liegenden Bauernhöfe – ut fons, ut nemus placuit –, an deren rauch­geschwärztes, erndte­kranz­geschmücktes Scheunenthor die Zeit und der Fort­schritt nur leise und in grossen Zwischen­räumen angepocht haben, ganz an jene Schilderungen in der Germania […]. [S. 15]

Weiß man die ideologische Tünche richtig zu nehmen, ist das Bändchen aber noch heute ein durchaus spannend zu lesender Reise­begleiter. Westfalen im 19. Jahrhundert, auch nur entfernt vergleichbar mit dem Rhein­land, auf die Agenda romantisch gesonnener Touristen zu setzen, ist ihm freilich nicht gelungen.

Heute aber, d.h. in der Statistik des Jahres 2019, entfallen 41% der mehr als 53 Millionen Über­nachtungen in den Beherbergungs­betrieben NRWs auf den westfälischen Landes­teil. Man trifft dort heute aber zum Glück auch selten auf echte Brukterer und Cherusker.

Quellen