Bücher 2010
Sollte man lesen
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Hans Joachim Schädlich: Kokoschkins Reise. Roman. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 2010.
Großartige erzählerische Vergegenwärtigung der Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Der fünfundneunzigjährige Emeritus Fjodor Kokoschkin, seit den dreißiger Jahren im amerikanischen Exil, kehrt auf der Queen Mary II zurück von einer letzten Reise nach Europa, an die Orte seiner Flucht als Kind und junger Mann vor dem bolschewistischen und nationalsozialistischen Terror. (Leider gibt es da eine ausgesprochen dumme Stelle, an der antiislamische – und antitürkische – Ressentiments erzählerisch beglaubigt werden).
Kann man lesen
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Jonathan Franzen: Freedom. New York: Farrar, Strauss and Giroux, 2010.
Neun Jahre nach dem Megaseller Korrekturen legt Franzen eine handwerklich perfekt gemachte Familienaufstellung vor aus dem demokratisch-ökologischen Mittelschichtsmilieu der USA um die letzte Jahrhundertwende. Die Beziehungskrisen der Familie Berglund und die gesellschaftlichen Krisen der Gegenwart geben das Material für sehr gehobene Unterhaltungsliteratur und für eine Studie über die Untiefen der Freiheit in der Gestaltung von Lebensentwürfen: Es werden Fehler gemacht.
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José Saramago: Die Reise des Elefanten. Roman. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2010 [Orig: A viagem do elefante. Lissabon, 2008. Übers: Marianne Gareis].
„Tolstoi hat einmal gesagt, glückliche Familien hätten keine Geschichte. Auch glückliche Elefanten scheinen keine zu haben.“ So gesehen ist der Elefant Salomon, der als Geschenk des portugiesischen Königs an Erzherzog Maximilian über die Alpen nach Wien verbracht wird, der unglücklichste Elefant überhaupt. Saramago erzählt sehr kurzweilig, mitunter launig, aber immer souverän von Salomon und seinen Menschen. Ein leichtfüßiges Nachspiel zum gewichtigen Werk des im Sommer verstorbenen, portugiesischen Nobelpreiserzählers.
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James Shapiro: Contested Will. Who Wrote Shakespeare? New York: Simon & Schuster, 2010.
James Shapiro erzählt in einem sehr lesenswerten Buch von der Geschichte des Zweifels an der Autorschaft Shakespeares, rettet die Bedeutung der Fiktion vor dem autobiographischen Missverständnis von Literatur und entwirft bemerkenswerte Portraits von Verschwörungstheoretikern.
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Anne Weber: Luft und Liebe. Roman. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2010.
Wie erzählen von der großen Liebe und dem Liebesverrat ohne zu verkitschen? Eine deutsche Schriftstellerin in Paris, Anfang Vierzig, glaubt den Märchenprinzen gefunden zu haben, geht durch die Zumutungen der Reproduktionsmedizin, die Hölle des Verrats und die Lächerlichkeit der Rache. Mit bitterer Leichtfüßigkeit, ironisch, mit Raffinement in der Konstruktion und poetologisch vielschichtig erzählt.
Muss man nicht lesen
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Arno Geiger: Alles über Sally. Roman. München: Carl Hanser, 2010.
Der Roman ist in der Kritik recht positiv aufgenommen worden. Warum, weiß ich nicht. Sally und Alfred sind schon lange verheiratet, die Kinder sind halb erwachsen, man ist sich nicht immer treu und ins Eigenheim wird eingebrochen. Dreivier Folgen einer Vorabendserie, mehr nicht.